Das Schillern der Begriffe und die Veränderung der Welt
aus telegraph #110
von Thomas Atzert
Wie ist es?
Zufällig fiel mir die kleine Broschüre in die Hände, dreisprachiger Titel: Les idées, c’est capital – When Ideas are Capital – Ideen sind Kapital, herausgegeben von der Unesco. Sie beschäftigt sich mit der Notwendigkeit der Förderung von Bildung und Wissenschaft »im 21. Jahrhundert«. Ihr Untertitel: »Die Ökonomie des Immateriellen«. Die Versprechen, die da gegeben werden – Entwicklung, Reichtum, Wohlstand für alle – sind alle nicht neu, aber das Wörtchen »immateriell« verleiht ihnen einen gewissen Glanz. Titel und Untertitel der Broschüre verbinden eine Reihe von Allgemeinheiten über die herrschenden Verhältnisse, die als Evidenzen daherkommen, wie etwa: Ideen sind die wichtigste Produktivkraft, das Kapital bringt den Reichtum hervor, die Zukunft liegt in einer Ökonomie des Immateriellen, Immateriell sind vor allem Ideen etc., da capo.
Solche Sätze fordern alltäglich zur Stellungnahme auf, an ihnen scheiden sich normalerweise die Geister, das heißt anders ausgedrückt, hier trennen sich die »guten« von den »schlechten Subjekten«. Erstere werden im Großen und Ganzen zustimmen und daran auch nichts auszusetzen finden, während letztere gegen die mit solchen Aussagen betriebene Verklärung der bestehenden Verhältnisse protestieren. Eine Frage ist dabei, ob man an den Sätzen etwas ändern kann oder muss – und gegebenenfalls: was; eine andere Frage ist, wie die Verhältnisse zu ändern sind.
Doch bleiben wir zunächst bei der erkenntniskritischen Frage: Ist, so wäre dann zum Beispiel zu fragen, mit dem Wörtchen »immateriell« etwas anzufangen für eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse?
Immaterielles
Das Wort »immateriell« taucht in den Debatten der Postmoderne an prominenter Stelle auf.
Jean-François Lyotard verwendet es 1983, wenn er über »Repräsentation, Darstellung und Undarstellbares« schreibt. Die Krise der Repräsentation wäre demnach allgemein. Die von den künstlerischen Avantgarden vorgenommene Reduktion und Abstraktion habe die Verbindung des Bildes mit einem Vorbild, die Bindung der Zeichen an ein Material als brüchig gezeigt, schließlich zerstört. Fluchtpunkt der künstlerischen Experimente wäre das Undarstellbare, das Absolute, das Erhabene; das Immaterielle.
Von der Repräsentationslogik zum Experiment übergehend kommen Wissenschaft, Kunst und Philosophie auf die Sprache: »Das Forschen nach Kenntnissen und Technologien […ist] heute, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, auf die Sprache gerichtet.« In einem Gespräch von 1984 über »Sprache, Zeit, Arbeit« präzisiert Lyotard dann die Umwälzung, die das bedeutet: »Marx ahnte bereits in den Grundrissen, dass die wissenschaftliche Erkenntnis selbst zur Produktivkraft werden […] würde. […] Von einer Menschheit, die Materialien und Materielles zu kontrollieren verstand, gilt es überzugehen zu einer Menschheit, die es verstehen müsste, Sprachen und Zeichen zu kontrollieren. «
Hier, in dieser Gegenüberstellung steckt allerdings auf den ersten Blick eine Vorstellung von Material und Materiellem, an der sich der Philosoph den Kopf stoßen will. Von der Intuition von Marx in den Grundrissen ausgehend ließe sich dagegen auf etwas anderes verweisen: Auf den materiellen Charakter der Sprache und der Zeichen. Deren Materialität liegt in der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse begründet.
Immaterielle Arbeit
Auf die Realität gesellschaftlicher Verhältnisse – und nicht auf eine Gegenüberstellung von materiell und immateriell – rekurriert der Begriff »immaterielle Arbeit«, wie ihn Toni Negri, Maurizio Lazzarato und andere eingeführt haben, um die Veränderung der Produktionsweise im Postfordismus zu charakterisieren.
