von Malte Daniljuk
aus telegraph #118/119
Am 2. Februar 2009 jährte sich zum zehnten Mal der Amtsantritt von Hugo Chávez. Seitdem wurden 14 Wahlgänge abgehalten, bei denen Chávez und seine Unterstützer regelmäßig gewannen – nicht zuletzt weil die Regierung nicht nur eine sozialistische Symbolik verwendet, sondern auch eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik umsetzte. Mit den beiden aktuellen Abstimmungserfolgen bei den Regionalwahlen im November 2008 und dem Referendum über die Wiederwählbarkeit von Amtsträgern im Februar 2009 bekommt das sozialistische Projekt neuen Schwung. Doch die Marktwirtschaft und die traditionellen Verwaltungen setzen dem Transformationsprojekt deutliche Grenzen und das Oppositionslager besinnt sich langsam auf die parlamentarischen Spielregeln zurück und kann punktuelle Gewinne verzeichnen.
Stabilisierung der PSUV
Die vorläufig letzte Wahl waren die Kommunal- und Regionalwahlen im November 2008. Wie immer in den letzten 10 Jahren spielte sich eine beispiellose Wahlschlacht ab. Mehr als 100 Parteien gruppierten sich in drei größere politische Blöcke: Die neu gegründete Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) und ihre Unterstützer, die Opposition, die von Sozialdemokratie bis hin zu Rechtsradikalen ein heterogenes Spektrum umfasst, sowie andere linke Gruppierungen und ehemalige Chavisten, die als Unterstützer des bolivarischen Prozesses lokal teilweise eigene Listen aufstellten, weil sie nicht mit den Kandidaten der PSUV einverstanden waren. Mit einer Neuverteilung von 23 Gouverneursposten und 327 Bürgermeisterämtern bot dieser Wahlgang erstmals die Möglichkeit die organisatorische Fähigkeit und die politische Verankerung der neu gegründeten PSUV zu überprüfen. Dabei waren die Erwartungen auf Seiten des Chavismus keinesfalls hoch, denn beim letzten derartigen Wahlgang im November 2004 war die rechte Opposition nach einer Reihe von Niederlagen praktisch am Boden zerstört und so konnten Parteien des Regierungsbündnisses damals im gesamten Land beispiellose Erfolge für sich verbuchen.
Unter den 17 Staaten, in denen schließlich die Kandidaten der sozialistischen Partei gewannen, befinden sich mehrere Staaten, in denen vorher Gouverneure von Podemos oder andere regierten, die 2004 als Chávez-Unterstützer an die Macht gekommen und später in die Opposition gegangen bzw. aus der PSUV ausgeschlossen worden waren. Andererseits verlor die bolivarische Bewegung drei Bundesstaaten und die Hauptstadt Caracas an die Opposition. Relativ deutlich fiel die Niederlage in Caracas und dem angrenzenden Bundesstaat Miranda aus, während die Opposition in Carabobo und Táchira nur so knapp gewann, dass die Ergebnisse angefochten werden. In den beiden schon früher von der Opposition regierten Bundesstaaten Zulia und Nueva Esparta konnte sich die Opposition hingegen klar gegen linke Kandidaten behaupten.
Deutlich besser gestalteten sich die Ergebnisse für die PSUV bei den Bürgermeisterwahlen. Hier gewann die Vereinte Sozialistische Partei vierzig Bürgermeisterämter dazu und regiert nun in mindestens 265 Städten, während die Opposition einige Städte verlor und nur noch 62 Gemeinden kontrolliert. Interessant ist, dass die PSUV dabei auch in 80 Prozent der 100 meist bevölkerten Bezirke siegte. Dies spricht gegen die im Anschluss an den Wahlgang häufig geäußerte These, die Opposition gewinne zuerst die Ballungsgebiete zurück und diese Wahl leite damit die langfristige Niederlage des Chavismus ein. Vielmehr weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die neue sozialistische Partei sich vor allem auf lokaler Ebene erfolgreich verankern konnte, während sie bei den Kandidaturen für die Gouverneursposten in einigen Bundesstaaten Schwierigkeiten hatte, sich auf geeignete Kandidaten zu einigen.
Deutlich abgestraft wurde die Politik der PSUV in nur einem einzigen Bundesstaat. In Miranda hatte sich der ehemalige Militär und langjährige Chávez-Getreue Diosdado Cabello für eine zweite Amtszeit aufstellen lassen. Politisch gilt Cabello als Vertreter des rechten Flügels der Partei, ihm wurden aus den sozialen Bewegungen und innerhalb der Partei wiederholt eine zu große Nähe zum privaten Unternehmertum, Ineffizienz und teilweise sogar Korruption vorgeworfen. Damit stellt Miranda eines der wenigen Beispiele, in denen sich ein an der Basis umstrittener Kandidat schon bei den internen Vorwahlen deutlich durchsetzen konnte. Chávez hatte diese demokratische Art der Kandidatenaufstellung eingeführt, um die Basisorganisationen zu stärken und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit eigenen Kandidaten gegen die alten Apparatschiks aus der Vorgängerorganisation MVR durchzusetzen. Gegen eine lokale Klientelwirtschaft, bei der ein Parteifürst sich die notwendigen internen Mehrheiten mehr oder weniger demokratisch organisiert, half dieses System aber nicht in allen Fällen.
