MALTAS WEG IN DIE EU

aus telegraph #110
von Wolfgang Wolf

Zwischen 1991 und 1996 hatten wir, meine Frau und ich, dieses Land vier Mal auf der Suche nach einem Platz, der unseren Wünschen, den „deutschen Zuständen“ den Rücken zu kehren, erfüllen könnte, besucht. Drei Monate Probeleben Anfang 1997 ließen die Sache Wirklichkeit werden, und seit dem Sommer 1997 leben wir hier als „temporary residents“. Vorgestern erhielten wir gerade die Formulare, mit denen wir den Antrag stellen können, künftig unser Wahlrecht hier wahr zu nehmen; womit wir allerdings der Möglichkeit verlustig gehen, auch künftig die stärkste deutsche Partei, jene der Nichtwähler, zu „wählen“. Wer künftig hier unsere Stimmen bekommen wird, kann sich jede/jeder beim Lesen dieses Artikels sicher selbst ausmalen.

In den letzten 15 Jahren gab es zwei innenpolitische Ereignisse in Malta, die in der Bevölkerung besonders heftig diskutiert wurden. Zum Einen den Skandal von 1988, wonach Dominic (Dom) Mintoff, der legendäre sozialdemokratische Parteiführer aus den 60er/70er Jahren, seine gerade erst wieder an die Regierung gelangte Partei durch sein Abstimmungsverhalten im Parlament zur Aufgabe und zu Neuwahlen zwang, die deutlich verloren gingen, zwang. Zum anderen die Vorgänge rings um die Abstimmung zum EU-Beitritt im Frühjahr 2003.
Alfred Sant, Vorsitzender der „Malta Labour Party“ (MLP), musste im vergangenen Jahr eine ganze Reihe von Niederlagen einstecken. Bei der mehr als ein Jahr währenden, von der MLP aus wahltaktischen Gründen geführten parlamentarischen Auseinandersetzung mit der seit 1998 regierenden konservativen „Nationalist Party“ (NP) unter Eddie Fenech Adami, den Termin der Parlamentswahlen 2003 mit dem der Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft zusammenzulegen, blieb er der Unterlegene. Die von der MLP vor allem mit Argumenten gegen die EU-Mitgliedschaft geführte Parlamentswahl wurde verloren. Viele jener Wähler, die der Arbeiterpartei 1996 zu einer kurzlebigen Regierungsübernahme verholfen hatten, hatten längst ihren Glauben an der, bereits damals von Sant verkündeten illusionären und nunmehr von ihm wieder aufgewärmten, „Alternative zur EU“ verloren. Folgerichtig verloren die sich vor allem an den Argumenten der MLP orientierenden Gegner der EU-Mitgliedschaft auch jene Abstimmung im April 2003, allerdings mit sehr knapper Differenz von ca. drei Prozent.
Sants parlamentarische und juristische Eiertänze zur Anfechtung des Abstimmungsergebnisses mit dem Argument, dass auch jene, die der Abstimmung fern geblieben waren, als „EU-Gegner“ zu werten seien, erlitten das voraussehbare Fiasko. Nunmehr vertraut die MLP-Führung ihren eignen Argumenten nicht mehr und schwenkte auf die Rolle kritischer Befürworter dieser Frage ein.
Wenige Monate vor der EU-Abstimmung gab’s eine bemerkenswerte Prognose eines britischen Malta-Spezialisten: Die Abstimmung wird mit knappem Ergebnis für die EU ausgehen, aber mit Beginn der Mitgliedschaft wird eine sich schnell verbreiternde Ernüchterungsphase einsetzen, die schließlich in Revolten münden wird. Sant, der ursprünglich Rücktrittsabsichten geäußert hatte, wird dieser Prognose sicher manches abgewonnen haben. Aber im Ernstfall auf der Seite der Revoltierenden zu stehen, gehört sich heutzutage (im Gegensatz zu den 60er Jahren) für eine „gutbürgerliche“ Arbeiterpartei nicht mehr. So etwa könnte ich mir jenen Schwenk erklären, der dieser Partei nun auch noch die Aussicht auf den Triumph gekostet hat, die Folgen vorausgesehen zu haben.