Toni Negri etwa spricht davon, dass die Veränderungen bereits in den siebziger Jahren wahrzunehmen waren, eine erste postfordistische Welle, gekennzeichnet durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Subjekte innerhalb und außerhalb der Fabriken und gleichzeitig durch die Ausbreitung von »intellektueller Arbeiten innerhalb der Arbeit«. »Die Arbeit ist immer materiell«, unterstreicht Negri und benennt damit das Moment, das in der veränderten Produktionsweise die Kontinuität kennzeichnet. Und er fährt fort: »Wir sprechen aber von ›immaterieller Arbeit‹, um zu sagen, dass es sich nicht mehr um Arbeit auf der Basis eines rein physischen Verhältnisses in der vom Kapital beherrschten Organisation der Arbeitsprozesse handelt. Die Vorherrschaft des Kapitals besteht, aber diese kapitalistische Vorherrschaft basiert auf einer Autonomie der Arbeit, die sich außerhalb ihrer konstituiert. «
Wenn also in einem kritischen Sinn von »immaterieller Arbeit« die Rede ist, dann um auf eine Neuzusammensetzung von Arbeit im Postfordismus hinzuweisen. Die traditionellen Unterscheidungen von so genannter Hand- und Kopfarbeit, von manueller und intellektueller Arbeit greifen nicht mehr angesichts der Formen, die Arbeit gegenwärtig ausmachen. Sprache, Kommunikation, Wissen und Affekte sind nunmehr Voraussetzungen der Produktion geworden. Als produktive Kapazitäten, als Fähigkeiten der Produzentinnen und Produzenten sind sie gesellschaftliche Produktivkräfte. Ihre Gesellschaftlichkeit, ihre Vergesellschaftung ist nicht zu reduzieren auf das Kapitalverhältnis.
Vom Fordismus zum Postfordismus
Im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus werden verschiedene Aspekte der Krise des Fordismus im Sinne kapitalistischer Verwertung produktiv gewendet. Das betrifft nicht zuletzt auch Momente der sozialen Kämpfe seit den sechziger Jahren.
Die Transformation ist gekennzeichnet durch das schrittweise Verschwinden der großen, auf standardisierte Massenproduktion ausgelegten Fabriken mit ihren taylorisierten Arbeitsprozessen und ihre Ersetzung durch zerstreute Produktion, Netzwerkunternehmen, modulare Produktionsabläufe; Schlagworte wie lean production oder just in time stehen für diese Realität. Zu nennen sind zugleich die Prekarisierung, Deregulierung und Entrechtlichung der Lohnarbeit, die Auflösung des »Normalarbeitsverhältnisses«. Affirmativ artikuliert diese Umwälzung die Rede vom »Ende der Arbeit« und von der entstehenden Dienstleistungsgesellschaft. Die Veränderungen der Konsummodelle und der Muster gesellschaftlicher Reproduktion sind eine weitere wesentliche Dimension. Das soziologische Feuilleton nennt das Individualisierung.
Was die Arbeitsverhältnisse angeht, so werden unter den Bedingungen des Postfordismus »prekäre« Arbeitsverhältnisse zum Normalfall: Betriebliche Fluktuation, Wechsel zwischen Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung, Freisetzung durch technologische Innovation, Arbeit in illegalen oder ungeschützten Arbeitsverhältnissen sind Merkmale, die heute immer mehr Beschäftigungsverhältnisse kennzeichnen. Die Vielzahl prekärer Formen macht die veränderte Normalität aus.
Doch ist mit Entwertung und Prekarisierung die Veränderung nicht hinreichend beschrieben. Was man etwa gewohnt ist, »Beruf« zu nennen, wird radikal neu bestimmt. Gefordert ist nun in erster Linie Flexibilität und Mobilität, eine allgemeine soziale Kompetenz, die Fähigkeit zu kommunizieren, affektive Beziehungen zu und zwischen Personen herzustellen, die Qualifikation, mit Informationen und Sprache umzugehen, schließlich die Begabung und die Bereitschaft, sich unaufhörlich auf veränderte Situationen einzustellen.
In dem gesamten Set von Bestimmungen wird man Spuren von Verhaltensweisen erkennen, die sich in den sozialen Kämpfen im Fordismus ausbilden, die jetzt jedoch in Verwertung und Ausbeutung eingesetzt werden. Ein wesentlicher Aspekt der postfordistischen Transformation besteht in der Tat darin, die Kämpfe gegen die Arbeit und gegen die soziale Disziplinierung in der gesamten Gesellschaft, die gleichzeitig eine sozialrevolutionäre und kulturrevolutionäre Dimension aufweisen, zu kontern und das Primat der Arbeit über die Nichtarbeit fest- und fortzuschreiben. Ausdehnung von Arbeitszeit, Entwertung der Arbeitskraft, Arbeitszwang sind Momente des neoliberalen Rollback. Ein anderes Moment ist die Verfügung über eine Neuzusammensetzung der Arbeit, die ihren Ausgang nimmt von der beschriebenen Auflösung der rigiden Trennung manueller und intellektueller Arbeit und von einer neuen Folge der Anwendung der Wissenschaft in der Produktion.
Massenintellektualität
Die Neuzusammensetzung der Arbeit versuchen wir mit dem Begriff der »Massenintellektualität« zu fassen. Der Begriff beschreibt die neue Qualität von Arbeit, ihre postfordistische Neuorganisation, immaterielle Arbeit, informatisierte und computerisierte Netzwerke.
Massenintellektualität entspringt der gesellschaftlichen Verallgemeinerung intellektueller Arbeit und der Aneignung intellektueller Fähigkeiten und Funktionen. Massenintellektualität setzt Sprache, Kommunikation und Wissen als produktive Kapazitäten ein. Sie ist nicht zu reduzieren auf individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten oder individuelles Wissen. Massenintellektualität konstituiert vielmehr das soziale Verhältnis, das die Produzentinnen nicht nur als solche, also in ihrer Produktivität, sondern in ihrer gesamten Existenz erfasst: Entstehung einer Vielzahl von Öffentlichkeiten und zugleich reelle Subsumtion der gesamten sozialen Existenz unter das Kapital, wie man in Anlehnung an Marx‘ Analyse der »Ergebnisse des unmittelbaren Produktionsprozesses« sagen könnte.
Galt für den Fordismus bei allen übergreifenden gesellschaftlichen Mustern die Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, von Arbeitsplatz und Privatsphäre, aber auch von Betrieb und Öffentlichkeit, so werden jetzt Arbeit und Leben, Produktivität und Existenz tendenziell deckungsgleich. Darin liegt dann auch der Grund, dass »Arbeit« keine besondere Tätigkeit neben anderen Tätigkeiten mehr bezeichnet: Alles wird produktiv, die einzelne Verrichtung oder Dienstleistung ist kaum mehr zu isolieren. Der Produktionsprozess dreht sich in erster Linie nicht um ein distinktes Produkt, sondern gründet vor allem auf einem Netz von Beziehungen und Kommunikation, in dem die ProduzentInnen existieren, kooperieren und – arbeiten.
Die erste Forderung an die Produzentinnen und Produzenten lautet, wie Maurizio Lazzarato sagt: »Seid Subjekte«, genauer: »Seid Subjekte eurer Beziehungen, Subjekte eurer Kommunikation und Kontakte.« Aus dem sozialen Verhältnis ist damit der kapitalistische Antagonismus keineswegs verschwunden. Die vorgebliche Autonomie der Subjekte, die in jener Anrufung (»Seid Subjekte!«) hergestellt wird, bleibt zugleich unterworfen.
Die Autonomie und Freiheit der lebendigen Arbeit jedoch ist die einzige Möglichkeit, eine produktive Kooperation zu initiieren. Für die kapitalistische Verwertung hängt alles davon ab, die Macht, die der neuen Qualität der Arbeit und ihrer Organisation innewohnt, zu unterwerfen.
Das Kapital vermag, als soziales Verhältnis, den Antagonismus der lebendigen Arbeit nicht loszuwerden, da es sich nur durch deren Ausbeutung reproduzieren kann. Den gesellschaftlichen Produzentinnen und Produzenten hingegen – und darin liegt eine strukturelle Asymmetrie dieses Verhältnisses – ist es möglich, diesen Verwertungszyklus zu zerstören, indem sie sich verweigern, indem sie einer »Logik der Separation« folgen.
Unter den Bedingungen der Massenintellektualität heißt dies notwendigerweise, die Subversion gegen die Unterwerfung ihrer Autonomie und folglich gegen die Arbeit als solche zu entwickeln. Dies knüpft an die Tradition solcher sozialen Kämpfe an, die gegen die Einsperrung in die Fabrik, gegen die Einordnung in die Maschinerie, gegen die soziale Disziplinierung, gegen die Unterwerfung der eigenen Existenz unter ein lebenslanges Normalarbeitsverhältnis geführt worden sind.
Die sozialen Kämpfe der vergangenen dreißig Jahre haben aber vor allem gezeigt, dass Subversion aus einer Verbindung der Kämpfe gegen die Arbeit mit anderen gesellschaftlichen Kämpfen entsteht. Die Gleichzeitigkeit, die Kooperation und die Zirkulation der Kämpfe im Bereich der Reproduktion erweitern den Horizont des Widerstands gegen die Unterordnung der Gesellschaft unter die Erfordernisse der Kapitalverwertung.
Die Befreiung setzt den Bruch voraus. Es geht darum, sich der Enteignung der sozialen Kooperation und des sozialen Wissens zu widersetzen. Es gibt die alltägliche Subversion und die mehr oder weniger isolierten Kämpfe und Widerstände gegen Sexismus, gegen Rassismus und Nationalismus, gegen die Grenzregime, gegen die Abschiebepraxis, gegen die Prekarisierung. Es geht darum, neue Öffentlichkeiten zu konstituieren und die Kommunikation zwischen den Kämpfen zu einer sozialen Organisierung zu erweitern.
Thomas Atzert arbeitet als Journalist, Autor und Übersetzer, er lebt in Hanau.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph