1968, die komandosi und die Arbeiterselbstverwaltung in Polen

Gespräch mit Karol Modzelewski
aus telegraph #118/119

Sie werden für einen der „geistigen Väter“ der Polnischen März-Unruhen im März 1968 gehalten. Die Veröffentlichung des Offenen Briefs an die Partei, den Sie gemeinsam mit Jacek Kuroń verfassten, initiierte einen Ereigniszyklus, der seinen Höhepunkt in den Studentendemonstrationen fand. Was waren die Ziele der Studentenproteste im März 1968? Worin bestand die Verbindung dieser Bewegung zu den Forderungen des Offenen Briefs?

Es waren andere Ziele, die wir uns mit Jacek Kuroń beim Verfassen des Offenen Briefes an die Partei stellten, als die, welche anschließend von der Studentenbewegung im Jahre 1968 gestellt wurden. Es triff zu, dass sowohl ich als auch Jacek Kuroń zu Hauptangeklagten wurden, da die Staatsanwaltschaft uns diesen Vorwurf machte.

Man muss aber daran erinnern, dass wir bereits am ersten Tag der Proteste verhaftet wurden. Wir waren beide eine Art geistige Anstifter für einen relativ kleinen Kreis der Jugendlichen. Diese war aber für die Ereignisse an der Warschauer Universität ursächlich gewesen. Jedoch wurden aber fast alle von diesen Initiatoren ebenfalls in den folgenden Tagen verhaftet, viele von ihnen sogar am ersten Tag. In einer solchen Situation schufen sich die Ereignisse ihren eigenen Weg. Deren eigentliche Urheber, das war das Kollektiv, die Studentengemeinschaften.

Die Märzbewegung umfasste breite Massen der Universitätsintelligenz, die Intelektuellen, Vertreter der Kultur, sowie eine ganze Generation der Studentenjugend. Geleitet wurde sie von Anführern, die sich im Laufe der Ereignisse herausbildeten, die jeweiligen Komitees der Fakultätsvertreter an den Hochschulen. Die Mitglieder dieser Komitees wurden sukzessiv verhaftet, aber an deren Stelle gründeten sich sofort neue. Es scheint demnach, dass die Frage danach, was ich damals im Kopf hatte, etwas anderes ist als die Frage danach, was all die jungen Leute die aufbegehrten in ihren Köpfen hatten. Und sie lehnten sich gegen ganz konkrete Dinge auf.

Ich habe es damals ja selbst so gesehen und stimmte mit ihnen überein. Wir müssen uns hier daran erinnern, dass dies ein Protest im Namen der Verteidigung ganz konkreter Errungenschaften, nach dem Tauwetter des Oktober 1956, war. In der Zeit einer Abkehr vom Oktober, die bereits Anfang der sechziger Jahre begann, wurden viele dieser Errungenschaften abgeschafft. Es gelang jedoch manche Nischen und Inseln der Freiheit zu bewahren. Insbesondere betraf dies die Wort- und Redefreiheit im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung und der Universitätsdidaktik. Diese wurden durch das Hochschulgesetz aus dem Jahre 1958 garantiert.

Es war wohl das einzige Gesetz im gesamten kommunistischen Block, welches den Hochschulgemeinschaften Selbstverwaltung garantierte. Selbstverwaltung, das bedeutete, die Wahl der Rektoren durch die Professoren, die Wahl der Dekane durch den Fakultätsrat, das Verbot des Rauswurfs von Studenten von den Universitäten aus politischen Gründen ohne eine Stellungnahme der Disziplinar-Kommission. Diese Kommission war ein Gericht, welches aus den Mitarbeitern der Universität bestand. Es tagte öffentlich und unter Teilnahme von Verteidigern aus den Reihen der universitären Mitarbeiter.

Die politischen Machthaber versuchten zwei Mal Adam Michnik und seine Kollegen von der Hochschule zu verweisen. Zweimal ist dies infolge einer Mobilisierung der universitären Öffentlichkeit gescheitert.

Es existierten also Inseln gewisser Freiheit. Zuvor wurden diese durch die Partei als Sicherheitsventil benutzt. Sie ermöglichten die Gestaltung relativ friedlicher Beziehungen mit den intellektuellen Kreisen. Diese waren in ideeller Hinsicht auch vielfältig und keinesfalls monolithisch. Als die soziale Spannung anstieg, erwiesen sich diese Sicherheitsventile als ein Spalt, durch den der Protest zur Sprache kam und so entschied die Macht diese Löcher zu stopfen.

Die Universitätsprofessoren wussten, dass die Machthaber ein neues Hochschulgesetz vorbereiten, welches die Liquidierung der akademischen Selbstverwaltung vorsieht. Selbstverständlich wehrten sich die Professoren mit ihren eigenen Mitteln dagegen und stachelten keinesfalls die Studenten zu irgendwelchen Protesten an. Da aber gleichzeitig kleine Studentengruppen politisch aktiv wurden, die ziemlich radikal gesinnt waren, nahmen die Ereignisse einen viel dramatischeren Verlauf an.

Innerhalb dieser Gruppen waren die wichtigsten jene, die die Partei als sog. „Spezialkräfte“ (komandosi) bezeichnete. Es war gar keine Organisation, sondern vielmehr mehrere Kumpelcliquen, die mehr oder weniger miteinander Kontakt aufnahmen, insbesondere an der Universität, aber auch an der Staatlichen Theaterhochschule (PWST) und der Warschauer Technischen Hochschule (Politechnika).

Im Laufe dieses Jahres entwickelten sich die Ereignisse von alleine. Man kann sagen, dass diese uns nach vorne hetzten. Ich versuchte ein wenig zu bremsen. Ich hatte doch alltäglichen Kontakt zu den „komandosi“, zu diesen jungen, aufgeheizten Menschen und ich wusste, dass es ein Milieu ist, welches die Machthaber nur zähneknirschend und mit einsatzbereitem Knüppel duldeten.

Mir lag viel daran, dass sie nicht im Strafvollzug enden oder auch ihr Leben zerbricht, indem man sie von der Universität schmeißt oder die Studienaufnahme verhindert.

Deshalb war ich -so lange es ging- gegen einen Aufruf zu einer Protestkundgebung. Ich war der Ansicht, dass eine öffentliche Kundgebung, also in gewisser Hinsicht eine Massenaktion, zu der eine Protestkundgebung zwangsweise gehört, eine Toleranzgrenze überschreitet, nach der die Repression folgen wird. Erst als die Machthaber ihrerseits diese ungeschriebene Grenze überschritten hatten, wechselte ich meine Meinung.

Einen solchen Umbruchsmoment stellte der Rausschmiss aus der Universität von zwei Anführern der „komandosi“, Adam Michnik und Henryk Szlajfer dar. Dieser erfolgte zudem auch gegen die Bestimmungen des Hochschulgesetzes. Sie wurden von der Universität infolge einer ministeriellen Entscheidung, die der Rektor beantragte, verwiesen. Dies geschah demnach in völliger Missachtung der geltenden Gesetzte. Rektor Rybicki erklärte, er tue dies ausnahmsweise, aber je nach Notwendigkeit wird er dies als Präzedenzfall für eine neue Regel betrachten. Dies war eine völlig eindeutige Erklärung. Man musste darauf antworten. Es waren stärkere Protestmittel notwendig als die, welche wir besaßen und dann kam es zu der ersten Kundgebung.

Ein anderer Streitpunkt den man erwähnen muss, war das Aufführungsverbot des Theaterstücks „Totenfeier“ (Dziady)  von Adam Mickiewicz in einer Aufführung von Kazimierz Dejmek. In den 60er Jahren gehörte das kulturelle Leben -neben der Universität- zu der Sphäre, innerhalb welcher die meisten Errungenschaften des Oktobers 1956 erhalten blieben. Auch hier sah die Macht wirksame Sicherheitsventile und auch hier wurden diese Ventile irgendwann zu Brüchen, über die der soziale Protest ans Tageslicht kam. In einem beträchtlichen Maß „auf den eigenen Wunsch“ der Machthaber selbst.

Die Verhängung eines Aufführungsverbotes für die „Totenfeier“ aus dem Jahre 1832 war ein klassisches Beispiel, einerseits für Dummheit, andererseits für die Furcht, dass in einer Situation der zunehmenden Spannung, sogar das Theaterpublikum und ein Theaterstück aus dem 19. Jahrhundert zu einem Bruch werden kann, über welches die Proteste herausströmen könnten.

Ich habe während des Ermittlungsverfahrens einen von der polnischen Staatssicherheit (Służba Bezpieczeństwa – SB) angefertigten Vermerk gelesen. Dieser sollte in die Annalen der Geschichte der Literatur der Romantik und ihrer Rezeption in Polen einfließen. Es waren Passagen aus der „Totenfeier“ markiert, nach denen beim Publikum Beifall ausbrach. Diesen Beifall schätzte die Partei für so gefährlich ein, dass sie entschied das Theaterstück zu verbieten. Ich glaube nicht, dass sie eine besondere Lust auf eine Auseinandersetzung wegen dieser Aufführung hatten. Aber unter den damaligen Umständen musste es zu einer solchen Auseinandersetzung kommen.

Und von diesen mit Beifall gekrönten Fragmenten erscheint mir insbesondere eine Stelle wichtig. Es ist die Szene des Balls beim Senator, als einer der patriotisch gesinnten polnischen Jünglinge sich an seinem Freund wendet, einen künftigen „Dekabristen“, übrigens einen Russen, und über den zaristischen Senator Nowosilcow spricht:

„Ein Messer in den Bauch hat er verdient, Die Fratze will ich tilgen von der Sonnen.“

worauf der Russe Bestuzev antwortet:

„Wenn eines Schufts wir ledig sind, Wem ist geholfen, was gewonnen? Sie werden Gründe finden, schreien, Die Universitäten soll man schließen, Weil die Studenten Jakobiner seien, Und eure Jugend wird es büßen.“ 1

Dies wurde mit Beifall belohnt, weil man diese Worte, übrigens ganz richtig, für prophetisch hielt und nicht irgendein Fragment eines alten Stücks aus dem 19. Jahrhundert. Wissen Sie, man braucht hier gar nicht mal mit Ideologie oder dem Kampf gegen das System zu kommen.

Selbstverständlich folgten im Nachhinein Massenproteste, die die Stabilität des Systems und seine Grundlagen bedrohten. Aber der Systemsturz war damals keinesfalls ein Ziel der sich auflehnenden Jugend. Keiner hat es so wahrgenommen. Auch wir dachten nicht, dass daraus eine Revolution wird.

Aber in dem Offenen Brief ging es doch um mehr als nur um die Verteidigung „bedrohter Freiheitsinseln“.

Dort ging es wirklich um einen Systemsturz. Nur dass wir dieses Programm in die gleiche ideologische Phraseologie verpackt haben, aus der auch der Kommunismus geboren wurde. Es war eine Art ideologische Nabelschnur, die uns mit dem System verband. In diesem Sinne war der Offene Brief ein extremer, und man kann wohl sagen, letzter Aufschrei des radikalen Revisionismus. Dieser Revisionismus war eine Auflehnung  gegen das System, gegen das Regime, aber einzig dadurch motiviert, dass dieses Regime in der Praxis die Ideale mit Füssen trat, welche es in der Theorie verkündete und welche es uns selbst eingetrichtert hat.

Und jetzt mal subjektiv betrachtet, was war Eure Perspektive, was habt Ihr damals gedacht? Habt Ihr darüber gedacht, das System umzubauen, den Kommunismus zu stürzen oder in die Richtung eines anderen Sozialismus zu gehen?

Wissen Sie, wer die Geduld hat, kann sich ja diesen Brief durchlesen. Heutzutage habe ich keine Geduld mehr, dies noch ein Mal zu lesen, aber ich erinnere mich ungefähr, was drin steht. Keinesfalls war der Brief ein Aufruf dazu, den Kapitalismus zu restaurieren, wenn Sie das meinen. Selbstverständlich fanden sich in den programmatischen Forderungen solche Dinge, die sich keinesfalls mit dem Kommunismus vereinbaren ließen. So zum Beispiel die Forderung nach der Freiheit politischer Parteien, politische Opposition zu organisieren, die Zensur aufzuheben, die Schaffung freier Gewerkschaften inklusive des Rechts auf Streik. Für uns war es eine Idee oder das Ideal eines Systems, das sich auf der Arbeiterselbstverwaltung stützen sollte. Demzufolge sollte die Umkehr vom herrschenden System, vom Kommunismus, nicht zur Privatisierung führen, sondern zur Bildung von Arbeiterräten, die nicht nur die Macht in den Betrieben übernehmen sollten, sondern auf höherer Stufe ein Rätesystem als eine Art Knochengerüst der staatlichen Macht begründen sollten.

Im Grunde genommen war dies ein Programm eines idealen Arbeiterstaates, was uns nicht zu Unrecht als utopisch und als Anknüpfung an die Wurzeln der revolutionären Utopien, unterschiedlicher Freiheitsutopien, auf denen der Kommunismus gedeihte, vorgeworfen wurde. Die von uns vorgenommene Analyse war eine marxistische. Das bedeutet, dass der Marxismus dort zur Enthüllung, Kritik und als Aufruf zum Systemsturz verwendet wurde.

Der Offene Brief steht nur in einer indirekten Beziehung zu den März-Unruhen. Er war ein wichtiges Ereignis für diese Studenten aus Warschau, die dann zu Hauptinitiatoren der Proteste wurden. Die Tatsache, dass jemand so etwas geschrieben hatte, dass diese Leute verhaftet und abgeurteilt wurden, dass jemand einen solchen Protest wagte, inspirierte und motivierte sie  in gewisser Hinsicht zum Handeln. Sie haben sich ja in einem gewissen Grad zu dem Zweck organisiert, die Autoren des Offenen Briefs zu verteidigen. Dabei mussten sie gar nicht unbedingt davon überzeugt gewesen sein, dass dessen Inhalt zugleich ihr ideologisches Credo darstellt.

Aber es war selbstverständlich eine revisionistisch eingestellte Jugend. Sie vertrat bestimmte Werte, die auch wir teilten und ihre politische Einstellung entsprang diesen linken Werten. Ich erinnere mich, dass Jaga Dzię- giel meine Kollegin aus dieser Zeit, die heute in Wrocław lebt, mir einmal erzählte, dass sie im März 1988 auf dem Hof der Warschauer Universität gewesen ist. Der NZS [rechtsgerichtete Nationale Studenten Vereinigung –Anm. KM] hat dort zum Jahrestag eine Demonstration organisiert, während ein junger Mann eine weiß-rote Fahne schwenkte und „Weg mit der Kommune!“ schrie. Jemand war berührt und meinte, es sei genau wie vor zwanzig Jahren. Und Jaga lachte, weil wenn jemand vor zwanzig Jahren „Weg mit der Kommune!“ geschrien hätte, er entweder für einen Irren oder einen Provokateur gehalten worden wäre, nichts weiter.

Was waren die Gründe für die Evolution dieses Revisionismus zu solchen Parolen wie die genannte  „Weg mit der Kommune!“? Was ist passiert, dass wir dreizehn Jahre nach dem Polnischen März, im Jahre 1981, es mit der Solidarność zu tun haben, die  an das Projekt einer Arbeiter-Selbstverwaltungs-Republik anknüpft und anschließend die Abkehr von den Selbstverwaltungsideen bis hin zur Restauration des Kapitalismus folgt. Diese erfolgte dabei  in einer sehr brutalen, neoliberalen Gestalt, welche durch die sog. Balcerowicz-Reformen aus dem Jahre 1990 symbolisiert werden. Wie würden Sie heute diese Entwicklung einschätzen? 

Was kann ich da sagen? Fragen Sie doch besser Balcerowicz, warum er seine Meinung änderte und anstatt eine Reform zu fordern, die sich auf die Arbeiterselbstverwaltung stützte, eine Reform einführte, die sich auf Privatisierung stützte. Das Interessante ist doch, dass Balcerowicz einer der Inspiratoren der Selbstverwaltungskonzepte der Solidarność in den Jahren 1980-1981 gewesen ist. Die Forderungen nach Schaffung einer authentischen Arbeiterselbstverwaltung und die Idee, die Staatsverfassung auf dem Prinzip einer demokratischen Arbeiter-Selbstorganisation der Gesellschaft aufzubauen, wurden während des I. Delegiertenkongresses der Gewerkschaft „Solidarniość“ im Herbst 1981 zu Beschlüssen. Es war der Höhepunkt des Kampfes um eine Arbeiterselbstverwaltung, die im August 1980 begann.

Deren Konsequenz war die Verabschiedung eines Gesetzes über die Selbstverwaltung der Belegschaften sowie über staatliche Betriebe. Diese zwei fundamentalen Rechtsakte wurden bei den Machthabern durch den Druck der Solidarność erzwungen. Sie wurden noch nicht einmal nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 außer Kraft gesetzt.

Sie überstanden den Kriegszustand und in den Arbeiterräten, deren Möglichkeiten damals schon sehr eingeschränkt waren, fanden mehrere Gewerkschaftsfunktionäre der „Solidarniość“ eine warme Zuflucht und die Möglichkeit in dem Betrieb aktiv tätig zu sein, in einer Zeit, in der die Gewerkschaft gejagt, verfolgt und verboten war.

Später, Mitte der achtziger Jahre, fand ein neoliberaler Gesinnungswandel eines Teils der Solidarność-Aktivisten statt, der zur Schocktherapie von Balcerowicz führte. Aber dieser rasche Sinneswandel ist eine Folge und nicht die Ursache der Entwicklung, dem die alte Solidarność ausgesetzt wurde. Der Hauptverantwortliche für diese Evolution war der General Wojciech Jaruzelski.

Meiner Meinung nach hat er, durch die Verhängung des Kriegsrechts, die Massenbewegung der Solidarność aus den Jahren 1980-81 wirksam vernichtet. In diesem Sinne war die Einführung des Kriegszustandes effektiv. Es gelang die aktiven Menschenmassen auseinanderzujagen, welche die Bewegung zwischen August 1980 und Dezember 1981 ausmachten. Die Pazifizierung war insofern wirksam, als diese enorme, mehrere Millionen Menschen zählende Kraft nie wieder in dieser Form auf die gesellschaftlich-politische Bühne Polens zurückkehrte.

Als gegen Ende der achtziger Jahre das System bröckelte und man über die Richtung der künftigen Änderungen entschied, mangelte es an einem wesentlichen Element, welches den Ton in den Jahren 1980-81 angab. Es gab keinen Druck seitens klar egalitärer oder kollektivistischer Milieus.  Diese Prägung hatte die erste Solidarność. Sie war in einem großen Maß ein Kind des Sozialismus selbst.

Als dann aber der Kommunismus zusammenbrach, blieb nur noch der Mythos von Solidarność übrig. Er hatte nach wie vor einen starken Einfluss auf die Menschen, motivierte sie aber nicht mehr zum Handeln. Er wurde eher zu einem passiven Bekenntnis.

Gerade im Namen dieses Mythos konnte die erste nichtkommunistische Regierung relativ wirksam an Geduld und Entbehrungen angesichts der „notwendigen Reformen“ appellieren.

Heute bleibt selbstverständlich die Frage offen, ob das Projekt eines demokratischen Sozialismus unter damaligen Bedingungen in der Welt und in Polen überhaupt realisierbar gewesen ist und ob es nicht eher ein Objekt utopischer Sehnsüchte war. Jedenfalls gelang es nirgendwo, dieses Projekt in die Realität umzusetzen.

Kehren wir noch ein Mal zum Jahr 1968 zurück. Wie sah aus Ihrer Perspektive der internationale Kontext der Ereignisse in Polen aus? Haben Sie das, was im März 1968 in Polen geschah als ein Element der Aufruhr  gesehen, die auch in den USA, in Mexiko, Frankreich und Italien stattfand?

Das kam später. Wir waren zuerst dran und vor uns noch die Tschechen.

Ich habe damals nicht besonders über den internationalen Kontext nachgedacht. Am wichtigsten war für uns das, was hinter der Südgrenze, also in der ČSSR, passierte. Dort begann alles in einem gewissen Sinne bei einer großen Studentendemonstration im Herbst 1967. Dann kam es zu einem Wechsel an der Spitze der Kommunistischen Partei und einer gewissen Öffnung durch den Beginn eines Demokratisierungsprozesses. Dieser konnte in uns eine gewisse Hoffnung wecken. Übrigens trug man während der März-Unruhen Transparente und malte Parolen wie „Ganz Polen wartet auf seinen Dubček“. Dies haben weder ich noch Jacek, noch irgendwelche „komandosi“ veranlasst. Die Gesellschaft in der Tschechoslowakei befand sich in einer, mit unserer eigenen, vergleichbaren Situation und es wirkte auf uns ziemlich stark ein sog. Demo-Effekt. Man konnte dies in der ČSSR, dann kann man das ja auch in Polen.

Über den Pariser Mai, die Ereignisse in Europa, in Berkeley und überhaupt in den Vereinigten Staaten sowie in der ganzen Welt habe ich erst später erfahren.

Eine für mich bis heute ungeklärte Frage lautet: Was hatte das alles miteinander zu tun?  Genauer gesagt: In welchem Ausmaß bedingten und beeinflussten sich, während des am Ende der sechziger Jahre in Europa vorherrschenden ideologischen und intellektuellen Klimas, die Ereignisse in der ČSSR und in der VR Polen gegenseitig? Früher neigte ich dazu, die Unterschiede zu betonen, heute behaupte ich, dass etwas Wesentliches in der europäischen Kultur passierte, was eine Analyse und nähere Betrachtung durch Historiker und Soziologen bedarf. Man sollte versuchen, das Wesen des Phänomens zu erfassen, welches darin bestand, dass in sehr unterschiedlichen Regimekontexten zeitgleich vergleichbare  Jugendrevolten entflammten. Es kann kein reiner Zufall sein. Denn die Parolen sind etwas anderes als der kulturelle Hintergrund, der hinter diesen Parolen steckt. Dieser hätte in viel stärkerem Ausmaß ein gemeinsamer sein können, als uns dies damals, auf den ersten Blick erschien.

Wie schätzen Sie es im Nachhinein ein? 