Im Prinzip hat sich in Malta seit den 70er Jahren das klassisch-britische Zweiparteiensystem durchgesetzt. Was aus der früher bei jedem SED-Parteitag als Gast mit Vertretern anwesenden kommunistischen „Partei der Werktätigen Maltas“ seit dem Zusammenbruch des „Sozialistischen Weltsystems“ geworden ist, konnte ich nicht herausbekommen. Im Parlament und in manchen Kommunalvertretungen gibt es allerdings Abgeordnete der Partei „Alternative Demokratie“, einer grünen Partei, die mit ihrer sehr kleinen Mitglieder- und Wählerzahl erstaunliche Aktivitäten auf dem unendlich weiten Feld ungelöster ökologischer Fragen hervorbringt. Die beiden großen Parteien haben sich inzwischen, wie in vielen andren Industrieländern, deren Argumente verbal angeeignet. Allerdings handeln sie auch in Malta, wie alle Volksparteien, nach dem Motto: „Politik darf auf keinen Fall den nächsten Wahlsieg gefährden!“
Um sich der vielschichtigen Gemengelage ökonomischer, sozialer, nationaler Vorstellungen, Argumente und Emotionen im Hinblick auf die Erwartungen und Befürchtungen für die am 1. Mai diesen Jahres beginnende Mitgliedschaft in der EU nähern zu können, bedarf es eines kurzen Ausflugs in die mehrtausendjährige Geschichte dieses Archipels. Er besteht aus drei bewohnten und zwei unbewohnten Inseln mit einer Gesamtfläche, die etwa jener der einstigen „Hauptstadt der DDR“ entspricht und knapp vierhunderttausend Einwohner hat. Die zweite Besiedlung, nach dem noch immer ungeklärten Verschwinden der einstigen Urbevölkerung, die weltberühmte Tempel schufen, erfolgte vermutlich durch nordafrikanisch-arabische und sizilianisch-italienische Stämme. Die maltesische Sprache, die einzige semitische Sprache mit lateinischer Schrift, leitet sich weitgehend aus dem Phönizischen ab.
Die Besatzungsgeschichte Maltas bis zum Beginn des zweiten Jahrtausend: phönizisch-karthagische Eroberer, griechisch-hellenistische Eroberungsversuche, römische Okkupation, Eroberung im Zusammenhang mit Sizilien durch die Byzantiner, gefolgt von muslimischen arabisch-tunesischen Machthabern. „Befreit“ von inzwischen in Sizilien herrschenden Normannen, die für die Insel immerhin einen nationalen Adelsrat und eine Gemeindeordnung einrichteten. Auf dem Wege der Erbfolge ging Malta an Sizilien und damit an die deutschen Staufer, später an französische, spanische und schließlich wieder staufische Machthaber. Malta wurde zeitweilig von spanischen Territorialfürsten und Königen als Lehen vergeben und schließlich im 16. Jahrhundert an den, seit der Eroberung von Rhodos durch die Türken, heimatlos gewordenen Johanniterorden verpachtet. Der Orden erwarb sich seit dem ersten Kreuzzug und später in Jerusalem als Sanitätsorden Verdienste, aber er entwickelte sich mit der Vertreibung aus Jerusalem nach Rhodos auch zum Seefahrt- und Piraterie betreibenden internationalen Ritterorden. Die Wahl war für die Pächter mit dem Auftrag verbunden, Malta zum Bollwerk gegen türkische Pläne, den Kontinent über eine Landung in Sizilien zu erobern, auszubauen. Es ist weitgehend den Johannitern, ihren maltesischen Hilfstruppen und versklavten Galeerenruderern zu verdanken, dass die Türken die Belagerung aufgeben mussten und in einer späteren großen Seeschlacht ihre Seeherrschaft über das östliche und mittlere Mittelmeer verloren.
Schiller, der ein Drama über die Verteidigung der Insel verfasste, bezeichnete die Malteser als die ersten Europäer. Es wäre also ein sehr großer Fauxpas, würde irgendein arroganter EU-Politiker die Malteser am 1. Mai 2004 zu ihrem Beitritt zu „Europa“ beglückwünschen.
Die im Laufe der Jahrhunderte degenerierte Herrschaft der Ordensritter wurde im „Vorbeifahren“ auf dem Wege nach Ägypten von Napoleons Flotte beendet, aber die sich vornehmlich auf den Raub von Kirchenschätzen spezialisierenden Franzosen verloren bald jede Sympathie als zunächst bejubelte Befreier von jeglicher Adelswillkür. Sie wurden in einem Volksaufstand in kurzer Zeit in die unter den Rittern gegründete und als Festung ausgebaute Hauptstadt Valletta zurückgedrängt und kapitulierten schließlich vor der britischen Flotte. Fortan herrschten neue „Befreier“ als Kolonialherren auf dem Archipel bis in die 60er/70er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Die Malteser leisteten im 2. Weltkrieg als treue Verbündete ihrer Kolonialherren unter sehr großen Opfern den Hauptanteil an der Verteidigung Maltas gegen Invasionspläne der europäisch-faschistischen Achsenmächte und wurden hierfür vom König mit dem höchsten britischen Orden, dem Georgskreuz, ausgezeichnet (noch heute, wenn auch neuerdings in der Bevölkerung umstritten, Bestandteil der maltesischen Nationalflagge). Die von den Briten schon in den 20er Jahren eingerichtete Selbstverwaltung stellte den Antrag auf Beitritt Maltas als gleichberechtigter Bestandteil des „Vereinigten Königsreichs“. Das Unterhaus lehnte ab und vergab damit die Chance, Malta schon viel früher in die EG zu führen. Die nun einsetzende Befreiungsbewegung, geführt vom Vorsitzenden der MLP Dom Mintoff, brauchte mehr als 10 Jahre, um von der Proklamation der Unabhängigkeit Maltas, über ihre in mehreren Stufen realisierte Anerkennung durch die Briten, die nunmehr offizielle Gründung der Republik Malta, die Auslagerung des Mittelmeerstabs der NATO von der Insel bis zum vollständigen Abzug der britischen Besatzer zu erreichen.

Wozu diese relativ ausführlichen und trotzdem lückenhaften historischen Ausführungen? Sie machen deutlich, dass hier ein über Jahrtausende ständig unter Fremdherrschaft lebendes Volk, das seine staatliche Unabhängigkeit erstmals vor 30 Jahren erhielt, nun im Begriff steht, diese wieder partiell aufzugeben. Jene eher emotionale Haltung großer Bevölkerungskreise, nicht zuletzt vieler Intellektueller, wird durch zwei weitere Besonderheiten verstärkt: Vielen Maltesern ist ein überraschend tiefer, aber sehr eigenartiger, mit scheinbar ähnlichen Anschauungen etwa in Deutschland nicht vergleichbarer Nationalismus eigen: weder aggressiv, noch fremdenfeindlich oder gar rassistisch. Was angesichts des über Jahrtausende hier entstandenen Völkergemischs natürlich auch ein Widersinn par excellence wäre. Es ist ein Nationalismus, der sich als ein eher defensiver Nationalstolz präsentiert, basierend auf drei legendären bzw. realhistorischen Verdiensten des maltesischen Volkes: für das Christentum, für die Rettung der europäischen Zivilisation und den erfolgreichen Widerstand gegen die italienisch-deutschen Faschisten.
Das Erste: eine von Bibelhistorikern längst widerlegte Legende, die Namensverwechslung des Evangelisten Lukas, wonach der eigentliche Begründer der christlichen Lehre, der Apostel Paulus, auf dieser Insel als römischer Gefangener und Schiffbrüchiger gastliche Aufnahme fand und bei seiner Weiterreise ein vollständig zum Christentum bekehrtes und getauftes Volk zurückgelassen haben soll. Das Zweite und Dritte: der erfolgreiche Widerstand gegen die türkischen Bedroher der europäischen christlichen Zivilisation und dem Kampf gegen die Faschisten.
Darauf basiert die Enttäuschung vieler Malteser über die knauserige, krämerhafte Behandlung Maltas bei der Aushandlung der Beitrittsbedingungen – sowohl der politischen Bedingungen (Verfassung), wie auch der ökonomischen. Die Reaktion vieler Malteser: Wo blieb hier die Anerkennung der enormen Verdienste ihres Volkes um das christliche Europa?
