45 REVOLUTIONS PER MINUTE

von Toth One Tet
aus telegraph #110


THE SUN/ „Back In The Summer Of ‘72″ (Rough Trade) Erst Sonne, dann Sommer, alles deutet auf Licht. Doch zu hören bekommt man einen Song, dem man nicht im Dunkeln begegnen will. Der Sänger krächzt und kläfft, als hätte man das Babyphone für wimmernde Tiere und nicht für heulende Kinder erfunden. Stimme und Orgel hyperventilieren, und gerade letztere erinnert an Konzertversionen der Doors, wenn sie gegen Ende eines Songs ausklinkten, um live zum Schöpfer zu schalten. Allerdings wurde der Song kontrolliert entfesselt, denn eine geradlinige Gitarre, neben einem Trio-haften Schlagzeug, gibt ihm Struktur und hält ihn auf Kurs. Im zweiten Song der A-Seite „Carry It All“ tun sich zunächst Orgel und Schlagzeug zusammen. Der Gesang aktiviert die Erinnerung an die Band Clinic und überhaupt an einen Kranken, der auf geheilt macht und im Fieber auf Entlassung hofft. Dann will auch noch die Gitarre mitspielen und übernimmt die Figur der Orgel. Das war wohl zu viel, denn nun gibt der Sänger jede Zurückhaltung auf. Das Babyphone kommt wieder zum Einsatz und es klingt, als würde man einen Verzerrer noch übersteuern. Pop von seiner orgiastischen Seite. Selten, daß Unhörbares so eingängig klingt! Die B-Seite heißt „The New Sound“. Spricht der Titel von einer ganz neuen Erfahrung? Denn der Trommelwirbel gemahnt an eine Hinrichtung und hört damit über die Länge des Songs auch nicht auf. Die Gitarre gleitet schon hinüber, die Orgel spielt wie zum Abschied. Der Delinquent und Sänger hat auch schon abgeschlossen und faselt nur noch reflexartig wirres Zeug vom neuen Klang, als könnte er so seine Unschuld beteuern. Ich glaube ihm, denn im Hintergrund souffliert ihm ein Engel.

LE NEON/ „S.P.A.C.E.“ (fierce panda rec.) Gitarre und Baß traben auf gleicher Höhe heran, das Schlagzeug galoppiert hinterher, ohne jedoch zu überholen. Keine Ahnung, wie das geht, aber so wirkt der Song gleichermaßen abgehangen und gehetzt. Der Sänger näselt was zusammen, spult sich dann aber auf und deklamiert in Großbuchstaben sein S.P.A.C.E.! Die Gitarre versteigt sich derweil zu dem berühmten Wall of Sound. Das Ganze ist auf eine sehr geordnete Weise wüst. Schließlich geht der Song krachen und man bleibt abgehängt, doch mitgerissen in einer Staubwolke zurück. „Britannia“, die B-Seite, dagegen macht auf crazy und röhrt wie eine Motorsäge, die durch Alu geht. Vielleicht für Freunde des japanischen Noisecore interessant, falls er auch aus England kommen darf.

The Coral/ „Don’t Think You’re The First“ (Sony) Ausgerechnet dieses Stück könnte die beste Single aller Zeiten des Monats sein! Eine gläserne Gitarre, die nur gelegentlich von einem schlichten Baßlauf kommentiert wird, liegt über einem dunklen und minimalistischen Schlagzeug, das man hört, wenn man das Ohr an die Schienen legt. Ab und an leuchtet die angerissene Melodie einer Flöte auf, die gleich wieder verglüht und manchmal nach Viola, nach Oboe oder nach Klarinette klingt. Alles sehr gezielt eingesetzt, allerdings ohne berechnet zu wirken. Die Diskretion des Stücks wird kontrastiert durch einen fliehenden Gesang, der flehend gegen etwas ansingt und es fordernd gleichzeitig besingt. Geht wohl um Liebe. „See-Through Bergerac“ tischt auf, was von der A-Seite runterfiel. Eine delikate, an Bauhaus’ letzte Lp „Burning From The Inside“ erinnernde Gitarre, einen Gesang, der von Jim Morrison kostet, und Backingvocals, die als Bindemittel anscheinend zu ölig geraten waren. Drei Sterne, die nach keinem schmecken.
Daniel Johnston/ „Fish“ (BMI) Dieser Mensch ist voller Musik! Doch selten, daß er seinem Sinn für kindliche Melodien derart hymnisch Ausdruck verlieh. Man hört ihn regelrecht die Sonnensichel anheulen. Denn für den Mond scheint dieses Klagelied zu heiter und mit allem Kummer versöhnt. „Living It For The Moment“ klingt für Daniel Johnston ungewohnt rockig. Doch, wie auf seinen Homerecordings, liegt sein Gesang wieder voll neben der Spur. Eigentlich singt nur kurz eine Säge.

Michael Yonkers/ „Micro-Miniature Love“ (Get Hip Rec./BMI) 1968 entstanden, 96 in den USA wieder veröffentlicht, ist die 7″ nun in Deutschland erschienen. Der Baß ist Blues, die Gitarre Surf, der Gesang Rockabilly und das Schlagzeug scheppert vor sich hin, als würde es aus dem fünften Stock eine Treppe herunterrollen. Alles zusammen klingt mehr nach Rollin’ Roll als nach Rock’n’Roll. „Kill The Enemy“. Weniger von den wunderbar naiven Effekten als auf der A-Seite. Wo diese treibend war, wirkt „Kill the Enemy“ regelrecht getrieben. Der Sänger ist eher am Beschwören als am Singen. Man hört gewissermaßen das Weiße in seinen Augen. Dunkler Bluesbilly, Trash auf hohem Niveau.

Relaxed Muscle/ „Billy Jack“ (Rough Trade) Zweite Single des Pulp-Ablegers. Könnte ebenso von David Lynch sein, hätte er ein Westernmusical verzapft. Ungesunder Hillie Billie, als würden Suicide um sich feuernd im Saloon aufspielen. Der Song stinkt vom Kopf her. Smells like spleen spirit. Stinkt aber gut! „Sexualized“, auch die B-Seite möchte uns versichern, daß krank gesund und gesund ganz doll krank ist. Der Song klingt, als hätte man ihm die Boxen eingetreten, der Gesang geht etwas Cramps-like zur Sache und hinter einem schweren, roten Samtvorhang lugt eine spitz gespielte Gitarre hervor, die der geballten Brachialität etwas recht Flottes verleiht. Insgesamt ziemlich finster, dafür leuchtet der Longplayer „Heavy Night With…“ im Dunkeln.

Rocket Science/ „One Robot“ (Eat Sleep Rec.) Australische Band. Sehr souverän! Das Stück hat etwas von einer Draisine, von einem Fliegenden Holländer auf Schienen, der in einem immer gleichen Tempo für knapp vier Minuten ewig dahinrollt. Andererseits pflanzt sich der Song in Wellen fort und sucht sich wie Wasser seinen Weg. Dabei geht er alles andere als zerstörerisch vor, wird jedoch getragen von einer nicht zu erschütternden Entschiedenheit. Nur der Gesang läßt vermuten, daß der Song auch soetwas wie Selbstzweifel kennt. Vielleicht, weil der Sänger an die fassungslose Art von Ian Svenonius von Make Up erinnert. Zur Hälfte des Stücks muß der Sänger jedoch den Einflüsterungen eines Chors weichen, der appelliert, insistiert und irgendwie auf Sendung ist. „Action“ beginnt dann auch wie ein Laiengottesdienst. Eine schmierige Orgel bereitet den Hörer auf Größeres vor. Gott sei Dank heißt es dann wirklich „Action“. Die ganze Band hackt auf dem selben Rhythmus rum. Orgel und Gitarre scheren gelegentlich aus, schließen sich der Truppe aber schnell wieder an. Der Gesang ist auf eine bockige Weise verzickt und betont die Nervosität des gesamten Songs. Das glatte Gegenstück zur A-Seite. Sozusagen eine runde Sache, die Single. Irgendwie ganzheitlich.
Franz Ferdinand/ „Darts of Pleasure“ (Domino) Ein Song, ein perfektes Räderwerk. Wie hier wechselweise die Stimme mit den Instrumenten ineinandergreift und der Rhythmus mehrfach umgelenkt wird, ist eine Freude zu hören. Ausgerechnet das Schlagzeug erweist sich aber als unbeirrbar und hechelt über das gesamte Stück lustig drauf los. Der Sänger hat Attitüde nicht nötig und bleibt, selbst wenn es schräg wird, geradlinig. Die Band ist oft mit schottischen Vorgängern wie Orange Juice oder Josef K, aber auch mit Gang of Four verglichen worden. Anscheinend in Ermangelung anderer Referenzen. Wirklich interessant ist der dauernde Verweis auf die Strokes. Aber nur insofern, da man nun im direkten Vergleich erkennen kann, wie konstruiert und erdacht viele der Melodien ihrer Songs wirken und wie losgelöst und aus der Hüfte die schottische Variante des Jetztzeitpop angerauscht kommt. Nun zu „Shopping For Blood“. Darts of Pleasure ist die erste von zwei Singles zum Debut. Die zweite Single „Take Me Out“ wird als der Hit des Albums gehandelt und wahrscheinlich kann man ihn sich demnächst als Klingelton aufs Handy laden. Wenn es Sinn hat, nicht die aktuelle, sondern die erste Single zu besprechen, dann auch ihrer B-Seite wegen, die nicht auf dem Longplayer zu hören ist. „Shopping For Blood“ kündigt sich durch ein zackiges Schlagzeug lange als Midtempostück an. Dann setzt, sehr akzentuiert, ein frequenzartiges Keyboard ein, das seltsamerweise „Eisbär“ von Grauzone wachküßt. (Nicht die schlechteste Referenz, denn der Song war auf der Höhe seiner Zeit, doch der Text lachhaft.) Der Sänger referiert gedehnt und von oben herab über Einkaufen, Blut und andere Interessensgebiete. Ist wahrscheinlich kritisch gemeint. Plötzlich verliert das Stück seine Contenance und die Band schmettert im Chor nieder, was der Song vorgab zu sein. Dann wieder wie vorher, dann wieder heftig, dann wieder blasiert, dann Tusch und Schluß. Eins A für eine B-Seite!

The Fall/ (We Wish You) A Protein Christmas (Action Rec.) Keines der Stücke dieser Doppel-7″ ist auf der aktuellen und exzellenten LP „Country On The Click“ vorhanden oder nur in einer abweichenden Version. Aber das wär nur Schmalz auf die Butter gewesen, denn die vier Stücke geben sich auf eine entschlackte Weise fett. Darin sind sie sich untereinander einig. Die A-Seite „(We Wish You) A Protein Christmas“ ist begehbar wie ein Haus. Man kommt durch die Tür, wird von einem Schlagzeug empfangen, im ersten Raum setzen Gitarre und Keyboard ein und dann nehmen Mark E. Smith und ein geisterhafter Frauenchor einen mit durch eine lange Flucht von mit Klängen möblierten Räumen. Die anderen drei Songs dagegen stehen wie Rohbauten da. Das wunderbare „(We Are) Mod Mock Goth.“ basiert auf zwei Gitarrenriffs, die geschlagene fünf Minuten lang stoisch abgerufen werden. Dazu röhrt Mark E. Smith deklamierend wie durch einen künstlichen Kehlkopf. „(Birtwistle’s) Girl In Shop“ ist die psychedelische Variante vom Ententanz. Ein paar einfältige Keyboardanschläge, ein marschmusikhaftes Schlagzeug, mehr is nich. Abgesehen von Smith. Der tönt, nölt und leiert den Song, sollte es denn einer sein, gekonnt kaputt. „Recovery Kit 2 #“ besinnt sich auf den frühen Rave, falls besinnen das richtige Wort für einen Song ist, der wie in Trance daherkommt. Smith spricht im Schlaf, ein Sample tropft von der Decke in eine halbvolle Blechwanne, das Schlagzeug setzt sich wie ein Automat in Gang und die Orgel schlägt einen an Tragik kaum zu überbietenden Melodiebogen an. Als würde sich der Tod das Leben nehmen.

Toth On Tet arbeitet als Autor und DJ, er lebt in Berlin.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph