von Andrej Holm
aus telegraph #115
Soziologiestudierende lernen es gleich im Grundstudium kennen. Das Gefangendilemma ist eine der klassischen spieltheoretischen Anordnungen der so genannten Rational- Choice-Theorie. Im Kern geht es um das Verhältnis von individueller Rationalität und den daraus folgenden Kollektiveffekten. Was für den Einzelnen rational erscheint, muss nicht zu einem optimalen Gesamtergebnis führen. Mehr noch: Individueller Egoismus wirkt sich für die Gesamtheit suboptimal aus. So jedenfalls die Theorie.
Im soziologischen Modell des Gefangenendilemmas wird von mehreren Beschuldigten ausgegangen. Am effektivsten für jeden von ihnen wäre es, sich über Aussagen zu Lasten der anderen herauszuwinden. Am schlechtesten für den Einzelnen wäre es, nichts zu sagen und sich von den anderen belasten zu lassen. Für alle am günstigsten – so die spieltheoretische Annahme – jedoch wäre eine Aussageverweigerung von allen, die den Aufklärungs- und Beweisdruck bei den Ermittlungsbehörden und Gerichten belässt.
Der Hintergrund dieser Versuchsanordnung unterstellt die grundsätzliche rechtstaatliche Norm, im Zweifel für die Angeklagten zu plädieren. Auch wenn es angesichts der aktuellen Kriminalisierungsversuche gegen linke Aktivist/innen schwer fällt, diesen Grundsatz zu erkennen, gilt diese soziologische Theorie auch in der Praxis. Denn, wie wir es aus den guten und weniger guten Krimis kennen, gilt, dass „jede Aussage auch gegen Sie verwandt werden kann“. Konkret räumt unsere Rechtsordnung eine Aussage- und Zeugnisverweigerung ein, bewertet diese jedoch als belastend, wenn sie sich nur auf bestimmte Bereiche eines Verfahrens beziehen. Nur zu Teilen eines Verfahrens auszusagen, lässt das Schweigen in anderen Bereichen als verdächtig erscheinen.
Gerade im Zusammenhang mit den 129a Verfahren, deren Ermittlungsakten sich als komplexe und zum Teil verworrene Konstrukte lesen, wirken selbst entlastende Einlassungen nicht als Entkräftigung von Indizien, sondern oft als Bausteine für das nächste Konstrukt. Dies liegt in der Natur dieser Ermittlungen – anders als bei aufklärungsorientierten Verfahren gegen Straftaten geht es bei 129a Verfahren meist um die Bestätigung einer Ermittlungsthese. Da viele Zusammenhänge von möglichen Beschuldigten zueinander und zu den ihnen vorgeworfenen Taten oder Organisationen vagen Vermutungen, Interpretationen und Zirkelschlüssen entspringen, entzieht sich die Logik der Ermittlungen klassischen Vernunftprinzipien. Teilweise sammeln die Behörden in jahrelangen Überwachungsund Spitzelmaßnahmen Informationen und Material zur Lebensführung und zur politischen Einstellung der Beschuldigten. Diese Aktenordner füllenden Materialien sind die Bausteine der Konstrukte. Entlastende Beobachtungen und nicht zur Ermittlungstelegraph 115 2007 41 these passende Aktivitäten fi nden in dieser Technik der Ermittlung keinen Eingang. Die vermeintlichen Indizien werden in den Dienst der Ermittlungsthese gestellt und selbst der bloße Kontakt zu einem Beschuldigten kann ausreichen, um selbst in den Focus der Ermittlungen zu geraten. Jede Aussage und jede Einlassung befl ügeln also letztlich die Phantasie der Ermittlungsbehörden.
Die etwas altbacken klingenden Kampagnen zur Aussageverweigerung argumentieren oftmals eher moralisch und stellen die eigene Entlastung als mögliche Belastung von anderen dar. Für 129a Verfahren jedoch erscheint eine Aussageverweigerung als notwendige Strategie um das Konstrukt der Ermittler nicht mit weiteren Fakten zu füttern. Denn wie so oft in den spieltheoretischen Modellen der Soziologie geht es in der Wirklichkeit weniger um die individuellen Rationalitäten als vielmehr um die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Nicht das zu erwartende Verhalten von anderen Beschuldigten, sondern die Versuchsanordnung eines 129a Konstruktes gebiert die Rationalität der Aussageverweigerung.
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