Ein einziges Mal gab es hier in jüngster Zeit Anzeichen von Deutschfeindlichkeit, nur vereinzelt erkennbar und schnell wieder verschwunden, Folge jenes Auftritts des EU-Kommissars Verheugen in Malta kurz vor der April-Abstimmung: Seine vordergründige Beschönigungs- und Verkleisterungstaktik erwies sich als kontraproduktiv und machte manchen Malteser misstrauisch. Die sich daraus ergebende Fragestellung für manchen EU-Kritiker: „Anscheinend sind die Deutschen die einzigen Gewinner bei der Aufnahme Maltas in die EU.“
Neben diesem, dem besonderen maltesischen Nationalismus geschuldeten Umstand, gibt es noch einen weiteren. Außenpolitisch hatte sich Malta, von 1971 bis 1987 von der MLP regiert, zur Blockfreiheit bekannt. Dieses Prinzip erhielt allerdings ein territorial bedingtes Spezifikum. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung für SED-Parteipropagandisten, auf der der damalige DDR-Außenminister Oskar Fischer nach Unterzeichnung des KSZE-Abschlussdokuments in Helsinki die Ergebnisse jener mehrjährigen Konferenz auswertete. Deren erste und dritte Etappe wurde von allen Staats- bzw. Regierungsoberhäuptern Europas (mit Ausnahme Albaniens), der USA und Kanadas bestritten, während die zweite eigentliche Arbeitsetappe von den Außenministern verantwortet wurde. Oskar Fischer antwortete damals auf die Frage, warum die Fertigstellung des Dokuments plötzlich und unplanmäßig über mehrere Monate verzögert wurde, wie folgt: Grund war die Einhaltung der von allen Teilnehmern vereinbarten Einstimmigkeit. Hier vernahm ich erstmalig von jener außenpolitischen Rolle, die sich Malta selbst erwählt hatte. Seine guten bis hervorragenden Beziehungen, einerseits zu Großbritannien und der UdSSR und andererseits zu den Maghreb-Ländern, insbesondere zu Algerien und Libyen, ließen Malta sich als politische Brücke zwischen Europa und Nordafrika verstehen. Fischer sagte damals, dass mit Malta faktisch Algerien (und wie ich heute vermute, auch Libyen) mit am Konferenztisch saß. Malta nutzte das Einstimmigkeitsgebot und setzte tatsächlich durch, dass in das Abschlussdokument ein spezieller Abschnitt zu den Beziehungen zwischen den europäischen und den an das Mittelmeer grenzenden Nahostländern aufgenommen wurde.
Es ist jene „Brückenfunktion“, die Malta in den letzen Jahrzehnten Gelegenheit gegeben hat, sich außenpolitisch von der Weltöffentlichkeit wahrnehmbar zu profilieren. Es unterliegt keinem Zweifel, dass jene Rolle bald ausgespielt sein wird; ein wichtiges früheres Argument der MLP.
Zur wechselhaften Geschichte der maltesischen Beziehungen bzw. Pläne zur Gestaltung der Beziehungen zur EWG, zur EG und schließlich zu EU: 1967 gehörte Großbritannien noch nicht zur EWG, sondern hatte sich ein eigenes europäisches Zollbündnis (EFTA) gebastelt. Um Malta das Fernbleiben von der EFTA zu versüßen und die engen Beziehungen zu Italien, vornehmlich Sizilien, nicht zu stören, wurde ihm ein Assoziierungsabkommen (nach dem Vorbild jener afrikanischen Staaten, die ehemals französischer Kolonialbesitz waren) gewährt. Inzwischen hatten sich EG und EU weit über das Niveau eines vornehmlichen Zoll- und landwirtschaftlich-protektionistischen Bündnisses entwickelt, und seit 1987 regierte in Malta die NP unter dem heute erneut amtierenden Premierminister Fenech Adami. Als nun die guten Beziehungen zu Osteuropa, vor allem zur Sowjetunion, gegenstandslos wurden, stellte die Regierung 1990 ihren ersten Aufnahmeantrag in die EG. Damals war Brüssel an der Aufnahme jenes Landes mit seinem Hang zu außenpolitischen Alleingängen nicht besonders interessiert. Kenner der Materie behaupteten, dass jener Antrag in Brüssel immer wieder auf den Boden des Stapels der Aufnahmeanträge rückbefördert worden sei.
Die NP wollte ihren guten Willen beweisen: Die Regierung erklärte 1994 den Beitritt Maltas zum NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ und setzte noch einen drauf, in dem sie wenig später vorsorglich die Mehrwertsteuer einführte, mit der Begründung, dass dies eine von Brüssel geforderte Vorleistung sei. Verständlicherweise wurde dies von der Bevölkerungsmehrheit nicht gerade begrüßt. Es gibt die von der MLP aufgestellte Behauptung, ihren Wahlsieg 1996 hätte sie der Ankündigung zu verdanken, den Aufnahmeantrag unverzüglich zurück zu ziehen, den „Pakt für den Frieden“ wieder zu verlassen und die Mehrwertsteuer wieder abzuschaffen. Allerdings lässt sich beweisen, dass nur das letzte Argument den Ausschlag gab und Alfred Sant damals im Parlament eine Mehrheit von allerdings nur einer Stimme erhielt. Diese knappe Mehrheit ging ihm allerdings wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten mit dem MLP-Uraltgestein Dom Mintoff sehr bald wieder verloren, weil jener u.a. gegen alle Haushaltsanträge der Regierung stimmte.
