LAUDATIO ZUM 15-JÄHRIGEN JUBILÄUM

von Hans-Jochen Vogel
aus telegraph #111

Was ist in den spannenden 1980er Jahren nicht alles gekeimt, emporgesprossen und erblüht. Blätter haben sich entfaltet. Also zum Beispiel Umweltblätter, die jedoch durch ihren wahrlich nicht nur ökologischen Inhalt einen leicht irreführenden und stark untertreibenden Namen trugen, ein Grenzfall eben, aber im Kontext durchaus verständlich. Es steuerte alles auf den Herbst 1989 zu, in dem sich die schmerzlich vertraute Umwelt heftig entblätterte. Die konspirativ mühselig und nach damaligem Verständnis relativ solide produzierte Samisdat-Zeitschrift, die unter der Hand weitergereicht wurde – und auf diese Weise auch gelegentlich nach Karl-Marx-Stadt gelangte – , machte schnell und aktuell in, für unsere Verhältnisse, Massenauflage und bei den Kundgebungen und Demos unter die Leute auf der Straße gebrachten Blättern Platz. Umweltblätter wurden Umwälzblätter. Der telegraph war geboren. Aus den fliegenden Blättern wurde wieder eine Zeitschrift, zuerst im Monatsrhythmus erscheinend, dann setzten Rhythmusstörungen ein, und inzwischen sind wir froh, wenn wir den telegraph in mittlerweile mehrfach veränderter Aufmachung viermal im Jahr lesen können. Es ist lange keine Stasi mehr vorbeigekommen, um in der Umweltbibliothek, die längst dahingeschieden wurde, und telegraph-Redaktion einmal ein wenig aufzuräumen. Heute erledigt der Markt, diese Sachzwangmaschine, hinter der man, mit Claude Serfati „die Durchsetzung von Eigentumsrechten des rententragenden Kapitals erkennen“ muss, die Dinge gefälliger und lautloser. Kein Platz mehr unterm Dach der Kirche. Wozu noch Umweltbibliothek? Seht zu, wo ihr unterkommt oder -geht. Und wie ihr Fördergelder abstauben könnt. 

Ich finde es höchst erstaunlich, dass es Euch noch gibt, liebe Telegraphisten, dass Ihr immer wieder einen Weg gefunden habt, dass Ihr nie aufgegeben habt. Ich bin angesprochen worden, Euch zu loben. Es besteht ausreichend Anlass dazu. Das weit und breit letzte DDR-Oppositionsblatt, das noch existiert. Wie viele haben die Wende nicht überlebt; wie viele wurden damals neu gegründet und sind bald wieder untergegangen. Ich habe damals geschrieben: „Wer die Bild-Zeitung hat, braucht keine Stasi“. Medienkonzerne, die inzwischen wie in den USA, mit den Rüstungskonzernen verbandelt sind, sorgen für „Klarheit in den Köpfen“, eine Klarheit, die als fortgeschrittenes Stadium von Nebel zu bestimmen wäre.

Meine, von da an fast vollständige Sammlung des telegraph beginnt Mitte 1990. Da ist noch manches beisammen, was sich später auseinander dividiert hat. Aber die Risse sind schon deutlich. Die Richtungen werden ahn-, zum Teil schon identifizierbar, in die die Leute auseinander laufen werden. Die letzten Züge der komödienhaften De Maizière-DDR. Diestel und die Stasi-Akten. Überhaupt: Stasi – die Aufklärung der Aufklärung. Hausbesetzungen und die ersten brachialen Erfahrungen mit der FDGO und ihren grünen Durchsetzungskräften. Antifa als bittere Notwendigkeit. Zum unmittelbar Aktuellen kamen Geschichtsaufarbeitung und ein nötiges bisschen politische Schulung. Der telegraph liest sich als eine, oft sehr persönliche und erfrischend spontane, aber immer realitätsgesättigte Chronik eines gesellschaftlichen Umbruchs und der dabei stattfindenden Bewusstseinsprozesse aus dem Blickwinkel damals großenteils junger Menschen.

Seine Macher hatten schon vorher über den DDR-Tellerrand hinauszublicken gelernt. Sie hatten auch wenige Berührungsängste gegenüber jenen aus dem Westen, die ähnlich dachten wie sie. Sie wollten eine Ostzeitschrift machen, aber keine Gettopostille. Man kann nicht nach dem Ende der DDR noch endlos weiter deren Opposition sein wollen. Man kann auch nicht so tun, als sei die DDR aus der willkürlichen Absicht zufällig zur Macht gelangter Schurken entstanden. Die Geschichte ist leider komplizierter. In Abwandlung eines Wortes von Max Horkheimer: Wer vom deutschen Faschismus und von der Entstehung des US-Imperiums aus dem Zweiten Weltkrieg heraus nicht reden will, der soll zur DDR schweigen.

Der telegraph hat sich aus der Umklammerung durch die so oder so erlebte Vergangenheit gelöst und sich in die aktuellen Prozesse und Diskussionen über die Jahre bis heute eingemischt. Er hat sich vereinnahmenden westlichen freiheitlich-demokratischen Streicheleinheiten entzogen, mit denen DDR-oppositionelles Denken weithin neutralisiert und in die neue multiple Einheitspartei integriert wurde. Er hat sich nicht reumütig von seiner DDR-Oppositions-Vergangenheit losgesagt und sich um einen Platz im inzwischen marktgängigen DDR-Nostalgie-Business bemüht. Er hat sich auch nicht in die glänzende Isolation auf den Sandbänken der Weltgeschichte gestrandeten Ex-Revolutionärstums begeben. Und er hat sich nicht vom kopfstehenden Nationalismus des Anti-Deutschtums infizieren lassen. Schon gar nicht hat er sich auf allerlei leichtsinnige neurechte und nationalbolschewistische Spielchen eingelassen. Er hat einfach weitergemacht, indem er aus den Anfangsimpulsen heraus offen und lernbereit, aber nicht verratsbereit, immer wieder eine gedankliche Schneise durch die Zeitläufte zu schlagen versucht hat, weder nach Parteilinie noch in postmoderner Beliebigkeit. Und das war nie einfach.

Denn immerhin: für fast alles, was der telegraph einmal so inhaltlich abgedeckt hat, bestehen heute „Fachorgane“. Das gilt für Antimilitarismus ebenso wie für Antifaschismus, für Zeitgeschichte und linke Theoriedebatten wie für Anarchismus und Alternativprojekte.

Es gibt einige brauchbare Tageszeitungen. Der Freitag hat sich als wichtige Wochenzeitung mit Ost-West-Anspruch etabliert. Wir haben den Ossietzky. Regional und lokal, richtungs- und milieuspezifisch existieren zahlreiche publizistische Projekte, nicht nur im Druck, sondern auch im Äther.

Unter anderem dank des Internet bleiben die unterdrückten Nachrichten, die der telegraph früher im Untertitel führte, nicht mehr ganz so verborgen – heute werden sie allerdings weniger durch administrative Geheimhaltung unwirksam gemacht, sondern durch die Überflutung mit Informationsmüll zum Verschwinden gebracht.

Die Behörden- und Unternehmerunfreundlichkeit, die Ihr noch eine Weile auf der Titelseite vor Euch hergetragen habt, habe ich Euch wohl mit auszureden geholfen. Wer ist heute im Osten nicht schon alles gezwungen, den Unternehmer zu spielen, manchmal fast nur noch mit sich selbst als einzigem Ausbeutungsobjekt und mit der drohenden Insolvenz im Nacken? Und wo ist denn der „klassische“ Unternehmer, Opas guter alter Kapitalist, überhaupt noch zu finden? Der hat sich doch längst in die Vielzahl der nach außen anonymen Aktionäre, in Finanzkonstrukte und Unternehmensverschachtelungen aufgelöst, deren Interessen von auswechselbaren Managern vertreten werden, die von Vorständen und Aufsichtsräten eingekauft und nach desaströsem Wirtschaften mit fürstlicher Entschädigung in den nächsten Chefsessel gefeuert werden. Einem alten Unternehmer konnte man mit Unfreundlichkeit vielleicht imponieren oder konnte sein Gewissen ansprechen. In der Börse haben diese Kategorien keinen Platz.

Ja, und die Behörden? Ach, das könnte schön sein, wenn den Schröderschen Deformen mit ein wenig Unfreundlichkeit gegen etwelche Behörden beizukommen wäre. Das Ausmaß der Durchleuchtung, Disziplinierung und Entwürdigung, das mit dem berüchtigten Hartz IV über die Leute gebracht wird, und zwar durch so genannte demokratisch gewählte Vertreter des Volkes, ist mit Unfreundlichkeit gegen Behörden sicher nicht wirksam zu bekämpfen.

Was waren das doch für niedliche und gutmütige, altväterlich-herzige Vorstellungen, mit denen Ihr da in die schöne neue Welt des Neoliberalismus aufgebrochen wart! Daraus konnte nichts werden. Damit wart Ihr zum Scheitern verurteilt. Das hätte man denken können. Es ist komisch, aber es gibt Euch immer noch, und Ihr schafft es immer noch und immer wieder, eine eigene Perspektive beizusteuern zu den laufenden Diskussionen. Ihr produziert immer noch ein Blatt, das nicht einfach wiederholt, was man überall lesen kann. Es ist kein Ost-Sektenblatt und doch deutlich aus dem Osten. Wir müssten Euch vielleicht alle noch mehr unterstützen, mit Beiträgen, mit der Gewinnung von Zuarbeitern und mit dem Vertrieb. Darüber wird vielleicht dann noch gesprochen werden. Ich kann Euch nur herzlich dazu gratulieren, dass Ihr noch da seid, noch am Werk und unterwegs seid und Euch und uns nur wünschen, dass das Projekt telegraph weiter geht. Solltet Ihr jemals zu der Überzeugung kommen, es einstellen zu sollen, dann geschehe dies nicht in einem Akt der Kapitulation, sondern mit neuen Ideen, die aus dem Alten hervordrängen. Aber das ist jetzt beileibe noch kein Thema. Ich füge den Gedanken nur sicherheitshalber an, weil ich – aus Erfahrung – überzeugt bin, dass es, wenn ein Projekt einmal an seine Grenzen stößt, immer möglich ist, der fruchtlosen Alternative zu entkommen, die da heißt: entweder hinschmeißen oder die Sache lustlos noch ewig hinzuschleppen.

Vorderhand gibt es mehr als genug Stoff für unangepaßtes Denken und Schreiben. Da werden von Politikern im deutschen Westen eine Diskussion über die Umwandlung Deutschlands in einen Staatenbund angestoßen und gleich wieder zurückgepfiffen. Im Osten fordern immer noch viele Leute, darunter solche, die stolz auf ihre gesicherte Staatsgrenze West waren, die Angleichung der Lebensverhältnisse. Dazu passt die Geschichte, die mir eine alte Dame dieser Tage auf der Straße erzählte. Sie ist mit anderen älteren Herrschaften westlicher Herkunft wandernd unterwegs irgendwo im Nordwesten. Man muss sich witterungsbedingt in einer primitiven Lehmkate unterstellen. Meint ein Herr: „Hier müssten sie alle Ossis reinstecken; da könnten sie jammern.“ Meine Gesprächspartnerin darauf: „Ich bin so eine Ossifrau“. Betretenheit. „Ja, aber Sie sprechen doch richtig deutsch.“ Angleichung der Lebensverhältnisse? Was sind Lebensverhältnisse? Was für Verhältnisse sind das, in denen diese Beklopptheit entsteht? Wer möchte daran angeglichen werden? Inklusive Dummheit, die ja bekanntlich lernbar ist. Wie wäre es mit einem Bund ostdeutscher Länder, in der dann vielleicht auch Sorbisch wieder Mehrheitssprache werden könnte?

Und was sagt uns das, wenn montags wieder gerufen wird: „Wir sind das Volk“? Was ist zu tun, dass dies nicht als der Ruf eines abstammungsreinen „deutschen Volks“ verstanden wird, sondern als der des buntgemischten Souveräns? Und so schlecht war der Gedanke nicht, kürzlich in diesem Lobraum die schwarz-rot-goldene Fahne mit den Schwertern zu Pflugscharen-Emblem aufzuhängen. Steht diese Fahne doch für den ehrenwerten Versuch, auch verfassungsrechtlich ein Land zu entwerfen, das hätte eine echte deutsche demokratische Republik werden sollen, jenseits von Hammer, Zirkel und Ährenkranz (ja auch schon als Symbolik sehr friedlich und freundlich, nur eben nicht von allen so erlebt) und jenem Raubvogel, den ich in der Natur liebe, der aber auf der Fahne und im Parlament nichts zu suchen hat, aber vielleicht ein zutreffender Hinweis auf das Selbstverständnis des Staates ist.

Wie gesagt: die Themen liegen auf der Straße. Genug Stoff zum Telegraphieren.

Ihr habt es bisher geschafft, immer wieder neuen Anlauf zu nehmen, nicht zu resignieren und nicht zu erstarren. Möge Euch Eure Lebendigkeit weiter erhalten bleiben.

ps: Laudatio, von lat. laudare: loben, preisen, rühmen. Substantiv laus: Lob; nicht zu verwechseln mit dem gleich klingenden deutschen Laus, die; wie in: jemandem eine L. in den Pelz setzen.

Hans-Jochen Vogel lebt in Chemnitz, er ist u.a. aktiv in der Arbeitsgemeinschaft Offene Kirche (AG-OK Sachsen).

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