EDITORIAL telegraph #110

Fünfzehn Jahre heißt diese Zeitschrift jetzt telegraph und die Zeiten werden nicht besser. Oder? Der von Politikern aller Parteien und den Vertretern des Kapitals gemeinsam eingeleitete Angriff auf die soziale Sicherheit der Masse der Durchschnittsbevölkerung in diesem Land schreitet voran. Seit den achtziger Jahren verändert sich der Kapitalismus im Rahmen des neokonservativen Projekts grundlegend. Weite Teile des global operierenden Kapitals haben sich von den Gesellschaften des reichen Nordens losgesagt und neue Quellen der Wertschöpfung erschlossen. Den Profit ziehen sie hierzulande immer seltener aus industrieller Lohnarbeit aber immer häufiger aus der Ausbeutung immaterieller Arbeit – aus Information, Kommunikation, konzeptioneller Arbeit, flexibler Produktion… Diese Arbeit braucht keine Fabriken, die Arbeitsorganisation verändert sich.

Der Kapitalismus schleift die sozialen Sicherungsnetze. Eine wachsende Zahl von arbeitenden, qualifizierten Menschen kann nicht mehr auf ein existenzsicherndes Einkommen oder Altersrente zählen. Dieser Zustand wird sich ab dem 1. Mai 2004 noch einmal verschärfen, denn dann ist die EU um zehn Länder reicher. Schon jetzt gieren die europäischen Konzerne nach dem lukrativen Raum im Osten, nach weiteren Billiglohnsklaven.

Die traditionell den Widerstand tragenden Organisationsformen (Gewerkschaften, Betriebsräte) sind „zahnlos“ und zerfallen.
Organisieren sich jetzt die Betroffenen in sozialen Bewegungen um sich gegen die Abschaffung des „Sozialstaats“ zur Wehr zu setzen? Nein, es sieht ganz so aus als ob der Mehrheit auch dieses Jahr nichts besseres einfallen wird als eben mal wieder „die Anderen“ zu wählen (absolute Mehrheit für Ole von Beust und die CDU in Hamburg) oder eine neue Linke Protest-Partei zu gründen. Ersetzt die Wahlurne, als irrationaler Denkzettelkasten, mehr und mehr politisches Handeln? Nichts Neues also?

Es stellen sich immer brennender die Fragen, wie der Widerstand Massencharakter annehmen kann und wie die zukünftigen Widerstandsstrukturen
aussehen sollen.

WIR WOLLEN ALLES!

Eure Redaktion telegraph

P.S.: Im Rahmen der telegraph Online-Plattform www.OSTBUERO.de gibt es seit einiger Zeit ein neues interessantes Projekt, auf das wir an dieser Stelle kurz aufmerksam machen wollen:

Da der telegraph auf Grund seiner Erscheinungsform nicht vordergründig auf Aktualität, sondern auf Tiefgang angelegt ist, läuft, sozusagen zur täglichen Ergänzung, im Internet der OST:BLOG. In häufiger Abfolge werden dort Nachrichten, Texte und Termine aus den Bereichen Politik, Kultur und Technik veröffentlicht, die nicht überall zu lesen sind. Als Veröffentlichungsform wird ein so genannter WebLog oder Blog gewählt, ein relativ junges journalistisches Medium, welches sich aber bereits als Informations-Alternative zum Medieneinheitsbrei in der Zeit des Irak-Kriegs bewährt hat. Also schaut mal vorbei!

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