Sant hatte seine Wahlversprechen eingehalten: Noch am Tage der Regierungsbildung verließ Malta die „Partnerschaft für den Frieden“, und wenig später zog die Regierung zwar den EU-Antrag nicht zurück, aber signalisierte Brüssel, dass sie den Antrag auf unbestimmte Zeit ruhen lasse. Sants Hauptargument gegen den EU-Beitritt: Brüssel sei bereit, mit Malta ein neues Assoziierungsabkommen abzuschließen, das die ökonomischen Erwartungen Maltas erfülle, dem Lande aber weiterhin die volle innen- und außenpolitische Handlungsfreiheit erlaube. Was er nicht bedacht hatte: Als Alternative zur Mehrwertsteuer führte er als unerlässlich nötige Haushaltsquelle eine kräftige Importsteuer ein. Aber das Land ist ohne ein äußerst hohes Importvolumen an Lebensmitteln, Rohstoffen und vielen Industrieerzeugnissen nicht lebensfähig. Und Brüssel stellte die unabweisliche Bedingung für Assoziierungsbeziehungen die Aufhebung jener Steuer. Dass die MLP 1998 die Wahlen deutlich verlor, beweist: Sant hatte nicht seiner EU-Alternative den Wahlsieg zu verdanken, sondern der Abschaffung der Mehrwertsteuer. Seine Niederlage 1998 war folgerichtig dem Unmut der Bevölkerung geschuldet, wonach die von ihm sofort veranlasste Abschaffung der Mehrwertsteuer keinen Rückgang der Verbraucherpreise gebracht hatte, sondern Importsteuer und deutliche Subventionskürzungen, z.T. sogar Streichungen, bei den Preisen für Elektroenergie, Wasser und dem Heizbrennstoff Kerosin – umweltpolitisch sicher überfällig – weitere Preissteigerungen brachten. Und damit sind wir bei den wichtigsten Befürchtungen vor den Folgen der EU-Mitgliedschaft, obwohl diese in ihrem ganzen Ausmaß von vielen Menschen überhaupt noch nicht erkannt sind.
Die seit 1998 wieder regierende Fenech Adami-Partei hatte sich zunächst taktisch klüger verhalten. Die Mehrwertsteuer wurde auf Kosten der Importsteuer (bei Steuerfreiheit aller Lebensmittel) wieder eingeführt, die Subventionskürzungen und -streichungen z.T. rückgängig gemacht und dafür kleinere Preiserhöhungen für Wasser und Strom eingeführt. Es gibt zwei Preisebenen: einen jährlich langsam steigenden (sinkend subventionierten) Normverbrauchspreis, wobei die Norm pro Haushalt an die Kopfzahl gebunden ist, und Kosten deckende Preise für den Mehrverbrauch. Es ist ein System, das sich allmählich von selbst erledigt und damit der Marktöffnung für andere Anbieter bald nichts mehr im Wege steht. Die aus Gemeindesteuern zu finanzierenden Kosten für die täglich (ohne jegliche Stofftrennung) erfasste Müllabfuhr und Straßenreinigung durch formal privatisierte ehemalige Staatsbetriebe hat private Konkurrenz erhalten. Das konnten auch die sehr lange streikenden Müllwerker, geführt vom größten, MPL-nahen Gewerkschaftsbund, nicht verhindern. Die Mehrwertsteuer wurde längst auch auf Lebensmittel ausgedehnt, schrittweise erhöht und hat inzwischen kontinentales Niveau erreicht.
