von Jochen Knoblauch
aus telegraph #115
Totgesagte leben länger! Dies gilt nicht nur für die Printausgabe des telegraph, sondern auch für das Buch selbst. Die Cyborgs, jene verlassenen Kinder, die statt mit einem Pippi-Langstrumpf-Buch mit einem Game-Boy ihre Kindheit totschlagen mussten, denen die Handys an die Ohren gewachsen sind, die nicht nur ohne Routenplaner orientierungslos sind. Derartige Zombies machen sich auf, bewaffnet mit Tastaturen und einer großmäuligen Anonymität, nach dem Untergang der Bücher lechzend. Sie können sich noch so sehr hinter ihren Wikis verstecken, dieses Nonplusultra der X-beliebigkeit! Nein, was ist denn ein Anarcho-Wiki, gegen ein Kochrezepte-Wiki, ein Porno-Wiki, ein Stadt- und ein Audi100-Wiki? Nix! Ein weiterer Regentropfen im Meer der Beliebigkeiten. Schon die Tatsache sich gefühllos Vernetzen zu wollen, beinhaltet sich in Gefangenschaft zu begeben. Selten befreit sich jemand aus einem Netz selbst, das wussten schon die Menschenfischer des Sees Genezareth, allen voran der alte Petrus.
Aber genug der Plauderei und Wortverspieltheit.
Wer mit dem Inhalt der Einleitung nicht einverstanden ist, mag es u.U. aber mit den sprachkritischen Ansätzen sein. Zu den interessanten deutschsprachigen Sprachkritikern gehörte zweifelsfrei Fritz Mauthner (1849-1923), einem Freund des Anarchisten Gustav Landauer, den ich in diesem Zusammenhang immer recht hoch geschätzt habe. Daraufhin kaufte ich mir auch das kleine Büchlein: Christine M. Kaiser; Fritz Mauthner. Journalist, Philosoph und Schriftsteller (Verlag Hentrich & Hentrich Teetz und Berlin 2006 / Reihe: Jüdische Miniaturen Bd. 56 / Abb. / 64 S. / 5,90 Euro). Nun, wenngleich ein Teil seiner philosophischen Ansätze, und vor allem seine Sprachkritik, auch heute noch diskutierbar ist, so war mir doch sein nationales Geplänkel mit dem Wilhelminismus (selbst wenn darauf viele Juden und/oder Intellektuelle reingefallen sind) etwas zuwider. So hat sich doch die kleine, unterhaltsame Lektüre gelohnt. Und wenn ich das nächste Mal in seinem 4bändigen Werk „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland“ blättere, wird wohl der kleine Nachgeschmack der halsstarrigen Gefühlsverwirrung des Autors mit dabei sein.
Nun, aber als ich dieses Mauthner-Bändchen beim Besuch der Synagoge in der Oranienburger Straße erwarb, bemerkte ich in der selben Reihe auch das Büchlein: Elvira Grözinger; Heinrich Heine. Deutscher Dichter, streitbarer Publizist, politischer Emigrant. (Verlag Hentrich & Hentrich Teetz und Berlin 2006 / Reihe: Jüdische Miniaturen Bd. 36 / Abb. / 64 S. / 5,90 Euro). Mein geliebter Heine. Und endlich mal ein Text, der das Jüdische, und damit das Ambivalente in Heines Leben etwas mehr in den Vordergrund stellt. Sicher, die Heine-Literatur ist reichlich (& unüberschaubar), aber für eine Leserschaft, der ein Wikipedia-Artikel zu wenig und eine jener 400-Seiten-Biographien zu viel ist, ist mit diesem Bändchen bestens bedient.
Nun zu einem anderen Sprachartisten, einem Berserker des Wortes: Johann Most (1846-1906). Und wie es eben Jahrestage so an sich haben sollten – wenngleich im Jahre 2006 kaum was davon zu spüren war – so kam doch verspätet 2007 (obwohl hier andere Erscheinungsjahre angegeben sind) eine „volle Kanne Most“ auf uns zu.
Der unermüdliche Heiner Becker zeichnete als Herausgeber, Bearbeiter usw. gleich für zwei Bände verantwortlich: Johann Most; Die Freie Gesellschaft. Unrast-Verlag Münster 2006 / Reihe: Klassiker der Sozialrevolte Bd. 13 / 263 S. / 14 Euro) und Johann Most; Anarchismus in der Nußschale (Unrast-Verlag Münster 2006 / Reihe: Klassiker der Sozialrevolte Bd. 14 / 245 S. / 15 Euro). Während „Die Freie Gesellschaft“ die Agitationsbroschüren versammelt, wie etwa: „Die Eigentumsbestie“, „Die „Gottespest“ usw. präsentiert der Band „Anarchismus in der Nußschale“ das Most’sche Spätwerk, Artikel, die bisher zu keiner Zeit so detailliert und umfangreich seine Arbeit für einer der erfolgreichsten anarchistischen Zeitungen, die „Freiheit“, dokumentierten. Um das Bild des „Dynamitapostel“ noch zu vervollständigen, gibt es noch ein Doppelheft der IWK (41. Jahrg., März 2005, Heft 1-2, Hg. von Heiner Becker und Andreas Graf): Johann Most – ein unterschätzter Sozialdemokrat? (308 S. / Abb. / 20,45 Euro. Für Studies, Asubis und Arbeitslose 15,34 Euro, näheres dazu bitte unter: www.iwk-online.de). Dieser etwas unspannend klingende Titel spiegelt aber genau das wider, was am Anarchisten Most so wichtig und spannend ist, nämlich sein Werdegang vom Sozialdemokrat und Reichstagsabgeordneten zum gnadenlosen Propagandisten des kommunistischen Anarchismus. Für alle, die tiefer in die Materie eintauchen wollen, ein Hort zahlreicher Informationen.
Jetzt ein bisschen Eigenwerbung. Frisch aus der Druckerei: Sébastien Faure; Die anarchistische Synthese und andere Texte. (Hg., bearbeitet und mit Annotationen versehen von J. Knoblauch / Verlag Edition AV Lich 2007 / 70 S. /9,80 Euro). Dieser Band versammelt drei Texte des französischen Anarchisten, die z.T. 80 bis 100 Jahre alt sind, aber dennoch nix von ihrer Aktualität, bzw. noch schlimmer: von ihrer Notwendigkeit, eingebüßt haben. Ob nun über unser Selbstverständnis in „Die Anarchisten“, oder die Emanzipationsfeindlichkeit der Religionen in „Die Verbrechen Gottes“ bis hin zu den selbstzerstörerischen Grabenkämpfen der AnarchistInnen untereinander, denen oft der Sinn für das gemeinsame Ziel zweitrangig erscheinen lässt. Ich fand es spannend mich mit dieser Person und seinen Texten auseinanderzusetzen.
Und schon habe ich mich hier wieder verplauscht. So werden einige Bücher wohl für die nächste Ausgabe liegen bleiben, zumal es ja den Anschein hat, dass der telegraph nun wieder regelmäßig erscheinen wird. Im Oktober war auch wieder Buchmesse und somit werden sich weitere Neuerscheinungen anhäufen. Wer soll das bloß alles lesen, selbst bei dem Scheißwetter, welches unsere, Nerven strapaziert. Nichtsdestotrotz: Jede Theorie ist nur so gut wie es die Praxis beweisen kann. In diesem Sinne wünsche ich Euch einen schönen Herbst.
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