Damals kam ich ja sofort in den Knast und was ich wusste, wusste ich aus der „Trybuna Ludu”, die uns in die Zelle geliefert wurde; eventuell noch von Bemerkungen eines Ermittlungsoffiziers, der auf unterschiedliche Art und Weise bösartig sein wollte. Und später, als ich das Gefängnis verließ, dann war das schon nach dem „Dezember 1970“, es war eine völlig andere Situation. Ich wurde im September 1971 entlassen und es war ein anderes Polen. Das Polen Edward Giereks war ein anderes als das Polen von Władysław Gomułka. Jene, welche die Freiheit draußen genossen hatten, empfanden das Ende der sechziger Jahre als eine dunkle Nacht, die sich über Polen ausgebreitet hat. Dies haben sie ziemlich dramatisiert, denn ganz hell ist es ja zuvor auch nicht gewesen.

Nichtsdestotrotz verkündete die Machtübernahme von Gierek, durch seine Einstellung zu Arbeiterprotesten, in der Tat den Anfang einer Periode, die zu den Protesten des Sommers im Jahre 1980 führte. Meiner Meinung nach führte der Besuch des Ersten Sekretärs der PVAP Edward Gierek und des Ministerpräsidenten Piotr Jaroszewicz in der Szczeciner Warski-Werft im Januar 1971, kurz nach dem Aufruhr vom Dezember 1970,  geradewegs zur Gdańsker Werft des Jahres 1980. Es wurde ein Präzedenzfall geschaffen, auf den das gesellschaftliche Bewusstsein zurückverweisen konnte. Ein Präzedenzfall, der sagte, dass die „Volksmacht“ zum Dialog gezwungen werden kann, dass ein gut organisierter Arbeiterstreik mit der Forderung nach Gesprächen diesen Dialog wirksam erzwingen kann.2

Es scheint etwas paradox, dass einerseits die Rolle der Arbeiterklasse als Kraft, welche Druck auf die Machthaber im Namen der Parolen, die diese verkündet, ausüben kann, steigt, und zugleich auf der ideologischen Ebene in der Intellektuellen-Schicht eine Abkehr vom Glauben spürbar wird, dass die offizielle Ideologie revidiert werden kann, dass man auf der Grundlage des Marxismus und der Anwendung seines Instrumentariums noch eine Alternative zum Stalinismus und Poststalinismus ausarbeiten kann. 

Ich glaube, dass im Jahr 1968, insbesondere nach den Ereignissen in der ČSSR diese revisionistische Hoffnung zerschlagen wurde. Diese Illusionen verpufften nach dem Einmarsch in die ČSSR durch fünf Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes. Außerdem hatten meiner Meinung nach die Revisionisten unter den Professoren wohl kein politisches Projekt vor Augen. Sie betrachteten es auch nicht als ihre Aufgabe. Wenn sie öffentlich, politisch handelten, taten sie es im Grunde genommen in Verteidigung der universitären Autonomie.

Dies betrifft auch jene, die Schöpfer eines gewissen geistigen und ideologischen Klimas waren, der darin bestand, dass der Kommunismus wegen seiner Parolen und Versprechungen zur Rechenschaft gezogen wurde. Man warf ihm Betrug vor. Unter den Professoren war damals Leszek Kołakowski der radikalste. Andere waren weitaus gemäßigter. Kołakowski dachte auch, dass man die Substanz bewahren soll. Dass wir nicht in der Lage von Menschen sind, die nichts zu verlieren haben.  Er sah in der Tat eine Abkehr vom Oktober 1956 – worüber er durchaus im Klartext bei der berühmten Versammlung im Oktober 1966 an der Historischen Fakultät der Warschauer Universität sprach – und wofür er aus der Partei ausgeschlossen wurde, aber, dass diese Abkehr nicht definitiv sei und dass wir die Pflicht haben, die Substanz der nationalen Kultur zu bewahren, welche infolge historischer Umstände uns, den Menschen der Universität, anvertraut wurden. Wir können nicht zulassen, dass die Machthaber dies vernichten. Und das war’s. Dort gab es kein Projekt zum offensiven Handeln. Im Gegenteil. Sie waren dazu geneigt, uns soweit zu bremsen, solange es möglich war.

War das Jahr 1968 in Polen auch eine Zäsur im intellektuellen Leben. Als Abkehr der Intelligenz von einer solchen Betrachtung der gesellschaftlichen Welt, die in der breit verstandenen marxistischen Tradition verankert war, innerhalb eines linken Ethos?

Das passierte insbesondere nach dem August 1968, aber auch schon im März. Wie ich es schon erwähnte, waren die meisten Revisionisten nicht so radikal wie Kuroń oder ich. Sie dachten nicht daran, dass man das System stürzen muss. Sie wollten es demokratisieren, durch Druck oder einen Dialog mit denen, die dieses System verwalteten. In einer solchen Situation bedeutet der Verlust der Hoffnung, dass ein solcher Dialog überhaupt möglich ist, eine Abkehr oder trägt zum Verlassen jener Bezugspunkte bei, welche der revisionistische Versuch der Deutung des Marxismus lieferte.

Außerdem emigrierten ganz viele Menschen und als Emigranten befanden sie sich in einem völlig neuen Kontext. Man müsste also überlegen, ob die aus Polen rausgeworfenen Revisionisten sich mit der westlichen Linken verständigen konnten oder eher nicht? Es sind spezielle Fragen und es ist schwierig, sie zu beantworten. Sie müssten sich eher an sie selbst wenden oder an jene, die sie beobachteten und beurteilten. Ich habe mich damit nicht besonders intensiv beschäftigt. Für mich war der März 1968 durchaus ein Ereignis, für das ich am längsten saß, länger sogar als ich für die Solidarność im Knast war. Wenn ich also in diesen Kategorien messe, dann war es ein wichtiges Datum. Aber wenn ich etwas als etwas Eigenes benennen soll, dann würde ich eher die Ereignisse der Jahre 80-81 meine eigenen nennen. Erstens, weil ich an ihnen sehr aktiv teilnahm. Zweitens, weil ich es mit 100% Überzeugung getan habe und gleichzeitig einer großen Angst, dass dies böse enden könnte.

Eine solche Angst war mir völlig fremd, als ich den Offenen Brief schrieb. Als ich den Offenen Brief schrieb, hatte ich lediglich Angst, dass sie uns an die Hand fassen, bevor wir es zu Ende schreiben werden können. Und dann hatte ich Angst, dass junge Leute, die uns relativ nahe waren, anstatt in die revolutionäre Konspiration zu gehen, öffentliche und legale Opposition spielen.

Ich habe ihnen sogar einen Kassiber aus dem Gefängnis aus Barczewo geschrieben, dass es uns nicht darum ging, eine Salon-Opposition zu gründen und dass sie, anstatt sich öffentlich aus dem Fenster zu lehnen, in die Arbeitermilieus mit der „frohen Botschaft“, also mit unserem Manifest gehen sollten und konspirative Parallel-Strukturen der Partei gründen sollen.

Ich war auf diesen Kassiber sehr stolz und sie lachten lediglich lautstark über ihn. Der Leiter der Anstalt tat dies nicht. Ich habe es meiner Mutter während eines Besuches am Tisch zugesteckt. Das fand in einem getrennten Zimmer statt, welches vom Leiter der Vollzugsanstalt in Barczewo persönlich bewacht wurde. Meine Mutter war der Typ einer sowjetischen Frau, so dass sie kapierte, was los ist. Und als meine jungen Freunde begannen über diesen Kassiber überall dort wo Abhöranlagen angebaut waren zu lachen, wurde der Leiter des Gefängnisses bestimmt angeschissen. Jedenfalls begann dieser Knast-Leiter beim nächsten Besuch ziemlich verkrampft die Manschetten des Mantels meiner Mutter umzudrehen, obwohl ich keinen neuen Kassiber hatte. Und meine Mutter schaute ihn mit ihren blauen Äuglein so unschuldig an und sagte, dass sie doch eine anständige Frau sei. Es gelang mir damals vor Lachen nicht zu explodieren, aber das war es auch, was ich von diesen revolutionären Träumereien hatte.

Später, im Jahr 1981, war mir bewusst, dass wir es mit einem revolutionären Prozess zu tun haben und ich hatte riesige Angst, dass dessen Höhepunkt tragisch enden könnte. Ich wusste jedoch, dass mein Platz in dieser Bewegung ist und dass es meine Aufgabe sei, diese zu einer solchen wenig wahrscheinlichen Variante zu führen, in der es gelingen würde, dessen Ziele zu realisieren und zugleich eine direkte Konfrontation zu vermeiden.

Man kann also sagen, dass Sie erst in der Solidarniość jene Kraft erblickten, die das Projekt eines Selbstverwaltungs-Sozialismus verwirklichen könnte, die Sie in dem Offenen Brief ansprachen?

Aber damals hatte ich schon wenig über den Sozialismus nachgedacht. Ich dachte damals daran, was sich machen lässt. Ich wusste, dass es eine revolutionäre Bewegung ist, und in meinem Denken bildete immer die Arbeiterschaft einen axiologischen Bezugspunkt. Ich war mir sicher, dass eben diese, die Arbeiter, imstande sind dieses System an die Wand zu stellen, das sie die Gründe und die Motivation dazu haben und dass, ungeachtet der Konstellation der internationalen Kräfte, es uns alle und das Land einer sehr großen Gefahr aussetzt. Ich muss sagen, dass ich in diesem Sinne nicht ein typischer Intellektueller bin.

Ich war darüber hinaus überzeugt, dass die Lösung zur Umgehung der Gefahr einer direkten Konfrontation nicht in einem Ausbooten oder Manipulieren dieser Menschen liegt, um so die Massenbewegung zu schwächen und im Endeffekt diese mit den Händen polnischer Kommunisten  niederzuschlagen. Im Gegenteil. Mir ging es darum, den Zustand eines wackeligen Gleichgewichts so lange zu erhalten, eines Gleichgewichts der Angst, dass die von der Bewegung verursachten Veränderungen unumkehrbar werden. Dies war eine Selbsttäuschung, aber ich hatte wohl die Pflicht solchen Illusionen aufgrund der Funktion, die ich in dieser Bewegung ausübte, zu unterliegen.

Wenn man einen Zug oder eine andere Maschine steuert und der Wahrscheinlichkeitsgrad einer Katastrophe 99% beträgt, kann man sich nicht so benehmen als ob die Möglichkeit, diese Katastrophe zu vermeiden, nicht existieren würde. Verzeihen Sie diesen technokratischen Vergleich, aber weil wir gegenwärtig einen Vize-Premierminister haben, der solche Vergleiche mag, erlaube auch ich mir eine solche Rhetorik.

Denken Sie, dass zwischen den Studenten aus dem Jahre 1968 und den Arbeitern aus dem Jahre 1981 eine Kontinuität besteht oder eher von einem Bruch gesprochen werden kann? 

An den Ereignissen der Jahre 1980-81 nahmen nicht nur Arbeiter teil. Es war eine viel breitere Bewegung. In der Tat war Solidarność vor allem eine Arbeiterbewegung, aber nicht nur. Ihr entscheidendes Element war das Zusammenwirken von Intelligenz und Arbeitern. Es geht dabei um eine breit verstandene Intelligenz, also auch um die Vertreter der technischen Intelligenz. In den Intelligenzmilieus mancher Generation, in diesen Jahrgängen, welche die Erfahrung der Ereignisse 1968 machten, war der März eine prägende Generationserfahrung. Später, in der Zeit der Solidarność und des Kriegszustandes, spielte dies übrigens eine unterschiedlich Rolle.

Sie wissen, wie es ist: Wenn manche Ereignisse zur historischen Vergangenheit werden, finden sich deren  Teilnehmer, Aktivisten und Anführer plötzlich in allen möglichen Ecken. Überall und nirgendwo. An allen Orten der politischen Bühne.

So fanden sich z.B. manche Aktivisten der Stundentenstreiks 1968 aus Wrocław, später, nach der Ausrufung des Kriegsrechts bei Kornel Morawiecki in der „Solidarność Walcząca“ [Kämpfende Solidarniość] und noch später gelangten manche in die konservative Regierung von Jan Olszewski. Und Marek Borowski fand sich in der SLD wieder. So unterschiedlich waren diese Schicksale, aber es geht nicht um die späteren Schicksale, sondern darum, dass damals, in den Jahren 1980-81, unter den Intellektuellen, die an der Bewegung teilnahmen, etwas spürbar wurde, wenn ich das so sagen darf, Spuren einer gemeinsamen Generationserfahrung – des März 1968.

Von einer ideologischen Kontinuität würde ich dagegen nicht sprechen. Selbst bei mir kann ich diese nicht erblicken, weil ich glaube, dass ich im Jahre 1980/ 81 nicht mehr in ideologischen Kategorien dachte, obwohl ich mein eigenes Wertesystem besaß und es war nach wie vor ein Wertesystem, dessen Bezugspunkt die Arbeitermilieus waren.

Ich vertrat nicht die Auffassung, dass man die Arbeiter und ihren Aufruhr als destruktive Kraft benutzen sollte und dann das, was man eventuell erreicht, in rationaler Manier, anders als es diese Kräfte wollten, ausgestaltet. Ich habe mich zur Loyalität gegenüber den Arbeitermilieus verpflichtet gefühlt, deswegen habe ich sehr schmerzhaft  den neoliberalen Sinneswandel meiner meisten Kollegen im Jahre 1989 erlebt. Aber das  ist ein gesondertes Thema.

Lassen Sie uns zum Schluss noch ein Mal auf das Jahr 1968 zurückkommen. Denken Sie, dass die damaligen Ereignisse, sowohl jene im Ostblock wie auch im Westen oder in der Dritten Welt, die Bezeichnung einer „Weltrevolution“ verdienen? Es geht mir darum, was Sie von einer solchen Interpretation halten, die Immanuel Wallerstein verkündet und die besagt, dass es ein solcher Moment war, in dem auf der einen Seite die strukturelle Krise des globalen Kapitalismus steht und wir es auf der anderen Seite mit der Krise eines gewissen politischen Paradigmas zu tun haben, welches sich im Verlauf von ca. einhundert Jahren vor 1968 formierte. In der Krise finden sich unterschiedliche Modelle die Politik zu betreiben; der Moskauer Kommunismus, die westliche Sozialdemokratie, nationalistischer Populismus im Süden; die zuvor so etwas wie Felder markierten, in denen unterschiedliche Bewegungen und politische Subjekte entstehen konnten. In diesem  Zusammenhang tauchen neue soziale Bewegungen auf, die zu einem neuen politischen Paradigma gehören, in denen wir einerseits identitätere Bewegungen, einen religiösen Fundamentalismus haben und auf der anderen Seite zum Beispiel ökologische Bewegungen oder „Bewegungen der Bewegungen“ wie der Alterglobalismus, die nicht die Machtübernahme anstreben. Würde eine solche Interpretation des Jahres 1968 Ihnen nahe liegen?

Sie möchten wohl, dass ich mich mit sog. „Wird sein-Geschichten“ („bedziejami”) wie es Stanisław Lem ausdrückte, also politisch-ideologischer Futurologie, beschäftige?

Nein. Es geht darum, ob Sie denken, dass das Jahr 1968 einen Bruch darstellt, ab dem etwas Neues begann?

Ich verwende wohl zu oft so ein Beispiel, aber auch diesmal berufe ich mich darauf:  Irgendwann mal in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekam der berühmte belgische Historiker Henri Pirenne den Auftrag, die Geschichte Belgiens von Anfang bis in die Gegenwart zu schreiben. Er hörte beim 18. Jahrhundert auf und sagte, dass er nicht weiter schreiben kann, weil die Geschichte eine Selektion der Ereignisse nach ihrem Wichtigkeitsgrad erfordert. Und wonach erkennt man denn die Wichtigkeit eines historischen Ereignisses? Aufgrund seiner Folgen und Konsequenzen. Also wie wollt ihr – fragte Pirenne – dass ich Ereignisse bespreche, dessen Konsequenzen noch nicht bekannt sind, weil sie zum Anfang des 18. Jahrhunderts, also erst vor 200 Jahren stattfanden?

Ich sage nicht, dass ich diese Meinung vollständig teile. Außerdem ist das Anliegen meiner Meinung nach handwerklich auch etwas komplizierter, aber grundsätzlich betrachtet kann dies auch heute angenommen werden, dass die Ereignisse gemäß ihrem Wichtigkeitsgrad selektiert werden sollen.

Meiner Meinung nach ist das Jahr 1968 ein wichtiges Ereignis. Ich weiß nicht, ob die Leute meines Jahrganges und jene, die zehn Jahre jünger sind als ich, die Bedeutung der kulturellen Erschütterung, die damals stattfand, überbewerten. Im Westen führte es zur Herausbildung einer Art politischer Kader. Die Kontestatoren, die sich einer sehr revolutionären Rhetorik bedienten, wurden durch das Establishment eingesaugt. Wenn Sie die Menschen des Jahres 1968 heute betrachten, werden Sie bei manchen die Spuren dieser Vergangenheit feststellen, bei anderen überhaupt nicht, und wenn überhaupt, dann sind es nur Spuren.

Es wäre also ein Beispiel für die große assimilatorische Fähigkeit des westlichen Kapitalismus. Ich meine diesen modernen Kapitalismus mit seinem starken wohlfahrtsstaatlichen sozialen Beitrag, und bis vor kurzem mit einem starken Grad an Interventionismus im Sinne von Keynes.

Selbstverständlich darf man nicht vergessen, dass dieser Interventionismus zur Vergangenheit gehört. Es bedeutet nicht, dass es ihn nicht mehr gibt, aber ohne Zweifel wird er schwächer aus zwei Gründen, die miteinander verbunden sind. Der eine, vielleicht nicht der wichtigste Grund, ist der doktrinäre. Die Tatsache, dass die Friedman-Doktrin gegenwärtig zum Glaubensbekenntnis der herrschenden Eliten in der westlichen Welt und auch in Polen gehört, ist selbstverständlich die Folge bestimmter realer Prozesse. Die strukturelle Ursache dieses Zustands ist nämlich die Globalisierung.  Wir haben einfach kein Instrumentarium um die Wirtschaft mittels eines politischen Systems, insbesondere durch die Vermittlung der Demokratie, anders zu beeinflussen als im Rahmen des Nationalstaates.

Andererseits hat der Nationalstaat immer weniger wirksame Instrumente, die Wirtschaft zu beeinflussen, immer mehr wird über seinen Kopf hinweg entschieden. Ich würde darin ein Problem der westlichen Welt sehen, der auch wir uns anschließen, obwohl wir dessen mehr oder weniger entwickelte Peripherie darstellen. Ich habe mich nicht von dem Begriff der Unterentwicklung verabschiedet. Ich denke jedoch, dass es nicht ausreicht, von der Unterwicklung zu sprechen. Vor allem weiß man in einer Langzeitperspektive nicht welche Folgen unser Beitritt zur EU hat. Wir kennen nicht einmal die Folgen in der kurzfristigen Sicht. Es ist mir nicht gelungen, unterschiedliche Konsequenzen dieses Prozesses vorauszusehen. Zum Beispiel habe ich befürchtet, dass infolge der Aufhebung aller Beschränkungen, die ja einen Schutz gegen die Konkurrenz mit viel stärkeren wirtschaftlichen Einheiten bildeten, eine weitere Abnahme unseres ökonomischen Potentials eintritt. Das Gegenteil trat ein. Dieses Potential haben wir bereits vor dem Beitritt zur Europäischen Union  verloren, da  dieses nicht konkurrenzfähig gewesen ist. Ohne eine Schutzpolitik hatte unser Potential keine Chance konkurrenzfähig zu sein. Dies haben die Regeln des Beitritts-Vertrages mit der Europäischen Union ausgeschlossen. Dieser Vertrag war eine Öffnung als Einbahn-Straße: Die Güter kamen aus dem Westen zu uns und die Arbeitslosigkeit blieb bei uns.

Der Beitritt verbesserte trotz alledem unsere Position enorm, weil dieser in einem Moment guter Konjunktur durchgeführt wurde. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in Polen verbesserte sich.

Bedeutet dies, dass das Projekt eines demokratischen Sozialismus, welches unter Aufständischen des Jahres 1968 auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs lebendig war, nun tot ist? Haben die Arbeiter, die in den Jahren 1980-81 die treibende Kraft der Revolution von Solidarność waren, angesichts der Globalisierung auch ihre politische Bedeutung verloren?

Ich weiß es nicht. Und ich glaube nicht, dass wir es schnell erfahren werden.

1 „Die Ahnenfeier“ [Dziady, Dritter Teil, Szene VIII], übersetzt von Walter Schamschula, Köln 1991. 

2 Wladysław Gomułka war in der Zeit  vom 21. Oktober 1956 bis 20. Dezember 1970 I. Sekretär des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei PZPR  (PVAP). Edward Gierek wurde sein Nachfolger und führte vom 20. Dezember 1970 bis 6. September 1980 als I. Sekretär des ZK der PVAP das Land. Als „Dezember 1970“ bzw. die „Ereignisse an der Küste“ wird die Arbeiterrevolte, die in verschiedenen Städten Nordpolens zwischen dem 14. und 22. Dezember 1970  ausgebrochen sind bezeichnet. In Gdynia, Gdańsk und Szczecin kam es infolge von Preiserhöhungen für Lebensmittel zu Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen. Nach einer Fernseh-Ansprache des Premierministers Stanislaw Kociołek an die Arbeiter mit der Bitte, die Arbeit wieder aufzunehmen, wurden am frühen Morgen des 17. Dezembers 1970 mehrere Personen auf dem Weg zur Arbeit durch das Militär erschossen. Hunderte weitere Menschen wurden während der tagelangen Kämpfe verletzt.

Die Fragen stellte Przemysław Wielgosz,

Übersetzung aus dem Polnischen: Paulina Gulińska-Jurgiel und Kamil Majchrzak.

Karol Modzelewski wurde1937 in Moskau geboren. Er ist Historiker und Oppositioneller. Im Jahre 1964 wurde er gemeinsam mit Jacek Kuroń wegen der Kritik an der Partei aus der PVAP ausgeschlossen. Als Reaktion darauf veröffentlichten beide im März 1965 einen „Offenen Brief an die Partei“ in dem sie aufzeigten, dass die Parteinomenklatur das Eigentum an den Produktionsverhältnissen übernommen hat und sich die Parteibürokratie damit zu einer neuen Klasse geformt habe, die ähnliche Funktionen erfüllt, wie die Kapitalistenklasse im Kapitalismus. Im Anschluss an die Verteilung des Briefes an der Universität Warschau wurden beide 1965 zu 3,5 Jahren Haft verurteilt. Im August 1967 vorzeitig entlassen und infolge der März-Unruhen 1968 wieder zu 3,5 Jahren verurteilt. Am Tag der Ausrufung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981 wurde er interniert und erst 1984 entlassen.

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