Ein weiteres klares Signal betrifft die von der PSUV unabhängigen linken Parteien. Sie gewannen keinen einzigen Gouverneursposten und nur wenige Bürgermeisterämter. In nur einem einzigen Bundesstaat (Barinas) konnte ein unabhängiger Kandidat überhaupt auf den zweiten Platz nach der PSUV kommen. Damit bestätigt sich die Einschätzung, dass es mittelfristig keinen Platz für ein parlamentarisches Projekt der Linken außerhalb der PSUV gibt. Komplett von der parlamentarischen Landkarte verschwunden ist in diesem Zusammenhang die sozialdemokratische Partei Podemos.
Erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik
Die scheinbar beliebig wiederholbaren Wahlerfolge von Präsident Hugo Chávez und seinen Unterstützern werden von bürgerlichen Beobachtern gerne als irrationales Wahlverhalten einer politisch unmündigen Bevölkerung dargestellt. Obwohl die Wirtschaftsredaktionen der privaten Medien seit mindestens acht Jahren den kurz bevorstehenden Zusammenbruch der venezolanischen Wirtschaft voraussagen, erwies sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre als außerordentlich erfolgreich und konnte besonders für die unteren Schichten der Bevölkerung spürbare Verbesserungen in den Lebensbedingungen erreichen.
Seit dem lateinamerikanischen Krisenjahr 2002/2003 hat sich die Größe der venezolanischen Wirtschaft annähernd verdoppelt, wobei der private Sektor schneller wuchs als der Öffentliche. Auch wenn die wesentlichen Zuwächse indirekt auf die gestiegenen Einnahmen aus den Ölexporten zurückzuführen sein dürften, wuchsen die anderen Wirtschaftsbereiche noch schneller als der Öl-Sektor, stellte das Center for Economic and Policy Research fest. Wie die Venezolanische Zentralbank (BCV) zum Jahreswechsel bekannt gab, lag das Wirtschaftswachstum im Jahr 2008 bei etwa 5 Prozent. Damit kann die venezolanische Wirtschaft inzwischen das 20. Quartal mit durchgehendem Wachstum seit dem Jahr 2003 vorweisen. Der sozialistischen Regierung ist das gelungen, was die Wirtschaftsexperten der OECD-Länder sich gegenwärtig wünschen, wenn sie über Konjunkturprogramme reden.
Im Unterschied zu vielen Nachbarländern nutzte die venezolanische Regierung den Wirtschaftsaufschwung auch zu Investitionen in eine gerechtere Arbeits- und Sozialpolitik. So konnte der Gini-Koeffizient, mit dem die Ungleichheit der Verteilung von Reichtum in einer Gesellschaft gemessen wird, in den letzten 10 Jahren deutlich gesenkt werden. Mit gegenwärtig 0,41 Punkten erreicht das Land nicht nur den besten Stand in seiner eigenen Geschichte sondern auch den niedrigsten Wert in Lateinamerika. Die Armut in Venezuela ist zwar deutlich gesenkt, aber bei weitem nicht überwunden: Für das vergangene Jahr errechnete das Nationale Statistische Institut (INE) den Prozentsatz der in Armut lebenden Bevölkerung mit 33,4 Prozent, von denen noch 9,5 Prozent in extremer Armut leben. Ende der 1990er Jahre lag die Armut bei 50,5 Prozent und 42 Prozent waren von extremer Armut betroffen.
Neben den Sozialprogrammen steigen die unteren Einkommen auch durch eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik. Mit der neuen Arbeitsgesetzgebung erschwerte die Regierung Entlassungen und führte Mindestlöhne ein, die regelmäßig an die Inflation angepasst werden. Da die Renten ebenfalls an die Mindestlöhne gekoppelt sind, wuchsen gerade die untersten Einkommen deutlich. Gleichzeitig wurden breite Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme hauptsächlich für den öffentlichen Sektor aufgelegt. Nach Angaben des INE ist die Arbeitslosenrate gegenwärtig mit 6 Prozent die niedrigste in den vergangenen 10 Jahren, wobei sich auch die Qualität der Beschäftigung deutlich verbessert hat: So ist die Zahl der formell Beschäftigten seit 1999 um etwa 10 Prozent gestiegen.
Zum Beispiel Landwirtschaft – Probleme mit dem (Welt-) Markt
Mit der Unterstützung neuer, demokratischer Unternehmensformen hat sich in wenigen Jahren eine gemischte Wirtschaftsstruktur durchgesetzt, in der private, genossenschaftliche, kommunale und staatliche Formen von Eigentum nebeneinander existieren. Ein zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik war eine Diversifizierung der auf Erdöl ausgerichteten venezolanischen Wirtschaftsstrukturen, wobei neben den öffentlichen Dienstleistungen die beiden Sektoren Landwirtschaft und Technologieentwicklung die Schwerpunkte der Wirtschaftsförderung stellen.
