von Peer Stolle
aus telegraph #115
Gegenüber den Organisationsdelikten der §§ 129, 129a, 129b StGB werden immer wieder zwei zentrale Einwände vorgebracht. Die genannten Paragraphen würden zu einer Vorverlagerung der Strafbarkeit in das Vorbereitungsstadium strafbarer Handlungen und sogar in den Bereich der Gesinnung führen. Außerdem seien mit dem Vorwurf der Mit gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bzw. der Unterstützung oder Werbung für eine derartige Organisation weit reichende straf prozessuale Möglichkeiten verbunden, die im besonderen Maße geeignet sind, die Beschuldigten und ihr Umfeld auszuleuchten oder ihre Verteidigungsmöglichkeiten zu beschränken (Großer und Kleiner Lauschangriff, Observationen, Überwachung der Telekommunikation, Kontaktsperregesetz, Überwachung der Verteidigerpost und Anordnung von Trennscheiben bei Verteidigerbesuchen bei U-Haft etc.). Damit stehen die Organisationsdelikte beispielhaft für eine seit Jahren zu beobachtende Entwicklung der Ausweitung und Vorverlagerung staatlicher Formen der Sozialkontrolle.1 Diese ist nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Polizeirecht zu beobachten.
Funktion des Strafrechts
Grundsätzlich ist das Strafrecht Ausdruck eines reaktiven Rechtsgüterschutzes. Durch die Ahndung einer inkriminierten Handlung sollen für die Zukunft die Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter (Leib, Leben, Vermögen, persönliche Freiheit etc.) verhindert werden, beispielsweise durch Abschreckung. Da das Strafrecht mit seinen schwer wiegenden Eingriffsmöglichkeiten als ultima ratio des rechtsstaatlichen Rechtsgüterschutzes gilt, wurde die Strafbarkeit vor allem auf Verletzungshandlungen beschränkt, also solche, die tatsächlich zu einer Beeinträchtigung oder Schädigung eines Rechtsgutes führen. Dieses Prinzip hat zwei zentrale Ausnahmen: den Versuch und die Verabredung zum Verbrechen. Der Versuch (§ 22 StGB) ist nicht bei allen Delikten strafbar und setzt voraus, dass jemand unmittelbar zur Tat ansetzt. Die Verabredung zum Verbrechen (§ 30 StGB) dagegen ist schon strafbar, wenn zwei Personen beschließen, in der Zukunft zusammen eine konkrete Straftat zu begehen. Allerdings ist dies nur strafbar, soweit es sich um ein Verbrechen handelt, also um eine Straftat, die mit einer Mindeststrafe von einem Jahr bedroht ist (wie beispielsweise Raub, aber nicht Diebstahl oder Körperverletzung). In beiden Fällen greift also die Strafbarkeit schon ein, obwohl es noch gar nicht zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Rechtsgutes gekommen ist.
Daneben kennt das Strafrecht noch so genannte Gefährdungsdelikte. Ein konkretes Gefährdungsdelikt kriminalisiert eine Handlung, die im konkreten Fall geeignet ist, ein Rechtsgut zu verletzen (das Einschlagen mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf eines Menschen ist lebensgefährlich); ein 22 telegraph 115 2007 abstraktes Gefährdungsdelikt stellt Handlungen unter Strafe, die generell gefährlich sind, wie beispielsweise das Führen eines Kraftfahrzeuges unter Alkoholeinfl uss.
§ 129a StGB und die Vorverlagerung der Strafbarkeit
Die Organisationsdelikte gehen darüber noch hinaus. Nach den §§ 129 ff. StGB ist es schon strafbar, wenn jemand Mitglied einer Vereinigung wird, die sich zum Ziel gesetzt hat, (bei § 129a genauer umschriebene) Straftaten zu begehen. Das heißt, für eine Strafbarkeit bedarf es weder einer genauen vereinigungsinternen Absprache, wann welche Straftat begangen wird, noch muss eine konkrete Planung eingeleitet worden sein. Die Vereinigung und ihre Mitglieder können auch vollkommen untätig bleiben, an der Strafbarkeit ändert dies nichts. Es muss also weder eine Straftat begangen, noch zu einer unmittelbar angesetzt oder Einigung darüber erzielt worden sein, eine konkrete Straftat zu begehen. Ausreichend ist alleine die Zwecksetzung der Vereinigung.
Eine mitgliedschaftliche Beteiligung wird mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren geahndet. Dagegen wird die Begehung einiger der Katalogtaten des § 129a StGB, wie beispielsweise die Computersabotage (§ 303b StGB), das Zerstören von Bauwerken (§ 305 StGB) oder von wichtigen Arbeitsmitteln (§ 305a StGB) mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Das bedeutet, dass die folgenlose Vereinigungstätigkeit zur Vorbereitung einer Zerstörung von Bauwerken mit einer doppelt so hohen Strafe bedroht ist, wie die Ausführung der Tat selbst.
Erweitert wird diese Vorfeldstrafbarkeit noch dadurch, dass schon die Unterstützung von und das Werben für eine terroristische Vereinigung durch Nichtmitglieder unter Strafe gestellt ist. Zwar ist die so genannte Sympathiewerbung seit 2002 nicht mehr strafbar, sondern nur noch die Werbung um Mitglieder und Unterstützer. Allerdings muss die Werbung keinen Erfolg haben. Die Strafbarkeit der Handlung setzt damit nicht eine tatsächliche Stärkung der Organisation voraus, sondern nur ihre Eignung, das in der Existenz der Vereinigung bestehende Gefährdungspotential zu stärken.
Handlungen, die als Förderung, Stärkung oder Absicherung der Vereinigung wirksam und für diese vorteilhaft sind, werden als Unterstützung verfolgt. Der Begriff des Unterstützens weist kaum Konturen auf und birgt daher die Gefahr einer uferlosen Anwendung in sich. Kriminalisiert wurde – vor allem in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland – eine gesamte Szene, die sich weniger durch ein geschlossenes Weltbild, als vielmehr durch eine gemeinsame Kritik am bürgerlichen Staat auszeichnete.2
Damit wird die Weite der Regelung deutlich. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens setzt grundsätzlich voraus, dass ein Anfangsverdacht vorliegt, beispielsweise, weil jemand zum Zeitpunkt der von der Vereinigung begangenen Tat am Tatort oder in dessen Nähe war, dort ihm zugehörige DNA-Spuren oder Fingerabdrücke gesichert wurden oder er bei der Anschaffung von Tatmitteln beobachtet wurde oder ähnliche tatrelevante Anhaltspunkte vorliegen. Für die Begründung eines Anfangsverdachtes der Mitgliedschaft in einer Vereinigung bedarf es derartiger „harter Anhaltspunkte“ nicht. Wo sollen die auch herkommen, wenn schon die Mitgliedschaft in einer Vereinigung strafbar ist, die noch gar keine konkreten Taten geplant oder durchgeführt hat, und wenn es auch nicht des Verdachtes bedarf, dass telegraph 115 2007 23 das einzelne Mitglied an einer konkreten Tat beteiligt gewesen war.
Begründung eines Anfangsverdachts
Die Palette, mit welchen Indizien ein Verdacht begründet werden kann, ist daher schier unbegrenzt. Ein konkreter Tatverdacht löst sich von objektivierbaren Kriterien und gerät in den Bereich des Subjektiven, des Weltanschaulichen und steht damit für eine Entwicklung vom Tat- zum Täterstrafrecht. Vorfeldstrafbarkeit bedeutet in diesem Fall die Kriminalisierung des prinzipiell Erlaubten. Hat sich erst einmal der Verdacht ergeben, dass es sich bei einer politischen Gruppe oder auch nur bei einem Freundeskreis um eine Vereinigung i.S.d. § 129a StGB handeln könnte, gerät natürlich auch sofort das Umfeld in das Visier der Ermittlungsbehörden, die natürlich auch Mitglieder sein können, aber zumindest ihre Unterstützer oder Werber für diese Vereinigung. Wenn sich dann dieser Tatverdacht schon nicht erhärten lässt, besteht immer noch die Möglichkeit, auf § 138 Abs. 2 StGB, die Nichtanzeige geplanter Straftaten, zurückzugreifen. Diese ist nur bei wenigen Delikten – vor allem solche aus dem Kapitalbereich oder solche mit besonderer Gemeingefährlichkeit – strafbar und dazu gehört auch der § 129a StGB. Das heißt, wer davon erfährt, dass sich eine terroristische Vereinigung gründen will oder jemand für eine solche Organisation werben oder diese unterstützen will und davon die Behörden nicht in Kenntnis setzt, macht sich auch strafbar.
Begründet wird diese weite Vorverlagerung der Strafbarkeit mit der besonderen Gefährlichkeit, welche von einem organisierten Verband von Personen ausgeht, die sich zur Begehung von Straftaten entschlossen haben.3 Diese Begründung dürfte aber bald obsolet werden, da nach den Plänen der Bundesjustizministerin schon die „Vorbereitung einer Gewalttat“, beispielsweise durch eine Ausbildung in einem „Terror-Camp“ oder durch das Sich-Verschaffen von Sprengstoff oder Waffen, um eine terroristische Gewalttat zu begehen, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren bestraft werden soll. Der besonderen Gefährlichkeit einer Vereinigung bedarf es dann nicht mehr; eine gefährliche Einzelperson reicht für die Strafbarkeit schon aus.
§ 129a StGB als Ermächtigung für umfangreiche Ermittlungen
Der große Vorteil des § 129a StGB für die Ermittlungsbehörden ist daher darin zu sehen, dass die Schwelle für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sehr niedrig ist. Eine tatsächliche Verurteilung ist dagegen sehr unwahrscheinlich. Für die Jahre 1980 bis 1988 wurden zwar 3.000 Verfahren wegen § 129a StGB gegen mehr als 2.400 Verdächtige eingeleitet, wovon sich 83% auf die Begehungsmodalitäten der Unterstützung und der Werbung bezogen. Lediglich 800 (also ca. ein Viertel) der Verfahren wurden dabei von dem Generalbundesanwalt geführt, der überwiegende Teil wurde an die Länderstaatsanwaltschaften zurückgegeben, weil es sich um Verfahren „von minderer Bedeutung“ gehandelt hat. Von diesen 800 Verfahren wiederum kamen 760 nicht zur Anklage. Das heißt von den 800 Verfahren, die vom Generalbundesanwalt geführt wurden, kamen lediglich 40 Verfahren zur Anklage; Verurteilungen ergingen dann nur noch in 32 Fällen. Nur 4% der zwischen 1980 und 1988 eingeleiteten Verfahren wurden daher mit einer Verurteilung abgeschlossen.4
Ähnliche Zahlen gibt es auch für die 1990er Jahre. Von 1990-1999 wurden insgesamt 24 telegraph 115 2007 1.363 Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB eingeleitet. Im gleichen Zeitraum wurden aber nur 38 Personen wegen dieses Deliktes auch bestraft,5 das heißt nur in 2,8% der Fälle kam es auch zu einer Verurteilung. § 129a StGB ist damit vor allem als Ermächtigungsnorm für die Einleitung von Ermittlungsverfahren zur Ausforschung anzusehen, das mit weit reichenden Eingriffbefugnissen verbunden ist, wovon nicht nur die direkt Beschuldigten, sondern das gesamte soziale und politische Umfeld betroffen sind. Konkret kann das folgendes bedeuten: Die Beschuldigten werden 24 Stunden am Tag von Beamt/innen des BKA observiert. Vor ihrer Haustür werden Videokameras installiert zur Überwachung der Besuche bei den Beschuldigten. An dem PKW werden GPSSender angebracht, mittels derer festgestellt werden kann, wann sich wo das Kraftfahrzeug befunden hat. Die Festnetz- und Mobiltelefone werden abgehört, die Telefonate aufgezeichnet. So wurden beispielsweise im Jahr 2006 – also in dem Jahr, in dem auch das Verfahren gegen Andrej H. u. a. aufgenommen wurde – 18 Ermittlungsverfahren gegen 54 Beschuldigte nach § 129a StGB eingeleitet. Im gleichen Zeitraum wurden in 27 Verfahren6 gegen insgesamt 448 Betroffene Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung angeordnet.7
Weiter wird der Email-Verkehr mitgelesen, die Kontenbewegungen abgefragt und auf „verdächtige Finanztransfers“ untersucht. Auf die Mobiltelefone der Beschuldigten werden so genannte „stille SMS“ versandt, um festzustellen, wo sich die Personen aufhalten und ob sie ihr Handy angeschaltet haben oder nicht. Mitunter kommt es auch zu Anfragen an Unternehmen, wie Reisebüros, die Deutsche Bahn AG oder Autovermieter, ob und wenn ja, welche Dienstleistungen die Verdächtigen bei diesen Firmen in Anspruch genommen haben. Die Palette der möglichen Ermittlungsmaßnahmen ist schier unbegrenzt.
Generelle Vorverlagerung staatlicher Überwachung und Kriminalitätskontrolle
Der §129a StGB ist aber nur ein Beispiel für eine Vorverlagerung der staatlichen Verhaltenskontrolle. So ist es im Strafrecht zu weit gehenden Verschiebungen gekommen, die neben dem politischen Strafrecht auch das Wirtschafts- und Umweltstrafrecht betreffen. Vor allem die abstrakten Gefährdungsdelikte – also solche, die nicht den Eintritt einer konkreten Gefahr voraussetzen, sondern ein bloßes Tun ausreichen lassen, das als generell geeignet für die Verursachung einer Gefahr angesehen wird – nahmen rasant zu. Beispielhaft steht dafür das versammlungsrechtliche Vermummungs- und Schutzwaffenverbot, das alleine dem Zweck dient, eventuelle Identitätsfeststellungen und andere polizeiliche Maßnahmen zu verhindern bzw. zu erschweren. Konkrete Anhaltspunkte, dass es überhaupt zu polizeilichen Maßnahmen kommen könnte – etwa deswegen, weil mit einem gewalttätigen Verlauf der Demonstration und damit auch mit polizeilichen Maßnahmen gerechnet werden muss – sind für die Begründung einer Strafbarkeit nicht erforderlich. Darüber hinaus kam es in den letzten Jahren zu einem massiven Ausbau des strafprozessualen Ermittlungsinstrumentariums (Kleiner und Großer Lauschangriff, DNA-Tests, Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten etc.), das oft – wie am Beispiel der „stillen SMS“ deutlich wird – im Bereich der „Terrorbekämpfung“ auch ohne gesetzliche Grundlage eingesetzt wird.8 telegraph 115 2007 25
Das Strafrecht verliert damit seinen reaktiven Ansatz und gewinnt eine präventive Gestaltungsfunktion. Schon der damalige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann lobte die damals neuen strafprozessualen Mittel der Einrichtung von Kontrollstellen, der erweiterten Identitätsfeststellungsmöglichkeiten etc., die es erlaubten, „terroristische Aktivitäten besser als bisher schon im Vorfeld, im Stadium der Planung“9 zu entdecken – eigentlich eine Aufgabe der polizeilichen Gefahrenabwehr und nicht der Strafverfolgung.
Neben der Ausweitung des strafrechtlichen Zugriffs ist vor allem eine Erweiterung der polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten zu beobachten. Deutlich wird diese Verschiebung in der Erweiterung des polizeilichen Aufgabenbereiches. Die Polizei war zunächst nur zuständig für die Aufklärung von Straftaten und für die Abwehr von Gefahren. Neu hinzugekommen ist die so genannte Straftaten- und Gefahrenvorsorge. Der Polizei ist es nunmehr gestattet, auch unabhängig von konkreten Gefahrenlagen oder begangenen Straftaten Informationen zu erheben und zu verarbeiten, um spätere Gefahren entdecken zu können. Beredtes Beispiel dafür ist die Videoüberwachung, mittels derer Kriminalitätsschwerpunkte und andere „gefährliche Orte“ überwacht werden können, unabhängig von dem konkreten Verhalten der sich an diesem Ort aufhaltenden Personen.
Staatliche Eingriffe werden damit auch im Bereich alltäglicher Situationen und in Bezug auf sozialadäquate Verhaltensweisen legitimiert. Auf diesem Weg entsteht an der Schnittstelle zwischen Straf- und Polizeirecht eine Form proaktiver Prävention, die sich nicht mehr an einem konkreten Individuum orientiert, sondern sich entweder an risikoträchtigen Orten, Strukturen und Lagen ausrichtet oder gleich die Bevölkerungsmitglieder in ihrer Gesamtheit als Risikofaktoren klassifi ziert, wie die geplante verdachtsunabhängige Speicherung der persönlichen Telekommunikationsdaten eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Der Leitgedanke der Prävention als Motor Motor dieser Entwicklung ist die Prävention, der mittlerweile zum zentralen Leitgedanken für Politik und Behörden im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit geworden ist. Sie ist längst nicht mehr nur im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung zu fi nden, sondern bestimmt staatliches Handeln in allen sicherheitsrelevanten Bereichen. Prävention im Sinne von Risikoerkennung und Risikoabwehr bedingt eine weit reichende Vorverlagerung staatlicher Eingriffsbefugnisse. Da es sich bei dem Risiko nur um eine statistische Wahrscheinlichkeit handelt, dass sich eine bestimmte Lage zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Gefahr entwickeln könnte, sind potenziell alle Situationen, Orte und Personen als risikobehaftet zu klassifi zieren. Denn da es nie ausgeschlossen werden kann, dass ein bestimmter Faktor sich – im Zusammenwirken mit anderen Faktoren – zu einem Risiko entwickeln könnte, müssen sämtliche Lebensbereiche in den Blick genommen und kontrolliert werden.
Informationen über etwaige risikoträchtige Situationen, Orte oder Personen müssen gesammelt, zusammengeführt und ausgewertet werden, um dann anhand des so gewonnenen Datenmaterials bestimmen zu können, ob ein Risiko vorliegt, dieses hinnehmbar ist oder eine Reaktion erforderlich macht. Diese Reaktion fi ndet aber nicht erst dann statt, wenn sich die Hinweise soweit verdichtet haben, dass eine konkrete Gefahr vorliegt. Der Gedanke der Prävention 26 telegraph 115 2007 erfordert es, schon viel früher sozialgestalterisch einzuwirken, um Risiken zu verhindern. Die Ermittlungen im Rahmen von § 129a- Verfahren sind dafür eine beredtes Beispiel. Sie setzen im Regelfall nicht an konkreten verdächtigen Handlungen an, sondern an der Einstellung des Betroffenen oder dem Umfeld, in dem er sich bewegt. Können die anfänglichen konstruierten Verdachtsmomente durch monate- oder jahrelange Ermittlungen nicht erhärtet werden, wird daraus nicht der Schluss gezogen, das Verfahren einzustellen, sondern die Ermittlungen weiterzuführen und sogar zu intensivieren, um Restrisiken auszuschalten. Dass der Verdacht zu Unrecht erhoben wurde, kann in dieser Logik keine Rolle spielen.
Fazit
Der § 129a StGB steht paradigmatisch für eine Entgrenzung der staatlichen Sozialkontrolle. Die Weite seines Tatbestandes und seine Funktion als Anknüpfungsnorm für umfangreiche Ermittlungsbefugnisse entsprechen einer Entwicklung im Polizei- und Strafrecht, das sich immer mehr von rechtsstaatlichen Begrenzungen löst und sich zu einem Form der proaktiven Prävention vermischt. Diese Form der polizeilichen Tätigkeit funktioniert zunehmend entpersonalisiert und richtet sich stärker an Orten, Strukturen und Lagen bzw. der Bevölkerung als Personengesamtheit aus, um Ausgangsbasen für Gefährdungen und Straftaten zu ermitteln, deren Struktur und Logistik zu neutralisieren, auszuheben und zu beseitigen, wie es einmal der damalige Chef des LKA NRW, Stümper, formuliert hatte.10 Staatliche Eingriffe sind damit nicht mehr abhängig von einem Verdacht auf eine bevorstehende Gefahr oder auf eine begangene Straftat. Dies führt einerseits zu einer Entgrenzung staatlicher Macht, andererseits zu einer Aufstokkung des Arsenals staatlicher Sicherheitsmaßnahmen. Die ständige Notwendigkeit der Risikoerkennung und Prognose führt zu einem unstillbaren Wissensdurst, in dessen Zuge die Bedeutung der Privatheit wie auch die Möglichkeiten der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Gewalt abnehmen.
1 Siehe Singelnstein/Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert,2. Auflage, Wiesbaden 2008 (im Erscheinen).
2 Moos, Michael, in: …kein Grund zu feiern. 30 Jahre Strafverteidigertag, 2007, S. 95 ff. (97).
3 BGHSt 28, 148
4 Gräßle-Münscher, in: aufruhr – widerstand gegen repression und § 129a, 1991, S. 41 ff.
5 BT-Drucks. 14/2860; zu beachten ist, dass Mehrfachnennungen einer Person innerhalb des Zeitraumes möglich sind; die Tendenz ist aber eindeutig.
6 Bei den 27 Verfahren werden auch die Verfahren mitgezählt, die schon vor 2006 eingeleitet wurden.
7 BT-Drucks. 16/5537.
8 Vgl. dazu Eisenberg/Singelnstein, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, S. 62 ff.
9 Rebmann, Deutsche Richterzeitung 1979, S. 363 (365).
10 Stümper, Kriminalistik 1980, S. 242 (243).
Peer Stolle ist Rechtsanwalt in Berlin und ist beteiligt an der Verteidigung von Andrej Holm.
Mitherausgeber des Buches „Die Sicherheitsgesellschaft“.
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