von Knobi
aus telegraph #110
…ist nicht nur ein Gefühlszustand, welcher vor allem den Winter vergessen machen soll, es ist auch ein Drama von Frank Wedekind (1864-1918), welches 1904 in Berlin uraufgeführt worden ist, und prompt bis 1912 verboten war. Es wendet sich gegen eine bürgerliche Doppelmoral, gegen überholte Konventionen und einer süffisanten Gesellschaft. Dies war vor hundert Jahren. Heute, wenn ich mir die hier ausgewählte Literatur ansehe, scheint es doch immer noch um den gleichen Kampf zu gehen. Während vielleicht die Homo-Ehe, den Einen oder die Andere als Selbstverständlich gilt, zerbrach Oscar Wilde 1900 an den zwei Jahren Zuchthaus, die er vier Jahr zuvor wegen „einer Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt“, abgesessen hat. Die Studentenrevolte Ende der 60er Jahre in Westeuropa und den USA (der Osten hatte hier die Ereignisse von Prag als einschneidendes gesellschaftliches Ereignis) trug einiges zum emanzipativen Kampf bei, aber zu welchem Preis? – auch hierzu einige Neuerscheinungen, neben Klassikern usw. Das alles zeigt, dass die Kämpfe – allein um Freiräume in dieser Gesellschaft – längst noch nicht abgeschlossen sind. Im Gegenteil, es scheint, als würden wir uns davon wieder entfernen, selbst wenn die eine oder andere Nische geöffnet wird, dann verschließen sich andere wieder. Religiöser Fanatismus, wie etwa in den USA oder in islamischen Ländern, Jugendliche, die unbedingt wieder heiraten, und bis dahin sogar sexuell jungfräulich bleiben wollen, sowie der immer noch bestehende § 218, lassen daran zweifeln, dass Kämpfe, die schon zig Generationen zuvor geführt haben, bis heute nicht beendet sind. Die Menschen lernen nicht aus der Geschichte, erst wenn wir bereit sind aus der Geschichte auch die Konsequenzen zu ziehen, also nachhaltig Veränderungen vornehmen, werden die Opfer der VorkämpferInnen nicht umsonst gewesen sein.
Nach diesem tiefschürfenden „Frühlingserwachen“ nun zu den Neuerscheinungen:
Aus den Anfängen der Stadtguerilla in der BRD, also Ende der 60er Jahre, als Konsequenz zwischen einem selbstgefälligen, noch in der NS-Zeit verhafteten Staat, und einer Jugend, die bereit war sich zu verschwenden, ja ihr Leben zu lassen wenn nötig, um das Schweigen der Alten (und ihre Verstrickungen im Nazi-Regime) nicht mehr als Autoritäten anzuerkennen. In dem Interview-Band Thorwald Proll / Daniel Dubbe; Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus. (Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Hamburg 2003 / 135 Seiten / 9,90 Euro) berichtet Proll über seinen Beinahe-Einstieg bei der RAF und dem ersten Brandstifter-Prozess, wo Proll mit Ensslin und Baader auf der Anklagebank saß. Manchmal ist der Band etwas ärgerlich, vor allem wenn Daniel Dubbe sich mit Antworten zufrieden gibt, wo irgendwie rumgeeiert wird. Das wäre etwas anders, wenn Thorwald Proll erklären würde, dass er zu dem oder dem Thema nichts sagen würde, aber so bleiben reichlich unzureichende Antworten in der Luft hängen. Nichtsdestotrotz lesenswert.
Ein Kampfgenosse aus jenen Tagen ist der Berliner Kommunarde, Spaßguerillero und einer der meistgesuchten „Terroristen“ der 70er Jahre Fritz Teufel, der u.a. bei der Urteilsverkündung im „Lorenz-Drenckmann“ – Prozess 1980, nach fünf Jahren Haft, ein lückenloses Alibi, bzw. sein B-libi verkündet, um den ganzen Prozess noch platzen zu lassen, präsentierte – leider erfolglos. Jetzt liegt eine Biographie vor: Marco Carini; Fritz Teufel: Wenn’s der Wahrheitsfindung dient. Konkret Literatur Verlag Hamburg 2003 / Abb. / 248 S. / 16,50 Euro. Allerdings hat die ganze Geschichte einen Haken, Fritz Teufel, zu dessen 60. Geburtstag am 17. Juni (!) 2003 dieses Buch erscheinen sollte, verweigerte die Mitarbeit an diesem Buch. Schofeligerweise ließ sich Autor und Verlag nicht mal dazu herab, dem „alten Fritz“ ein Exemplar zukommen zu lassen, er musste sichselbst eins kaufen. So ärgerlich diese Umstände sind, für uns bleibt es doch ein Geschichtsbuch auf das niemand verzichten sollte, der die APO und die folgenden Jahre verstehen will. Aus welchen Gründen auch immer Fritz Teufel an diesem Buch nicht mitarbeiten wollte oder konnte, auch hier, wie beim vorigen Buch: wir erfahren einiges, aber letztendlich bleiben wieder Fragen offen. Und wenn diese ganze Stadtguerilla, die APO usw. einen integren Helden hatte, dann war es mit Sicherheit Fritz Teufel.
Ein Relikt dieser APO-Zeit ist auch das Gebrauchen von Drogen. Neben den „Umherschweifenden Haschrebellen“ gab es die BUT (Berliner undogmatischen Trinker), sowie die These, dass Jugendliche aus reichen Familien mehr mit Heroin versorgt werden müssten, zur Untergrabung einer bürgerlichen Moral. Das Nehmen von Drogen, wie auch die Pornographie war ein anti-bürgerlicher Akt. (Hierzu kommt im nächsten telegraph auch eine Neuvorstellung aus dem Berliner Karin Kramer-Verlag.) Heroin war z.B. eine Droge, die in Deutschland wieder – 1870 synthetisierte Wright in den USA dieses Opiat, welches dann von 1898 an von der deutschen Farbenfabrik Bayer (!) hergestellt worden ist, 1912 wurde es verschreibungspflichtig, seit 1924 in den USA und 1929 in Deutschland verboten – Anfang der 70er Jahre hauptsächlich über die amerikanischen GI’s verbreitet wurde. Die USA, die seit 1972 einen scheinbar erbarmungslosen Krieg gegen Drogen führt, ist gleichzeitig eine jener Regierungen die massiv in Anbau, Herstellung und Vertrieb der Drogen involviert sind. Speziell die CIA ist hier seit 50 Jahren maßgeblich beteiligt. Eine umfassende Dokumentation hierzu bietet das Buch: Alfred W. McCoy; Die CIA und das Heroin – Weltpolitik durch Drogenhandel. Zweitausendeins Frankfurt/M. 2003 / Abb. / 841 S. / 19,90 Euro
Bevor es nun noch tiefer in die Historie geht, hier noch ein Titel, der nicht mehr ganz frisch, aber deshalb nicht weniger interessant ist: Lou Marin; Der 11. September und die neuen Kriege. Von der Bewegung gegen neoliberale Globalisierung zu einer weltweiten Antikriegsbewegung? Verlag Graswurzelrevolution Heidelberg 2002 / 52 S. / 5,90 Euro. Hier wird nicht nur aufgezeigt, dass der Anschlag ein Vorwand ist um an Ölreserven ‚ranzukommen, und die verstärkten „Sicher-heitsregelungen“ ein neues neoliberales Krisenmanagement für die Kriege der Zukunft sind, sondern auch die Alternativen einer weltweiten Widerstandsbewegung, die auch gewaltfrei und libertär sein kann. Ein kluger Diskussionsbeitrag in der immer noch anhaltenden Sprachlosigkeit.
Im Übrigen gilt wohl Funny van Dannen’s: „Also ich hatte schon vor dem 11. September oft ein Scheißgefühl.“
So, jetzt zu den „Klassiker der Sozialrevolte“. Ich glaube, inzwischen habe ich hier auch alle vorgestellt, die bisher erschienen sind, und ich kann nur sagen, dass es eine kleine feine Reihe ist, die ich jedem und jeder nur wärmstens empfehlen kann. Pjotr L. Law-row; Die Pariser Kommune. Geschehnisse – Einfluss – Lehren. Unrast Verlag Münster 2003 / Reihe: Klassiker der Revolte Bd. 8 / 226 S. / 14 Euro. Dieser Band gehört mit zu den wichtigen Analysen jener 1871 stattgefun-denen Sozialrevolte, an der der russische Sozialrevolutionär Lawrow selbst aktiv teilgenommen hat. Die 72tägige Kommune war in ihren Aktivitäten auch ein Vorbild für nachfolgende Revolutionen, wie etwa der Oktoberrevolution von 1917.
Auch der zweite Band aus der Reihe, der 2003 erschienen ist, befasst sich mit dem aktiven Teil der gesellschaftlichen Veränderungen: Gustav Landauer; Die Revolution. Unrast Verlag Münster 2003 / Reihe: Klassiker der Revolte Bd. 9 / 120 S. / ca. 13 Euro. Dieses Werk gehört mit zu den wichtigen Schriften Landauers, der 1919 bei der Zerschlagung der Bayerischen Räterepublik, wo er zu den führenden Köpfen gehörte, von reaktionären Soldaten erschlagen worden ist. Als föderativ-kommunistischer Anarchist legt er hier die Grundlagen einer neuen Gesellschaft dar, die bis heute an emanzipativen Ansätzen nichts eingebüßt hat.
Richtig schwere Kost, nicht nur inhaltlich, sondern auch gewichtsmäßig, ist der Klassiker: Pierre-Joseph Proudhon; System der ökonomischen Widersprüche oder Philosophie des Elends. Hrg./ Lutz Roemfeld und Gerhard Senft. Karin Kramer Verlag Berlin 2003 / 586 S. / ca. 1,2 Kilo schwer / 50 Euro. Dieser Text, nach fast 40 Jahren wieder lieferbar gemacht, stammt aus dem Jahre 1846 und zählt zu den grundsätzlichen Arbeiten des internationalen Sozialismus über die Entwicklungsprozesse warenproduzierender Gesellschaften. Marx fühlte sich auf den Schlips getreten, ähnlich wie bei Max Stirner, und verfasste gleich das Gegenstück „Das Elend der Philosophie …“, was jedoch nichts über die Qualität Proudhons aussagt, als mehr über den Konkurrenzneid von Marx.
Ebenfalls gewichtig – das sind wir inzwischen auch so gewohnt – kommt der neueste Band vom Archiv für Geschichte des Widerstandes und der Arbeit. Nr. 17. Germinal Verlag Fernwald / 849 S. / 22 Euro, daher. Hier nur einige Stichworte zu den insgesamt 570 Seiten umfassenden Artikel-Teil: Karl Plättner und seine Kritik am Kommunismus, Die Wilhelmshavener Revolte 1918/19, über und von Max Nomad zum Thema Anarchismus und Elitetheorie, Jüdischer Anarchismus, Machno, Die Frau als Anarchistin u.v.m., sowie 132 (!) Buchrezensionen. Diese Reihe imponiert mir jedes Mal ungeheuerlich.
Nun zu einem anderen Thema. In der Einleitung hatte ich bereits auf Oscar Wilde verwiesen, und nun hat sein einziger Enkel, der sich seit über 20 Jahren mit dem Erbe seines Großvaters beschäftigt, ein wichtiges Buch zur Person Wilde vorgelegt: Merlin Holland; Oscar Wilde im Kreuzverhör. Die erste vollständige Niederschrift des Queensberry-Prozesses. Karl Blessing Verlag München 2003 / 461 S. /22 Euro. Dieser Prozess, der das Leben Wildes schlagartig vom Liebling der „feinen Gesellschaft“ zum verbannten Zuchthäusler machte, zeigt nicht nur auf, dass intelligente Kritiker von Staat und Moral auch viele Feinde haben, sondern hiermit liegt auch ein Dokument der frühesten Emanzipation im Kampf um die Abschaffung des § 175 vor. Wilde ist seinerzeit daran zerbrochen, umso wichtiger scheint mir diesen Lesestoff heute jenen zu empfehlen, die ihre sexuellen Neigungen wie selbstverständlich ausleben, und einen Kampf um allgemeine Emanzipation für alle Menschen (eben nicht nur auf sexuellem Gebiet) für belanglos halten.
Hierzu sei auch noch darauf hingewiesen, dass es jetzt wieder eine sehr schöne Ausgabe von Oscar Wilde; Werke in 5 Bänden – Zürcher Ausgabe. Erweiterte Neuausgabe (& einem Beiheft mit 40 Seiten incl. Abb.) / Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Frankfurt a.M. 2004 / 2163 S. / geb. / 49,95 Euro, gibt. Eine feine Sache für wenig Geld. Selbst wenn der eine oder andere Kenner immer noch einiges an Texten vermisst – diese ist gegenüber der 1999 im selben Verlag erschienen Ausgabe, erweitert worden – so kann doch mit Recht und Fug gesagt werden, dass dies eine umfangreiche, und vor allem Oscar Wilde durchaus gerecht werdende Ausgabe ist. Wilde lässt sich auch heute noch mit Vergnügen lesen. (Interessant ist auch die Filmographie zu O.W. Rund 58 Filme gibt es, allein „Das Bildnis des Dorian Gray“ wurde zwischenzeitlich 12 mal, und das Theaterstück „Salomé“ 9 mal verfilmt. Das Leben Wildes ist bislang 5 mal verfilmt worden. Er ist also auch in unserer Zeit, so könnte man heute sagen, ein Medienereignis.)
Ein anderes Genre von Literatur, aber nichtsdestoweniger gelesen, ist der Krimi, und auch immer mehr Linke Verlage wenden sich dieser Stilrichtung zu. Ein Beispiel dafür ist: Frédéric H. Fajardie; Rote Frauen werden immer schöner. Krimi-Reihe: Noir. Assoziation A Berlin/Hamburg/Göttingen 2003 / 191 S. / 12 Euro. Die Verlagskooperative legt damit ihren ersten Krimi vor, französisch sollen sie sein und – natürlich: links. Ob das für die FreundInnen der verzwickten Spannung ausschlaggebend ist weiß ich nicht. Zumindest brauchen die Krimis jetzt nicht mehr hinter den Politbüchern versteckt werden. Fajardie, über den mensch im Nachwort einiges lesen kann, ist kein reiner Krimi-Autor, gehört aber zu jener Generation, die durch den Pariser Mai 1968 geprägt wurde und sich nicht zu schade ist auch einen Roman Noir zu schreiben. Die Geschichte empfand ich etwas zu konstruiert, aber was soll’s. Das Leben ist mitunter eigenwilliger als mensch denkt.
Im Gegensatz zum eben Genannten hat der Anarcho-Verlag Karin Kramer schon einige Krimis gemacht, ich würde diese aber nicht explizit als „Links“ einstufen, wenngleich sie natürlich nicht unpolitisch sind. Hier sei denn noch mal auf den ersten Band der „Krimis bei Kramer“, H.P. Gansner; Sechs Fälle für Pascale Fontaine. Kriminal-Novellen aus Frankreich. Karin Kramer Verlag Berlin 1999. 124 S. /11,50 Euro, verwiesen. Hier werden vor allem diejenigen auf ihre Kosten kommen, die hohe Ansprüche auch an die Sprache stellen. Das Buch erinnerte mich spontan etwas an Max Frisch, und so gibt es dann auch ein Zitat auf der Rückseite des Schweizer Jean Ziegler: „In einem Jahrzehnt wird Gansner auf unser Kollektivbewusstsein einen ebenso großen Einfluss ausüben wie Dürrenmatt.“ Nur zu!
Jetzt fehlt eigentlich nur noch der linksradikale Arztroman: Also ein Medizinstudent im zwölften Semester wird durch die Hausbesetzer-Szene aus der Bahn geworfen, begeht bei einem Sani-Einsatz auf einer Demonstration einen furchtbaren Fehler, und muss für die nächsten 10 Jahre in Nicaragua untertauchen, kann aber seine große Liebe aus der Sanigruppe nicht vergessen …- oder so ähnlich.
Gut, und zum Schluss noch etwas Musike: Ein sehr schönes Projekt hat hier der Kramer Verlag mit Nàwáo Berlin e.V. vorgelegt, und zwar die CD B. Traven – Homage an einen deutschen Anarchisten. Musiker aus der Independent-Szene verschiedener Stilrichtungen haben hier Texte des berühmten und geheimnisumwitterten Autors vertont. U.a. sind mit dabei: Die Kassierer, Ziska Riemann, Peter-Paul Zahl, Der wahre Heino und Lucy van Org mit der Gruppe Estonia. Über allem schwebt als Redakteur und Produzent Christoph Ludszuweit, der im Karin Kramer Verlag schon zwei Bücher zu B. Traven veröffentlicht hat.
Tja, leider kann ich hier im Moment nicht alle Bücher vorstellen, die sich bei mir stapeln, der Rest muss eben das nächste Mal vorgestellt werden, zumal ich ja vom Frühlingserwachen auch noch was haben will.
Bis dann.
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