Als eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele benannte die Regierung die Erlangung der Nahrungsmittelsouveränität, mit der die zunehmend teureren Lebensmittelimporte ersetzt werden sollen. Mit etwa 35 „Sozialistischen Produktionseinheiten“ ist ein wesentlicher Teil der neu gegründeten Betriebe mittlerer Größe im Bereich der Landwirtschaft bzw. der Lebensmittelproduktion angesiedelt. Beim Anbau und der Verarbeitung von Grundnahrungsmitteln, in der Pflanzenproduktion, der Viehzucht und der Milchverarbeitung konnte die venezolanische Wirtschaft deutliche Zugewinne erreichen. Dieser Produktionszuwachs schlägt sich jedoch bisher nicht wie erwartet in einer besseren Versorgungslage und in sinkenden Preisen nieder.
Gründe dafür dürften einerseits die durch die positive Einkommensentwicklung gestiegene Nachfrage gerade auch der unteren Einkommensschichten sein. Alleine zwischen 2004 und 2006 hat sich das Einkommen der Armen in Venezuela inflationsbereinigt mehr als verdoppelt. Gleichzeitig sanken die Lebenshaltungskosten durch neu geschaffene kostenlose Programme zur Gesundheitsversorgung und Bildung, so dass die Kaufkraft und damit die Nachfrage nach Lebensmitteln deutlich schneller stieg als die Produktionskapazitäten.
Zweitens schöpft die Privatwirtschaft durch andauernde Erhöhungen der Verbraucherpreise die Einkommenszuwächse wieder ab. So sind die Preise für nicht preisgebundene Lebensmittel nach Angaben des Instituts Datanálisis in den letzten 5 Jahren um 355 Prozent gestiegen. Damit entwickeln sich die steigenden Lebenshaltungskosten zu einem zentralen Problem der venezolanischen Haushalte. Ein dritter Faktor ist offensichtlich, dass private Unternehmen die staatlich festgesetzte Preisbindung für Grundnahrungsmittel umgehen, indem sie Lebensmittel horten, bzw. versuchen sie illegal ins benachbarte Ausland zu verkaufen. Diese Praxis der künstlichen Verknappung folgt teilweise auch politischen Logiken. So entstanden in der Vergangenheit bestimmte Versorgungslücken etwa bei Kaffee oder Milchprodukten regelmäßig wenige Wochen vor politisch wichtigen Abstimmungen und Wahlen.
Das zentrale Strukturproblem der venezolanischen Wirtschaft bleibt die außerordentlich hohe Inflationsrate. Sie ist eine wesentliche Ursache für die hohen Teuerungsraten. Weil auf dem Weltmarkt große Mengen des wichtigsten Exportgutes Erdöl für Dollar verkauft und der milliardenschwere Erlös in die einheimische Währung zurückgerubelt werden muss, befindet sich diese in einem permanenten Abwertungsdruck. Dieses Problem bekam auch keine der neoliberalen Vorgängerregierungen in den Griff. Im Gegenteil: Während der 1990er Jahre erreichte die Inflationsrate bis zu 94 Prozent. Die Regierung versucht diesen Problemen mit einer stärkeren wirtschaftlichen Regulierung zu begegnen. Die wichtigste Maßnahme war die Festlegung der Wechselkurse und die Beschränkung des Umtausches. Diese für Bevölkerung wie Unternehmen äußerst lästige Maßnahme begrenzt die Kapitalflucht und die Möglichkeit spekulativer Angriffe auf die Landeswährung durch die internationale Finanzwelt. Trotzdem nahm die venezolanische Inflationsrate im letzten Jahr mit 30,9 Prozent wieder einen lateinamerikanischen Spitzenwert ein.
Als zweite Maßnahme führte die Regierung eine Obergrenze für Preise in bestimmten Produktkategorien ein. Damit beschränkte sie Preistreiberei durch den privaten Handel und auch die Inflation. Die dadurch entstandene Schere zu den andauernd steigenden Weltmarktpreisen, insbesondere für Grundnahrungsmittel, stellt jedoch (nicht nur) für das private Unternehmertum einen enormen Anreiz dar, die Produkte illegal zu exportieren. Eine Antwort der Regierung bestand in einer deutliche Anhebung der festgesetzten Preise für landwirtschaftliche Produkte zuletzt im Mai 2008. Seit 2008 existiert außerdem mit dem Instituto para la Defensa de las Personas en el Acceso a Bienes y Servicios (Indepabis) ein neues Institut für Verbraucherschutz, das in Sachen Wirtschaftsbetrug ermitteln kann. Das Indepabis überprüft die Einhaltung der Preis-, Herstellungs- und Exportrichtlinien und kann schwere Sanktionen bis hin zu Betriebsschließungen verhängen. Insbesondere in Fällen von politisch motivierter Verknappung erwies sich diese Neugründung als sehr effektiv, regelmäßig finden und beschlagnahmen die Mitarbeiter des Institutes große Mengen von Lebensmitteln, an denen angeblich Knappheit besteht.