Das alles konnte das Anwachsen der inneren Staatsverschuldung nicht bremsen. Die nominelle Arbeitslosigkeit liegt zwar noch immer relativ niedrig (weit unter 10 Prozent), aber die große Mehrheit der Frauen ist nicht als arbeitslos registriert, wie auch mancher Mann, der gar nicht oder unterbezahlt im kleinen, patriarchalisch geführten Familienbetrieb (Einzelhandel oder Handwerk) mitarbeitet. Das nach englischem System organisierte Sozialwesen bleibt in seinen Leistungen hinter den steigenden Lebenshaltungskosten zurück, und so sahen viele Leute aus den unteren Einkommensschichten einen wichtigen Ausweg, in der erhofften Chance für einen gut bezahlten Arbeitsplatz auf dem Festland. Dass dies vorerst ein Traum bleibt, haben anscheinend immer noch nicht alle begriffen. Und ob die erhofften Preisersparnisse durch die Ausdehnung bekannter Billigketten auf den maltesischen Markt eintreten wird, ist ob seiner territorialen Beschränktheit noch gar nicht sicher. Allerdings, Zölle und Importsteuern werden verschwinden, aber auf die Regierung wartet ein unvermeidliches Anwachsen der Ausgaben zur Finanzierung, mindestens jedoch Kofinanzierung unaufschiebbarer Investitionen in Infrastruktur und Umweltschutz, was natürlich zu weiteren Steuerbelastungen und neuen finanziellen Belastungen der Bevölkerung führen muss.
Kaum ein Hauseigentümer oder Mieter hat begriffen, was auf ihn zukommt, wenn er die Kosten für eine ökologisch behandelte Abwasserentsorgung, die bisher kostenlos ins Meer erfolgte, und für Müllabfuhr, Mülltrennung und ökologisch aufbereiteter Müllbeseitigung und der Straßenreinigung selbst finanzieren muss. Kein Autobesitzer, wie sich jene Investitionen auf den Benzinpreis auswirken, die verhindern, dass Benzin- und Ölreste in die Abwässer gelangen; wie sich die Außenzollmauer auf die billigen Erdölfreundschaftspreise aus Libyen auswirken.
Mit anderen Worten: mancher EU-Befürworter hofft, dass sich auch jetzt noch die seit Generationen erfahrene Schlamperei entweder fortsetzen wird, er also weiterhin seinen Sperrmüll über die zahlreichen ungenutzten, verödeten Brachflächen verteilen kann, oder dass die EU all jene überfälligen Maßnahmen finanziert. Viele Menschen wissen immer noch nicht, dass EU-Mittel nur fließen, wenn sie national kofinanziert werden. Bei den Verhandlungen wurde Malta zunächst ob seines über dem Durchschnitt liegenden Bruttosozialprodukts als Bruttozahler eingestuft. Nur die Drohung der Regierung mit Verhandlungsabbruch brachte einen auf wenige Jahre befristeten Aufschub. Und danach? Das alles könnte den Anlass für jenes Szenarium abgeben, das der oben zitierte Engländer – kein Linker! – prophezeite.
Viele Kenner maltesischer Finanz-, Ökonomie- und Ökologieprobleme, Intellektuelle, Unternehmer, Banker usw., befürworten die EU-Mitgliedschaft. Der Grund sind die Probleme, die nicht länger hinaus geschoben werden dürfen: die landesweite Vermüllung, das sich ausweitende Zubetonieren ganzer Landesteile trotz wachsenden Überangebots an Wohnflächen und Hotelkapazitäten, der völlig ungenügend oder gar nicht vorhandene Emissionsschutz für Luft und Wasser, der zwar gesetzlich geregelte aber in der Praxis nicht realisierte Artenschutz, usw., usf. Alles eigentlich nationale Aufgaben, die im eignen Land zu lösen wären. Aber niemand sieht im Lande irgendeine nationale Kraft, die bereit wäre, jene Aufgaben erfolgreich anzupacken. Man glaubt, dass nur Druck aus Brüssel jene Aufgaben lösen kann, übersieht allerdings, dass aus Brüssel drohende finanzielle Sanktionen auch keine Lösung wären. Anscheinend sehnt sich mancher zurück in Zeiten allmächtiger Generalgouverneure, evtl. in Gestalt mit allen Vollmachten ausgestatteter EU-Kommissare.
Unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen scheint mir trotzdem die EU-Lösung die schlechtere der beiden Varianten zu sein. Sie verschafft nämlich den nationalbewussten Maltesern die Ausrede, für die Lösung der eigenen Probleme wieder Mal, wie eh und je, nicht zuständig zu sein. Manchmal ist es anscheinend bequemer, fremdbestimmt zu sein.

Wolfgang Wolf lebt in Malta.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph