aus telegraph 11/1990
von Martina Richter
U-Bahn Magdalene, hinterer Ausgang, Ruschestrasse entlang, queren die
Normannen-, danach die Gotlindestrasse, rechts halten, den 2. Eingang
wählen, Passport in Empfang, Haus 41, 4.Stock: Bürgerkomitee,
Aktenantragstelle. ICH WARTE HIER AUF SIE. Schweiss steht ihm auf der
Stirn, wenn er hier angelandet. Haupt der Stasi oder nur ein
Nebenzweck? Häuser wie Festungen. Der hier ans Bauen ging, dachte
an Ewigkeit. Ich schiebe dem Erschöpften einen Stuhl heran, weiss
eh schon, wonach er schmachtet. Leben gebündelt, verwahrt im
Archiv, der Mensch und seine Akte, mit sieben Siegeln ist sie noch
immer belegt. Aber noch lebt die Hoffnung in der 4. Etage. Der Weg
ist das Ziel, denke ich. Doch damit gibt sich keiner zufrieden. Es
gibt eine Angst und die geht um. Wie soll es weitergehen in diesem
Land, wenn es hier nicht weitergeht, wenn noch immer zurückgehalten
wird, was unser Leben ausmacht. Wem passt es schon wieder in den Kram, in den alten fetten,
dass hier nicht die Siegel fallen? Man schmiert, doch man kann es
nicht sehen. Repliken aus Stalins Zeit? Seid umschlungen
Millionäre, Deutsche Banken und Altäre? Wie sagte doch einstmals
einer der weisen Männer? Wir werden den Kapitalisten auf ihre
Schweineschnauze schlagen. Heute frisst er deren Brot. Schluss also,
Denken ist usus, Prost auf den Sanktnimmerleinstag? Heute hat man
besseres zu tun, Reisen richten, Diäten für freie, gewählte
Zeitungen? Mein Gott, wie stossen sie schon wieder an und in ein
Horn. Einhorn landete im Baum, als das tapfere Schneiderlein es
wollte. Sieben auf einen Streich. Reich ist also nicht nur meine
Akte. Wie sonst, wenn hier nicht Hand angelegt wird, stehen wir vor
der Welt? So sagte Hans, der grosse Enzensberger: Es gibt nämlich
jämmerlicheres als einen Bürger der DDR. Sollte es tatsächlich
stimmen? Sollten wir uns schon wieder ins Bockshorn jagen lassen,
bevor wir überhaupt je eine Chance erhielten? 10 Oppositionelle gab
es nur? Dann können wir tatsächlich einpacken, dann können wir
tatsächlich auf Wiedergutmachung verzichten. Dann natürlich haben
wir das Recht verwirkt, denen ans Leder zu wollen, die schon wieder
auf unsere Ohnmacht setzen, auf der wir schon immer sassen. Und der
November, unsere „Revolution“? Jetzt geht es um Diäten, jetzt geht
es um das nackte Geld. Da bleibt Moral, Anstand auf der Strecke. Dann
müssen wir uns doch erst einmal um jene kümmern, die immer noch
an Kontakttelefonen mit drahtiger Stimme ihre Nummer nennen, die
schon wieder in schnittiger Form ihren Führungsanspruch ausmessen
ob in Zeitung, der Gastronomie- überall lauern sie auf ihre Stunde,
haben den Kopf voller Geld. Um uns muss man sich nicht den Kopf
zerbrechen, dass wir, auf den schönsten Strassen streunend, aus
Furcht vor Brotverlust bei Mafia, CIA landen könnten.Wir wollen ja
nur diese grüne magere Blume, die da heisst Gerechtigkeit. Was
sagst du, die Stasi kommt von innen und der Schoss ist so furchtbar
fruchtbar? Und: Es ist nur eine Frage der Zeit, dass wir uns mit
Verbrechern verbrüdern?