Mit Hilfe dieser Maßnahmen hat sich die Versorgungssituation im Laufe des Jahres 2008 deutlich verbessert, wie selbst bürgerliche Zeitungen einräumen mussten. Das zentrale Problem bleibt jedoch die deutlich zu hohe Inflationsrate. Diese lässt sich nach Einschätzung von Experten langfristig nur mit einer weiteren Senkung der Importe erreichen. Vorraussetzung für eine solche Importsubstitution ist allerdings eine schnellere Entwicklung und Diversifizierung der Binnenproduktion.
Lateinamerikanische Integration
Eine zweite, ebenfalls wirtschaftspolitisch relavante Dimension, besteht in einer Beschleunigung der lateinamerikanischen Integration. Hier war Venezuela eindeutig die Kraft, die die anderen Länder des Subkontinents vor sich her trieb. Inzwischen ist die politische Landkarte des Kontinents grundsätzlich neu geordnet.
Ausgangspunkt und bis heute Kern der venezolanischen Außenpolitik ist mit ALBA ein Staatenbündnis, das neben der wirtschaftlichen vor allem einen sozialen und kulturellen Austausch zwischen den Mitgliedsländern anstrebt. Seit seiner Gründung als bilateraler Vertrag zwischen Kuba und Venezuela im Jahr 2004 traten dem Bündnis mit Bolivien, Honduras, Nicaragua und Dominica weitere vier Staaten der Region bei, andere wie etwa Ecuador haben einen Beobachterstatus.
Die Grundidee besteht in einem wirtschaftlichen Austausch, in den jede der beteiligten Volkswirtschaften ihre Stärken einbringt. So bieten Bolivien und Venezuela den anderen Ländern Erdgas und Erdöl an, während Kuba Ärzte und Lehrer für Bildungs- und Gesundheitsprogramme zur Verfügung stellt. Ein weiterer Kernbereich ist der Austausch von Technikern für die verschiedenen Bereiche der Industrie- und Technologieentwicklung. Alle Leistungen werden mit einem internen Währungssystem verrechnet. Als nach den bilateralen Freihandelsabkommen der USA mit Kolumbien und Peru den bolivanischen Bauern ihre traditionellen Absatzmärkte wegbrachen, sprangen die ALBA-Länder ein und garantierten mit einer sicheren Abnahme das Überleben eines wichtigen Bereichs der bolivianischen Landwirtschaft. Inzwischen planen die ALBA-Staaten auch eine eigene Entwicklungsbank.
Parallel zum Aufbau des ALBA erreichte Venezuela eine Reihe von multilateralen Verträgen in den drei Entwicklungsregionen Mittelamerika und Karibik, dem Andenraum und südliches Südamerika. Ihr Schwerpunkt sind mit PetroCaribe und PetroSur vor allem Kooperationen im Energiebereich. Mit TeleSur existiert inzwischen ein multinationaler Nachrichtenkanal und das Projekt Banco del Sur besteht in der Gründung einer eigenen Entwicklungsbank für den Subkontinent. Darüberhinaus entstanden in den letzten Jahren unzählige bilaterale Verträge. So sicherte Venezuela dem argentinischen Staat die Zahlungsfähigkeit, indem die Regierung für mehr als 5 Milliarden US-Dollar argentinische Staatsbonds kaufte.
Der wirtschaftliche Nebeneffekt all dieser Kooperationen für Venezuela ist, dass das Land inzwischen über beträchtliche Werte im Ausland verfügt. Im Januar 2009 erreichten die internationalen Reserven mit fast 42 Milliarden US-Dollar einen vorläufigen Spitzenwert. Im selben Zeitraum zahlte das Land selber alle Schulden bei internationalen Gläubigern, etwa bei IWF und Weltbank, zurück und senkte die Quote der öffentlichen Verschuldung im Inland mit 14,4 Prozent des BiP auf einen der niedrigsten Werte weltweit.
Alle diese Unternehmungen können als Vorläufer bzw. Türöffner für das eigentlich zentrale Projekt der lateinamerikanischen Integration betrachtet werden: Im Mai 2008 gründete sich die neue Staatengemeinschaft UNASUR. Die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) ist nach der Europäischen Union und der Nordamerikanischen Freihandelszone das drittgrößte Regionalbündnis der Welt. Der UNASUR gehören Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ecuador, Guayana, Paraguay, Peru Surinam, Uruguay und Venezuela an. Neben der wirtschaftlichen Integration wird das Bündnis mittelfristig eine gemeinsame Währungs-, Außen- und Sicherheitspolitik etablieren. Störmanöver kommen bisher nur von Peru und Kolumbien, die sich als letzte konservativ regierte Staaten der Region eher um exklusive Beziehungen zu den USA und der Europäischen Union bemühen.
Renaissance des Parlamentarismus bei der Opposition
Angesichts dieser Bilanzen hat es jede Opposition in Venezuela schwer. Dementsprechend konzentriert sich ihre Kritik in der Vorwahlzeit auf „weiche Faktoren“ wie etwa den Politikstil von Hugo Chávez oder die ineffektive öffentliche Verwaltung. Dabei setzen die Oppositionsparteien seit den Präsidentschaftswahlen 2006 stärker auf einen integrativen staatsbürgerlichen Diskurs und übernehmen Teile der sozialen Programmatik der Regierung. Sie versuchen inzwischen, von einzelnen Ausrutschern und Provokationen abgesehen, aggressive Polemiken zu vermeiden und sprechen gezielt das Sicherheitsbedürfnis der Mittelschichten an. Im Mittelpunkt ihrer Argumentation stehen Forderungen nach einer effektiveren Bekämpfung der Kriminalität, wobei sie sich den Ball mit den privaten Medien zuspielen, die in ihrer Berichterstattung systematisch Kriminalitätsfurcht schüren.
Diese Taktik hat sich bei den Regionalwahlen teilweise als erfolgreich erwiesen. Die Opposition regiert nun fünf Bundesstaaten und die Hauptstadt Caracas. Mit Caracas und Miranda einerseits, sowie Zulia und Táchira andererseits handelt es sich dabei um politisch und wirtschaftlich bedeutende sowie geographisch jeweils zusammenhängende Gebiete. Im Gegensatz zur PSUV kann sich das Oppositionslager dabei weitgehend auf die lokale Verwaltungen verlassen, die überwiegend aus alten Beamten bestehen. Obwohl keine der Oppositionsparteien alleine mehr als einen Bundesstaat gewann, zeigte sich in der Vorwahlzeit, dass sie in der Lage sind, politisch gemeinsam zu handeln. So konnten sich die bis dahin völlig zerstrittenen Parteien in 17 Bundesstaaten auf gemeinsame Kandidaten einigen.
Insgesamt lässt sich im Oppositionslager seit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006 eine Tendenz zur Reparlamentarisierung erkennen, in dem Sinne dass eine ernsthafte Beteiligung an Wahlen überhaupt betrieben wird. Bis dahin hatte die Opposition mit dem Putschversuch 2002 und den Aussperrungen während des sogenannten Erdölstreiks 2003 auf Zwangsmaßnahmen gesetzt. Im August 2004 scheiterte die Opposition mit ihrem Abwahlreferendum gegen Hugo Chávez und im Winter 2005 nahmen sie an den Parlamentswahlen gar nicht erst teil. Dieser parlamentarische Absentismus erklärt sich auch aus der korrupten Tradition der beiden alten, neoliberalen „Volksparteien“ Acción Democratica (Sozialdemokraten) und Copei (Christdemokraten), in deren Politiktradition ein politisches Amt vor allem dem Zweck diente, sich persönlich zu bereichern. So hatten die bürgerlichen Parteien große Schwierigkeiten, Kandidaten für sichere Plätze auf den Oppositionsbänken zu finden, weil sich damit kein „Nebenverdienst“ eröffnete. Inzwischen haben sich mit Un Nuevo Tiempo (UNT) und Primero Justicia auf lokaler Ebene zwei Äquivalente neu etabliert, die sich zumindest dem Namen nach von ihren runtergewirtschafteten Vorgängerparteien absetzen und teilweise auch neue Gesichter vorzeigen können. Gemeinsam mit den beiden alten Parteien und einigen regionalen Oppositionsparteien koordinieren sich die UNT und Primero Justicia eng mit den Besitzern großer privater Medien und politischen Beratern aus dem Ausland.
Das neue staatsbürgerliche Bewusstsein der Opposition bedeutet aber keineswegs, dass ihre Anhänger inzwischen auf Gewalteinsatz verzichten. Unmittelbar nach ihrem Wahlsieg in den Bundesstaaten griffen Anhänger und Funktionäre der verschiedenen rechten Oppositionsparteien Einrichtungen der bolivarischen Bewegung an. Ziel waren insbesondere die Häuser der kommunalen Selbstverwaltung, der Consejos Comunales, und Gebäude, in denen Bildungs- und Sozialprogramme untergebracht sind. Sie verprügelten und bedrohten die Mitarbeiter und brannten mehrere Gebäude nieder. Insgesamt kam es zu mehr als 70 derartiger Übergriffe, bei denen sich vor allem Anhänger von Capriles Radonski in Miranda (Primero Justicia) und Henrique Salas Feo in Carabobo (Proyecto Venezuela), aber auch Anhänger der sozialdemokratischen Un Nuevo Tiempo (UNT) in Zulia hervortaten. Die bolivarische Bewegung antwortete in den folgenden Tagen mit Massendemonstrationen zur Verteidigung der Sozialprogramme.
Unabhängig vom Anlass kann sich die Opposition bei ihren Mobilisierungen auf einen militanten Kern der Studentenbewegung stützen, die kurzfristig zu kleineren Demonstrationen von mehreren hundert bis tausend Personen mobilisiert, Barrikaden baut und Einrichtungen angreift, die sie als „chavistisch“ begreift. Während diese Grüppchen aus der Studentenbewegung an den Universitäten in Caracas nur zu bestimmten Hochzeiten die politischen Kampagnen der Opposition begleiten, findet beispielsweise in Merida ein permanenter Kleinkrieg zwischen Studentengrüppchen und der Polizei statt, bei dem auch schon mehrere Studierende durch „friendly fire“ um Leben kamen bzw. schwer verletzt wurden.
Auch wenn dieses studentische Spektrum, in das sich mit Bandera Roja und El Libertario auch einige linksradikale Sekten mischen, politisch kein großes politisches Gewicht hat, werden deren Aktionen regelmäßig von privaten Fernsehsendern, vor allem von Globovisión, begleitet, die die Reaktion der Polizei auf militante Angriffe als Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch die Regierung anprangern. Damit kommt ihnen zumindest propagandistisch eine Bedeutung zu, die sich bis in europäische Medien niederschlägt, obwohl die Aktivisten teilweise ein beachtliches Waffenpotential auffahren: Neben den üblichen Steinen und Katapulten kommen kistenweise Molotov-Coctails und sogar Schusswaffen zum Einsatz. Interessant aus einer studentischen Perspektive ist außerdem, dass gerade Einrichtungen der neu gegründeten Universidad Bolivariana de Venezuela (UBV), an der mittlerweile über 400.000 Menschen vorwiegend aus den Unterklassen studieren, ein beliebtes Ziel von Angriffen sind. Die UBV ist offensichtlich bei den oft an privaten Universitäten studierenden Oberschichtskindern besonders verhasst.
Ein zweiter Bereich politischer Gewalt, der sich jedoch wesentlich schwerer eingrenzen lässt, sind die zunehmenden Aktivitäten von verdeckt in Venezuela agierenden Paramilitärs. Als besonders gefährdete Regionen werden einige Armenviertel der Hauptstadt Caracas genannt, wo Paramilitärs über den Drogenhandel versuchen Kriminelle zu rekrutieren und zu bewaffnen. Nach Ansicht der Politikwissenschaftlers Dario Azzellini besteht ihre Strategie darin, in breiteren Gesellschaftsschichten Angst und soziale Verunsicherung zu verbreiten, ein Vorgehen das seit vielen Jahren aus Kolumbien bekannt ist. So wurden im letzten Jahr mehrere Gewerkschafter von Unbekannten ermordet, immer wieder kommt es zu Angriffen auf Aktivisten aus den sozialen Bewegungen, der Landlosenbewegung und den unabhängigen Medien. Neben Caracas gelten vor allem die an Kolumbien grenzenden Andenregionen Gebiete wie Táchira und Zulia als besondere Gefahrenzonen. Dass diese beiden Bundesstaaten von oppositionellen Gouverneuren regiert werden, vereinfacht den Kampf gegen diese Strukturen sicher nicht. Zwar wurden im letzten Jahr regelmäßig kleinere Gruppen von kolumbianischen Paramilitärs durch die Bundesbehörden verhaftet, angeblich operieren aber insgesamt neun Fronten der Paramilitärs in Venezuela, von denen mindestens fünf auch in Caracas vertreten sind. In diesem Zusammenhang ermittelt die Bundespolizei auch gegen Angehörige lokaler Polizeibehörden wegen Unterstützung des Paramilitarismus.
Situation der sozialen Bewegungen
Mit der Verfassung von 1999 hat Venezuela die sozialen Bewegungen in einzigartiger Weise politisch privilegiert. Seitdem haben die Vertreter der jeweiligen Organisationen an fast allen neuen Gesetzesvorhaben mitgewirkt. So konnten die Gewerkschafter das Arbeitsrecht, Indigene die Autonomie-Gesetzgebung und Medienaktivisten das neue Medienrecht unmittelbar mitgestalten. Den stärksten Impuls bekamen die sozialen Bewegungen jedoch durch die Umsetzung der Misiones, die verkürzt oft als Sozialprogramme bezeichnet werden, wobei ihr auf Partizipation und Ermächtigung angelegter Charakter leicht vergessen wird. Angeregt durch die Möglichkeiten, die die neuen Gesetze boten, entwickelte sich ab 2002 eine breite Komitee-Bewegung, die besonders in den Armenvierteln die Umsetzung der neuen Politik selbstständig organisierte. Vorreiter und bis heute die stärksten dieser Komitees waren die Comités de Salud und die Comités de Tierra. Auf dieser Basis ist landesweit ein enges Netz von Gesundheitsstationen, Bildungseinrichtungen, Volksküchen, Medienprojekten u.ä. entstanden. Seit 2006 schließen sich die verschiedenen lokalen Komitees zu kommunalen Selbstverwaltungsgremien, den Consejos Comunales, zusammen.
Ein Problem dieser zwischen Bewegungen und Regierung abgestimmten Aktivitäten bleibt das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen dem Parteiapparat der PSUV, vorher der MVR, und den sozialen Bewegungen. So haben sich etwa im Gewerkschaftsbereich mit der Fuerza Bolivariana de Trabajadores (FBT) und im Bereich des alternativen Medienaktivismus mit der Movimiento Social de los Medios Alternativos y Comunitarios (MoMAC) neue Dachverbände gegründet, die sich ausdrücklich als Teil des Apparates verstehen, während ein großer Teil der traditionellen sozialen Bewegungen auf seiner Autonomie gegenüber Staat und Partei besteht.
Das Grundproblem dieser Komitee-Bewegung und der partizipativen Demokratie insgesamt bleibt jedoch, dass es sich nur um eine Möglichkeit zur Mitbestimmung handelt. Deshalb ist das Entwicklungsniveau beispielsweise der Consejos Comunales in den Regionen stark unterschiedlich ausgeprägt. Dort wo es eine starke Tradition der Selbstorganisation gibt und die regulären Stadtverwaltungen mangelhaft oder gar nicht funktionieren, haben sich gut funktionierende Stadtteilräte schnell verbreitet. Inzwischen gibt es insbesondere in ländlichen Regionen auch Ansätze zur überregionalen Vernetzung und zur völligen Unabhängigkeit von traditionellen Verwaltungsstrukturen. In anderen Regionen, da wo die herkömmliche Stadtverwaltung gut funktioniert, besteht an einer Mitbestimmung oder gar einer Selbstverwaltung kein Bedarf. Insbesondere in den Mittel- oder Oberschichtsgegenden mit einem hohen Anteil an formeller Beschäftigung sind diese Gremien kaum vorhanden. Damit haben die Consejos Comunales bisher nur eine ergänzende Funktion zu schlecht funktionierenden Stadtverwaltungen.
Mit dem Vorschlag zu einer Änderung der Verfassung hatte Hugo Chávez bereits in Jahr 2007 eine Privilegierung der kommunalen Selbstverwaltung gegenüber den traditionellen Apparaten der repräsentativen Demokratie angestrebt. Obwohl das Referendum damals knapp scheiterte – auch weil die Art seiner Umsetzung überhaupt nicht partizipativ geraten war – ist die zentrale Perspektive der Regierung weiterhin, mit den „sozialistischen Kommunen“ neue Gebietskörperschaften auf der Basis einer kommunalen Selbstverwaltung aufzubauen. Die Vorstellung ist, dass ein Zusammenschluss einer größeren Anzahl von Consejos Comunales mit eigenen Wirtschaftsstrukturen sich als autonome Regionen etablieren kann.
Auf diesem Weg könnte mittelfristig eine längst überfällige Verwaltungsreform umgesetzt werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, beschäftigte die neue Regierung etwa 1 Million Staatsangestellte weiter. Der Justiz- und Polizeiapparat besteht auch nach 10 Jahren nahezu komplett aus alten Beamten. Die alten Verwaltungen sind nicht nur unglaublich ineffektiv (und korrupt), was einen großen Teil des Unmutes innerhalb der chavistischen Basis verursacht. Auch politisch dürften die meisten der Staatsangestellten den Vorstellungen der neuen Regierung fern stehen. Das Problem mit einer solchen Verwaltungs- und Gebietsreform ist aber, dass die Verfassung von 1999 den sozialen Bewegungen nur ein Recht auf Mitbestimmung zuspricht, nicht aber auf Selbstverwaltung oder gar Autonomie gegenüber den traditionellen Verwaltungen, wie es der Änderungsvorschlag von Hugo Chávez im Jahr 2007 formulierte. Damit fehlt bisher eine legale Perspektive, um derartig weitgehende Formen der Selbstverwaltung auch landesweit zu verankern und langfristig die alten Verwaltungen komplett zu ersetzen.
Weiter Wählen….
Am 15. Februar gewannen die PSUV und ihre Unterstützer mit 54 Prozent das Referendum über eine Änderung der Verfassung. Damit können Hugo Chávez und auch alle anderen gewählten Repräsentanten des Landes beliebig oft wiedergewählt werden. Die Möglichkeit zur unbeschränkten Wiederwahl wurde von den Unterstützern des Präsidenten vor allem mit dem Argument begründet, dass ihre Beschränkung auf einen Pakt innerhalb der Eliten zurückging, in dem sich Sozialdemokraten und Konservative jahrzehntelang turnusgemäß von der Macht ablösten. Dies sei nicht mehr zeitgemäß, stattdessen ist es demokratischer, die Bevölkerung selbst entscheiden zu lassen, ob sie einen Kandidaten wiederwählt, mit dessen bisheriger Amtsführung sie zufrieden ist. Wie auch schon bei den vorherigen Wahlen hat Hugo Chávez die Kampagne für die Wiederwahlmöglichkeit, die direkt den Kommunal- und Regionalwahlen folgte, explizit damit verknüpft, dass er eine Vertiefung des sozialistischen Transformationsprojektes ankündigte. Seit seiner ersten Wahl vor 10 Jahren wurde immer wieder thematisiert, dass die „bolivarianische Revolution“ mehr als zwei Legislaturperioden benötige, um ihre Ziele zu erreichen. Insofern kam das Referendum für niemanden überraschend. Die Ergebnisse des Referendums schrieben im Wesentlichen die Zahlen der Regionalwahlen fort: Bei einer hohen Wahlbeteiligung gewannen die Unterstützer des Präsidenten mit gut 10 Prozent Vorsprung, was etwa eine Million absolute Stimmen ausmacht. Damit hat sich der prozenuale Vorsprung zur Opposition seit Ende 2006 allerdings halbiert.
Das Ergebnis bedeutet vor allem, dass der Präsidentschaftskandidat der PSUV für die nächsten Wahlen im Jahr 2012 bereits feststeht und innerhalb der Partei Reibungsverlusten durch Auseinandersetzungen um die Nachfolge vorgebeugt ist. Es zeigt aber auch, dass eine große Minderheit unter seinen Anhängern die Prinzipien der Verfassung von 1999 höher schätzt als die Führung durch den Präsidenten. Dem Meinungsforschungsinstitut Ivad zufolge hätten bis zu 70 Prozent der Venezolaner Hugo Chávez persönlich gerne wiedergewählt, aber für eine derartige Verfassungsänderung sprachen sich nur knapp über 50 Prozent aus. Fest steht mit dem Ergebnis auch, dass die bolivarianische Revolution weiter ein Projekt bleibt, das stark von einer Person abhängig ist.
Um den Vorsprung vor der Opposition wieder auszubauen, muss die venezolanische Regierung vor allem die verbliebenen Missstände in der Verwaltung des Landes beseitigen können. Dass die Regierungspartei seit Dezember 2008 fast alle Stadtverwaltungen regiert, schafft organisatorisch eine Grundlage für die Umsetzung der „sozialistischen Gemeinden“. Hugo Chávez hatte bereits während des Wahlkampfes in den Regionalwahlen alle Bürgermeisterkandidaten darauf eingeschworen, dass sie sich in ihren Funktionen vor allem als Facilitadores, als Unterstützer der sozialen Bewegungen zu verstehen hätten und weniger als Regierungsverantwortliche, denn regieren solle in Venezuela das Volk selber. In diesem Zusammenhang ist eine Verwaltungsreform und eine effektivere Korruptionsbekämpfung lange überfällig. Ohne eine grundlegende Erneuerung des Polizei- und Justizapparates wird dies jedoch nicht möglich sein.
Insbesondere in den Bundesstaaten, in denen die Opposition gewonnen hat, werden die sozialen Bewegungen ihre Errungenschaften verteidigen müssen. Die oppositionellen Gouverneure und Bürgermeister entließen als erste Maßnahme tausende von regierungstreuen Angestellten und versuchten die Kontrolle über die Projekte der sozialen Organisationen zu übernehmen. Die Opposition wird in den von ihr regierten Bundesstaaten versuchen den Nachweis zu erbringen, dass sie besser in der Lage ist, die Probleme mit Müll und/oder Kriminalität zu bewältigen. Dafür haben sie zwar die alten Beamten im Rücken und die Unterstützung der privaten Medien. Angesichts der tief verwurzelten Korruption im bürgerlichen Lager sind aber Zweifel angebracht, ob ihnen das gelingen wird. Insgesamt wird die Opposition weiter auf eine Mischung aus parlamentarischer Stabilisierung und außerparlamentarischer Destabilisierung setzen, wobei sie sich verdeckt auch weiter „schmutziger“ Praktiken bedienen wird. Aber auch gegenüber einigen Gouverneuren der PSUV ist Skepsis sinnvoll. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Gouverneure der Regierungspartei, wie u.a. in Miranda geschehen, dem Unternehmerverband näher stehen als der organisierten Bevölkerung. Insofern wird weiterhin ein großer Teil der sozialen Bewegungen auf seiner Autonomie bestehen.
Die Regierung muss in den nächsten Jahren eine schnellere Entwicklung und Diversifizierung der Inlandproduktion erreichen. Unmittelbar nach dem Sieg im Referendum wurde ein neuer Anlauf unternommen, um die private Lebensmittelherstellung stärker zu regulieren, bzw. die existierenden Gesetze wirkungsvoller durchzusetzen. So besetzte das Militär mehrere Reis verarbeitende Anlagen, u.a. vom größten venezolanischen Lebensmittelkonzern Polar, um zu verhindern, dass die Produktionsbestimmungen unterlaufen werden. Es zeichnet sich ab, dass die Landwirtschaft eines der zentralen Felder in der Auseinandersetzung um eine neue sozialistische Produktionsform wird. Aber die bisherigen Experimente mit Genossenschaften und neuen Formen des sozialen Eigentums sind nicht ausreichend ausgewertet, um ein tragfähiges Wirtschaftskonzept zu bilden. Perspektivisch müssen die neuen, sozialistischen Unternehmen in der Lage sein, die staatlichen Konjunkturprogramme mindestens genauso effektiv umzusetzen, wie es bisher nur die privaten Unternehmen schaffen. Gleichzeitig müssen sie aber demokratischer strukturiert sein. Bis dahin wird der private Sektor weiter an öffentlichen Geldern wachsen.
Bedingt durch die internationale Finanzkrise und die gesenkten Preise für Erdöl werden diese öffentlichen Gelder bis auf weiteres knapper ausfallen. Auch wenn die meisten Beobachter davon ausgehen, dass der Ölpreis mittelfristig wieder auf über 60 USD das Barrel steigt, dem venezolanischen Staat stehen Einsparungen bevor. Hugo Chávez hat bereits angekündigt, dass diese nicht die sozialen Investitionen in Bildung, Arbeit, Gesundheit u.a. betreffen werden.
Malte Daniljuk ist freier Journalist und arbeitet in Projekten zu Venezuela und Mexiko.
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