GEGEN ÖFFENTLICHKEIT – EIN SCHWANENGESANG

von Wolfram Kempe
aus telegraph #111

Im September vor 15 Jahren waren die westdeutschen Fernsehnachrichten angefüllt mit Bildern von Menschen, die in Prag über Zäune kletterten oder mit nicht mehr als zwei, drei Plastebeuteln in der Hand über niederösterreichische Wiesen rannten. Im Westen waren das Sensationen, in ostdeutschen Nachrichten oder Zeitungen fanden die Vorgänge schlicht nicht statt, außer als „imperialistische Hetzkampagne“ und mal abgesehen von der abenteuerlichen Geschichte eines Mitropakoches des Corvina-Expresses, der vermittels einer Mentholzigarette zum Verbleib im Westen genötigt worden war, aber glücklich heimkehrte (ND vom 21.9.1989, S.1+3). Angesichts der westdeutschen Sensationslust und der ostdeutschen Kaltschnäuzigkeit gefror mir das Blut in den Adern, denn die gehetzten Blicke der Menschen, die da in ihrem Tun zu sehen waren, gingen mir durch Mark und Bein. Rückblickend war das wohl der Punkt, aus dem in meinem Freundeskreis der Entschluss entstand, eine Zeitung zu gründen, wenn auch zunächst – zumindest bei mir – verhalten. 

In den folgenden acht Wochen war anderes wichtiger, nicht zuletzt Vorgänge, über die das ND am 9. Oktober 1989 auf Seite 9 unter der Überschrift „Störung der Volksfeste verhindert“ mit ganzen 16 Zeilen berichtete. Zwischen Weihnachten und Neujahr versammelten sich dann fünf Leute in Oberschöneweide, beschlossen die Gründung einer Wochenzeitung namens „Der Bote“ und begannen, wie wild zu arbeiten. Im Januar waren wir acht, wußten, dass „Der Bote“ eine norddeutsche Kirchenzeitung war und wir also einen anderen Namen brauchten, hatten eine Konzeption, nannten das Kind „Der Anzeiger“ und hatten bis auf einen allesamt keine Ahnung von Journalismus, geschweige denn, wie man eine Zeitung macht. In der Konzeption von 17. Januar 1990 hieß es: „Zwar wollen wir eine mutige und freche Wochenzeitung machen, aber die journalistische Seriosität gebietet, die Menschenwürde und die Menschen- und Bürgerrechte zu wahren und zu verteidigen gegen staatliche Gewalt, Propaganda, Denunziation und Demagogie. Für unsere Zeitung schließen wir jede Form von Rassen- und Kriegshetze, Chauvinismus und Faschismus/Neofaschismus aus.“ Am 6. April 1990 erschien die erste Ausgabe, hergestellt und herausgegeben von einer elfköpfigen Redaktion, verlegt im BasisDruck Verlag, gedruckt von der zum „Druckzentrum Berlin“ mutierten ND-Druckerei am Franz-Mehring-Platz. In dieser ersten Ausgabe veröffentlichten wir unter anderem zum ersten Mal seit 1956 in der DDR den vollständigen Text der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO. Der Untertitel der Zeitung lautete „Wochenzeitung für Politik, Kultur & Kunst“, sie kostete eine Ost-Mark, und der „1. Jahrgang 1990“ brachte es auf genau 12 Ausgaben.

Wogegen Öffentlichkeit?
Die etwas längere Reminiszenz macht – so hoffe ich – zwei Dinge deutlich: Der Wille zur Zeitungsgründung als Einsicht in die Notwendigkeit einer Gegenöffentlichkeit entstand unter den Bedingungen einer gleichgeschalteten veröffentlichten Meinung. Und zweitens: Obwohl ein Vierteljahr eigentlich nicht lang ist, kamen wir zu spät. Beide Punkte will ich etwas ausführlicher betrachten.

Die Mehrheit der Redakteure des „Anzeigers“ bestand aus Leuten, die sich in den Nachwuchsklassen des Schriftstellerverbandes oder diverser Verlage aufhielten. Wenn wir auch nichts vom Journalismus verstanden, von Sprache verstanden wir etwas. Insofern hatten alle ein Empfinden für sich sprachlich ausdrückende staatliche Gewalt und bemerkten Propaganda noch in ihren unkenntlichsten Formen. Das war der Widerpart, an dem wir uns in den Jahren zuvor schon mit Kurzgeschichten, Hörspielen, Gedichten, Essays und Aufsätzen, vor allem aber auch mit dem Gestus bei Lesungen abzuarbeiten versuchten. Gleichzeitig ließ sich unter den Bedingungen der DDR ernsthafter Journalismus in seinen ureigensten Stilformen wie Reportage oder Interview nur unter dem Etikett „Dokumentar-Literatur“ betreiben, vor allen Dingen aber veröffentlichen. Zum Beweis möge man nur die Jahrgänge der als „Blätter für junge Literatur“ untertitelten Zweimonatsschrift „TEMPERAMENTE“ durchsehen. Dagegen galt es, eine andere, neue, den ursprünglichen, aus der französischen Revolution stammenden, journalistischen Prinzipien verpflichtete Öffentlichkeit zu setzen: Journalismus (i.e. Öffentlichkeit) als vierte Gewalt in einem demokratischen Staat. All diese Überlegungen basierten jedoch auf einer einzigen Voraussetzung: dem Fortbestand der DDR als eigenständigem Staat. Und auf der – von heute aus gesehen vielleicht überheblichen – Überzeugung, dass bei allen Veränderungen, die in den DDR-Zeitungsredaktionen und im Fernsehen in jenen Tagen ja zu beobachten waren, sich altgediente ostdeutsche Journalisten nie zu diesem Selbstverständnis hin entwickeln könnten.

Sehe ich mich heute in der Welt um, so ist der einzige hinkende Vergleich zu den damaligen DDR-Verhältnissen, der mir ins Auge springt, die Situation in den USA in den eineinhalb Jahren unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Seriöse Zeitungen wie Washington Post oder New York Times verschwiegen verschämt ihre eigenen Recherchen zum Wahlbetrug des amtierenden Präsidenten; durchs ganze Land raste ein national-patriotisch-paranoider Sturm, der in der übergroßen Mehrheit der Redaktionen den gleichen duckmäuserischen Mief erzeugte, der aus der DDR nur allzu bekannt ist. Unter diesen Bedingungen sind die Filme und Bücher von Michael Moore klassische Produkte von Gegenöffentlichkeit. Herrschen jedoch in Europa oder auch nur in Deutschland solche Verhältnisse?

Eine Angewohnheit, die ich mir aus DDR-Zeiten erhalten habe, ist, mir Zeitungsausrisse aufzuheben. Nur darum aber kann ich heute belegen, dass sich der schärfste und prononcierteste Protest gegen den völkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Serbien 1999, an dem Deutschland teilnahm, nicht etwa im ND oder der taz fand, sondern in der F.A.Z., im Feuilleton. Der Zusatz ist wichtig, denn in den Leitartikeln der selben Zeitung las sich das ganz anders. Insofern ist die F.A.Z. die einzige Zeitung die ich kenne, die Gegenöffentlichkeit in ein und dem selben Blatt herstellte – herstellen konnte, muss man leider sagen, denn auch die Zeiten sind schon wieder vorbei. Gleichschaltung? Zwischendurch haben sie es dann aber auf die Spitze getrieben – aber darauf komme ich noch einmal zurück.

Pädagogen
Die säkularisierten Pastorentöchter und Pfarrerssöhne, die die 68-Bewegung in allen Zweigen speisten, hatten das 4. Gebot offensichtlich nur halbherzig verinnerlicht: Weil sie nicht bestimmen konnten, wie „das Bildnis noch irgendein Gleichnis“ „weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden“ ist, war, hält der Hass gegen die „Bild-Zeitung“ auch noch mehr als 35 Jahre nach der Mordhetze gegen die Westberliner Studentenbewegung unvermindert an. Der Kampf um die Meinungsführerschaft war die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit dessen, was täglich so passierte, hierzulande und in der Welt. Die Auseinandersetzung wurde Mitte der siebziger Jahre gewonnen. Dass mir nun aber Doktor Seltsam die Welt erklärt, hat jedoch mehr mit Pädagogik als mit Gegenöffentlichkeit zu tun: Mindestens seit den zwanziger Jahren ist die deutsche Linke davon überzeugt, Menschen könnten zum richtigen Klassenstandpunkt „erzogen“ werden. In der westdeutschen Linken hat sich diese Überzeugung bis heute gehalten, und je reiner die linke Lehre ist, der die jeweiligen Protagonisten anhängen, umso stärker tritt diese Überzeugung hervor.

So lange ich lebe, werde ich mich angesichts der vorausgegangenen nationalsozialistischen Diktatur weigern, die DDR als Diktatur zu betrachten. Allerdings mit zwei wesentlichen Zusätzen: Die nationalsozialistische Diktatur konnte auf die Mehrheit der Bevölkerung bauen; die Mehrheit der DDR-Bewohner entzog sich der Erziehung zum Neuen Menschen. Als Sprößling eben dieser, in Deutschland auch singulären, Erziehungsdiktatur erkenne ich Pädagogen, wo immer sie ihr schamloses Haupt heben. Denn es ist ja nicht so, dass die geistige, die politische und die ökonomische Drangsal, die in der DDR herrschte, dass Ergebnis irgendeiner teuflischen Absicht gewesen wäre. Im Gegenteil: wie immer war der Weg in den Untergang mit den allerbesten Absichten gepflastert; in dem der Blick aber fest auf die leuchtende Zukunft und den sie bewohnenden Neuen Menschen gerichtet war, gerieten die realexistierenden Menschen und Verhältnisse aus den Augen. (Und bevor wieder einer mäkelt: ich weiß auch, dass dies alles sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges abspielte. Na und? Was rechtfertigt das?)

Wie in den schlimmsten Tagen deutscher Schulerziehung hatte sich diesen hehren Ansprüchen alles unterzuordnen. Aber weder Journalismus, geschweige denn Literatur dürfen zu irgend etwas „dienen“. Gerade unter den Bedingungen des weltweiten konservativen Rollbacks darf diese „ostdeutsche“ Erkenntnis hierzulande nicht abhanden kommen. Trotz allem habe auch ich mich an dieser Rangelei um die Deutungshoheit beteiligt: mit (nota bene) Polemiken im „Anzeiger“, dann in der „BesetzerInnenZeitung“ aus Berlin, im „SKLAVEN“ und im „SKLAVEN Aufstand“ und nicht zuletzt auch im „telegraph“.

Die Wirklichkeit
Doch bei all dem war schon 1990 der ursprüngliche Impuls Makulatur geworden: nicht mehr mit dem untergehenden System musste die Auseinandersetzung geführt werden, vielmehr wurde gegen die Erscheinungsformen des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik angeschrieben, gegen die Arroganz der geschichtlichen Sieger, gegen Raub- und Glücksritter und Wendehälse. Alles in allem tapfer, aber auf verlorenem Posten. Und – wie gesagt – zu spät. Bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 bekamen die Bürgerbewegungen rund 250.000 Stimmen, insgesamt. Die verkaufte Auflage des „Anzeigers“ pegelte sich bei rund 25.000 Exemplaren ein. Von der „BesetzerinnenZeitung“ wurden 500 Exemplare hergestellt; 1993 erlosch das Interesse. „SKLAVEN“ und „SKLAVEN Aufstand“ verkauften zu besten Zeiten 600 Hefte. Ist das Gegenöffentlichkeit? Ich glaube nicht.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht mir vordergründig gar nicht um die Zahlen. Es geht um die gesellschaftliche Wahrnahme dessen, was wir da betrieben haben und betreiben. Es geht um die Frage, wen das, was wir da machen, eigentlich interessiert, und welche Wirkungen es entfalten kann. Was aus dem „Anzeiger“ geworden wäre, kann niemand sagen, denn sein Untergang lag auch in der ökonomischen Selbstüberschätzung eines Verlages begründet, der es sich leistete, zwei Wochenzeitungen herauszugeben. Die „BesetzerInnenZeitung“ war als reines Klientelblatt an eine Bewegung gekoppelt; außer den Hausbesetzerinnen und -besetzern vom Anfang der neunziger Jahre interessierte sich nur der Verfassungsschutz dafür. Und sowohl beim „telegraph“ – der ja aus einer Bewegung entstanden ist – als auch bei „SKLAVEN“ und „SKLAVEN Aufstand“ haben heutzutage Leser, Redaktion und Autoren ein eher familiäres Verhältnis miteinander, sieht man von der gelegentlichen öffentlichen Wahrnahme durch schreibende Kollegen in überregionalen Zeitungen oder durch den Universitätsbetrieb ab. In einer per se pluralen Landschaft veröffentlichter Meinung scheitern selbst journalistisch anspruchsvolle Projekte: Trotzdem die eingangs erwähnte F.A.Z. die innere Spanne zwischen konservativem Leitartikel und liberalem Feuilleton um das Supplement der „Berliner Seiten“ erweiterte, konnte sie damit doch nur rund 20.000 neue Leser erreichen. Das war das ökonomische Todesurteil für das Experiment. Und das Bedauern darüber erfasste die bundesdeutsche Intelligenzia lagerübergreifend und von Herzen.

Aus einer Studie des „Instituts für Demoskopie Allensbach“ unter dem Titel „15 Jahre nach dem Fall der Mauer – Die Entwicklung der Zeitschriftennutzung in den neuen Ländern“ vom 20. Oktober 2004 geht hervor, dass zu den unmittelbar nach der Wende besonders gefragten Medien Jugendzeitschriften, Erotikartikel und Rätselzeitschriften gehörten, während politische Wochenmagazine und überregionale Tageszeitungen erheblich an Interesse einbüßten. Verglichen mit Westdeutschland ist heutzutage hierzulande das Interesse an politischen Leitartikeln unterdurchschnittlich und das Interesse an Apotheken-Kundenzeitschriften überdurchschnittlich vorhanden. Während der Anteil der politisch interessierten Bevölkerung im Westen zwischen 1991 und 2004 gleich geblieben ist, ging er im Osten von 61 auf 49 Prozent zurück, bei den unter Dreißigjährigen von 59 auf 27 Prozent. Und gedeckt wird diese Wissbegierde dann durch die „Super Illu“, die 18,8 Prozent der Ostdeutschen erreicht.

Vor diesem Hintergrund bekommt für mich all unser Tun aus den letzten 15 Jahren, all das Bemühen um „Gegenöffentlichkeit“, eine Feigenblattfunktion. Hätten unsere Publikationen mehr als nur der Selbstverständigung in unseren eigenen Zirkeln gedient, täten dies andere der vielen kleinen, uns unbekannten Hefte, nicht auch nur, wären wir mit ganz anderen – aber nicht unbekannten – Methoden staatlicher Repression konfrontiert. Das dies nicht Wunschdenken ist, beweist das Beispiel der „Radikal“.

Mit unserer zivilen Sorte von „Gegenöffentlichkeit“ jedoch liefern wir das Alibi, den Verweis, mit dem die veröffentlichte Meinung eben „per se“ als plural ausgewiesen werden kann. Kurz um: wir sind staatstragende Pädagogen. Ungefähr so wie Michael Moore, der einem erklecklichen Teil der Welt den Glauben an die amerikanische Intelligenz zurückgab.

Staatstragend wollte ich aber noch nie sein.

Wolfram Kempe ist Autor und Geschäftsführer der PDS Prenzlauer Berg, Pankow, Weißensee

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