Was ist Linksradikalismus?

Innenminister Diestel liefert endlich die gesuchte Definition

aus telegraph 11/1990
von Wolfgang Rüddenklau

In beredten Worten erklärte Innenminister Diestel dem Marxistischen
Jugendverband MJV in diesen Tagen endlich, was denn die gesuchten
Linksradikalen und Linksextremen sind. Wir wollen uns hier nicht mit
der Frage beschäftigen, ob er sich das selbst ausgedacht hat oder
einen rethorisch und psychologisch geschulten sowie denkfähigen
Mitarbeiter für diesen Zweck hat.

Es geht vielmehr um die Schubladen, mit denen Herr Diestel uns
bedient, zunächst mal der Begriff „links“. Der ist daraus
entstanden, dass die Sozialdemokraten, in ich weiss nicht mehr
welchem Parlament, des 19. Jahrhunderts auf der linken Seite sassen
und die Konservativen auf der Rechten und er diente in der Folgezeit
dazu einen jeweiligen Mangel an Inhalten zu verdecken. Die Vereinigte
Linke hatte sich im September und Oktober vorigen Jahres
entschlossen, angesichts der damaligen Unmodernität des Begriffs
umgekehrt vorzugehen, nämlich ihn aus ihrer Sicht neu zu definieren
und damit neu zu besetzen. Das hat angesichts der Vielzahl von
Meinungen nicht wie gewünscht geklappt und seitdem die PDS beliebt,
unter dem Artikel „links“ zu fahren und eine Vielzahl von besonders
trotzkistischen Sekten in unserem Ländchen nach gläubigen
Anhängern fischen, ist es vollends unerträglich geworden mit dem
Begriff „links“.

Ich persönlich würde mich weigern, als „Linker“ bezeichnet
zu werden, aber ich denke, Herr Diestel würde das nicht
akzeptieren. Er meint nämlich, dass „Vorstellungen und Taten“, die
gegen die „sozial-marktwirtschaftliche Gesellschaft“ gerichtet sind
und der „Utopie des Sozialismus“ folgen, linksradikal sind. Damit
könnte ich mich nicht so einfach abfinden, weil ich gerne eine
genauere Definition von Sozialismus hätte. Ganz besonders möchte
ich darunter nicht eine verstaatlichte Gesellschaft verstehen, in der
ein Herr Diestel Innenminister werden könnte. Ich würde ganz gern
überhaupt auf Innenminister und andere derartige Herumkommandierer
verzichten. Aber es stimmt schon, die, wie Herr Diestel es so
wunderlich nennt, „sozial-marktwirtschaftliche Gesellschaft“ lehne
auch ich ab. Weil sie nicht sozial ist, sondern höchstens auf
Kosten weniger gut gestellter Landsleute, der Menschen in der Dritten
Welt und unserer östlichen Nachbarn funktioniert. Und weil sie
nicht (wie Herr Diestel vergass hinzuzufügen) ökologisch ist,
sondern auf einer begrenzten Erde einen unbegrenzten Bereicherungs-
und Ausbeutungsprozess in Gang setzt. Und das können wir uns am
Vorabend der Klimakatastrophe nicht mehr leisten. Und schliesslich
kann ich sie, offen gesagt, nicht leiden, diese grossgewordenen
Handwerker, Gemüseladen- und Kneipenbesitzer, deren Stolz darauf
beruht, dass sie ihre Kunden und ihre Angestellten so hervorragend
über den Löffel balbieren können.

Auch ich übrigens lehne, wie Herr Diestel, „alternative
Lebensräume als Form pluralistischer Lebensgestaltung nicht ab“ und
plädiere dafür, „dass solche alternativen Wohn- und Lebensräume
auch in besetzten Häusern auf gesetzlich gesicherter Grundlage
basieren müssen und die gesetzlich geschützten Interessen anderer
nicht tangieren dürfen.“ Genau solche Gesetze müsste man
schaffen.

Wenn aber dann ein Herr aus der Bundesrepublik Deutschland
vorfährt und einen Zettel vorweist, der belegt, dass das Haus
seiner Grossnichte mütterlicherseits gehörte und darauf fussend
Besitzansprüche auf das Haus erhebt, in dem ich wohne und dessen
Erhaltung ich schon seit einer Weile gesichert habe, – wenn er mich
dann auch noch, unter Berufung auf seinen Besitztitel, aus meinem
Haus vertreiben will, dann wächst doch, ich will das hier mal
zugeben, meine Gewaltbereitschaft. Es kann sogar sein, dass ich auf
den bösen Gedanken komme, ihm seinen Zettel wegzunehmen oder –
sogar noch ärger – ihn zwinge, diesen Zettel aufzuessen. Oder es
versuchen beispielsweise irgendwelche Jungnazis das Haus, in dem ich
wohne, mit Brandflaschen in Brand zu setzen oder auch nur mit Giftgas
die Bewohner auszuräuchern oder fangen an, meine Freunde zu
verprügeln.

Auch dann werde ich, zugegeben, sehr schnell gewalttätig,
sogar gegen diejenigen, die meiner Meinung nach diese Nazis bezahlen
und gerate sofort in die böse Falle des „Linksextremismus“. Das ist
natürlich schade, aber ich bin halt seit Honeckers Zeiten
gewöhnt, gegen Staat und Polizei und Stasi für mein und meiner
Freunde Wohlergehen zu kämpfen und dafür wurde ich dann mit
Titeln wie „Staatsfeind“ und „Konterrevolutionär“ und übrigens
auch „Antisozialist“ belegt und gelegentlich mal eingesperrt und habe
mir nichts daraus gemacht. Ich würde also, wenn es sein muss, auch
die Bezeichnung „Linksextremist“ ertragen können.
Das wäre alles nicht so schlimm, wenn Herr Diestel nicht die
Absicht hätte, die so definierten „Linksextremisten“ zum
Sündenbock und zum bevorzugten Opfer seiner Polizei zu machen. Und
spätestens an diesem Punkt hört es auf, spassig zu sein. Das
ganze hat nämlich bestimmte Gründe. Es geht darum, Gegner der
neuen Eigentumsordnung und der staatlichen Veruntreuung des
Volkseigentums zu kriminaliseren, um sie dann später unkompliziert
aus dem Wege räumen zu können. Und deshalb ist der vorstehende
Gedankenquark des Herrn Diestel oder seines Soldschreibers nicht nur
dummer Quatsch sondern ein gefährliches und ernstzunehmendes
Machwerk. r.l.