von Heike Schrader
aus telegraph #118/119
Auch wenn die gewalttätigen Aktionen nicht mehr das Bild in den Straßen bestimmen, die Proteste in Griechenland gehen weiter. Die tödlichen Schüsse auf einen der ihren könnte eine ganze Generation politisieren. Doch die Ursachen für die Proteste liegen tiefer.
Im Athener, von Alternativen und Anarchisten geprägtem Stadtteil Exarcheia warf am sechsten Dezember letzten Jahres eine Gruppe Jugendlicher Flaschen und Steine auf einen Streifenwagen. Die Polizisten brachten den Streifenwagen in Sicherheit, kehrten aber zu Fuß zurück, um die Angreifer zu jagen. Sie stellten eine Gruppe Jugendlicher, die sie für die Täter hielten. Einer der beiden Polizisten zog seine Waffe, es fielen Schüsse. Ins Herz tödlich getroffen brach der 15jährige Schüler Alexis Grigoropoulos zusammen. Dem erst nach zwei Wochen herausgegebenen offiziellen Obduktionsbericht zufolge wurde der Junge von einem horizontalen Querschläger getroffen. Noch am gleichen Abend versammelten sich tausende von Jugendlichen auf den Straßen Athens. Die ganze Nacht und in den nächsten zwei Wochen tobten Straßenschlachten in ganz Griechenland mit der Polizei, gingen Autos in Flammen auf, wurden Barrikaden gebaut. „Griechenland steht in Flammen“ titelten die Medien des Landes.
Wenn Griechenland in Flammen steht, dann berichten auch die internationalen bürgerlichen Medien, die sich ansonsten höchstens um eine durch Generalstreiks beeinträchtigte Abwicklung von Touristenflügen kümmern oder kitschige Bilder einer schneebedeckten Akropolis als „Sensation“ um den Erdball jagen. Von „blinder Randale“, von „Gewaltorgien der Chaoten“ war die Rede. In der Frankfurter Rundschau beispielsweise sprach man gar von einem „Land im Bürgerkriegszustand“, als wenn hier Bevölkerungsteile aufeinander losgingen und nicht Jugendliche gegen die Staatsgewalt kämpften. Parallelen zu den Aufständen in den Pariser Armenvierteln wurden gezogen, doch in Griechenland gingen nicht ausgegrenzte Kinder von Migranten, sondern überwiegend die Kinder der überdurchschnittlich gut gestellten Einheimischen, die Gymnasiasten und Studierenden auf die Barrikaden. Der Stadtteil Exarcheia, eine Art Kreuzberg Athens, wurde gar flugs zu einer von Drogenbanden und politischen Hooligans beherrschten „No-Go-Area“ umgedeutet.
Es gibt viele Arten zu töten hat Bert Brecht einmal geschrieben und damit auf die tägliche Gewalt durch Hunger, Armut, Krankheit im kapitalistischen System angespielt. In Exarcheia kommt sicherlich noch die tägliche staatliche Gewalt gegen alles, was anarchistisch oder libertär aussieht hinzu. Das Verschleppen und Verprügeln von schwarzgekleideten „Staatsfeinden“ durch Uniformierte gehört zum Alltag in Exarcheia. Im „Kiez der Widerständigen“ herrscht eine derart bedrohliche Präsenz von Sondereinheiten, dass das Viertel eher No-Go-Area für Schwarzgekleidete sein müsste.
In den zwei Dezemberwochen nach den tödlichen Schüssen brannten allein in Athen mehr Polizeiwagen und Luxusautos, wurden mehr Bankfilialen, Geldautomaten und Parteibüros zerstört, mehr Polizeiwachen und staatliche Einrichtungen angegriffen als in den 12 Monaten davor in ganz Griechenland zusammen. Die Wut über die tödlichen Schüsse der Staatsgewalt auf einen der ihren hatte eine Welle der Gegengewalt ausgelöst, die auch für griechische Verhältnisse ungeheure Ausmaße annahm. Ausmaße, die teilweise auch in unkontrollierte Zerstörungswut gegenüber Einzelhandelsgeschäften ausarteten oder auch Provokateuren Raum boten, zum Angriff auf eben solche Objekte anzustacheln, die sonst eher nicht zu den Zielen der anarchistischen und libertären Szene zählen. Denn die tödlichen Schüsse waren nicht das Werk eines durchgedrehten Beamten, der um sein Leben fürchtete, sondern Auswuchs der unglaublichen Selbstherrlichkeit der griechischen Polizei.
In den Jahren 1980 bis 2003 wurden in Griechenland mindestens 17 Menschen von der Polizei erschossen, die meisten von ihnen, weil sie an einer Polizeisperre nicht angehalten hatten. Und in den letzten Jahren hat die Repression der Polizei vor allem gegen Andersdenkende und Migranten zugenommen. Wer dachte, die traditionelle „Aufgabe“ der griechischen „Ordnungshüter“ aus den Jahren des parastaatlichen Terrors in den 50ern und 60ern oder der Militärdiktatur von 1967 bis 1974, die „Staatstreue“ der Bürger zu kontrollieren und jeden Ansatz von Widerstand mit Schlagstöcken, Folter auf Polizeiwachen oder Schusswaffengebrauch zu ersticken, sei mit der Einführung der parlamentarischen Demokratie 1974 Vergangenheit, wurde durch zahlreiche Polizeiskandale in den letzten Jahren eines Besseren belehrt. „Ungeklärte Todesfälle“ in Polizeizellen, Folter an „illegalen Einwanderern“, in manchen Fällen sogar vom Kollegen auf dem Mobiltelefon aufgezeichnet, zeugen von einem Rechtsverständnis der griechischen Sicherheitsbeamten, das mit rechtstaatlichen Grundsätzen gelinde gesagt unvereinbar ist. Nur selten führen die „Entgleisungen“ von Polizisten zur Bestrafung der Täter. Jüngstes Beispiel der Fall eines zyprischen Studenten, der 2006 in Saloniki vor laufenden Fernsehkameras von Zivilpolizisten buchstäblich ins Koma geprügelt wurde. Die Beamten kamen mit geringen Geldstrafen davon.
Auch die von der Polizei gepflegte Feindbildmentalität gegenüber einer revoltierenden Jugend ist gewollt. Wie anders ist es zu erklären, dass für die im Alternativviertel Exarcheia dauerpräsenten Sondereinsatzkräfte der abgeschlossene Wehrdienst bei Spezialeinheiten der Armee als Einstellungsvoraussetzung gilt. Man mag auf Polizisten geworfene Steine auch in Momenten solcher Wut verurteilen. Aber wenn die durch gepanzerte Uniformen, Helme und Schilde unverwundbaren Beamten die Steine dann mit gleicher Wucht in die Reihen der ungeschützten Demonstranten zurückschleudern, hat dies eine andere Dimension.
Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in den Einschätzungen der zahlreichen linken Parteien und Organisationen Griechenlands zu den militanten Protestformen wieder. Zwar wird die „blinde Gewalt“ mit der Zerstörung von Läden und anderen privaten Besitztümern einhellig abgelehnt. Nur die Kommunistische Partei Griechenlands, KKE, geht aber davon aus, dass es sich bei den Zerstörungen durchweg um von Polizei und Geheimdiensten gesteuerte Aktionen von Provokateuren handele. Das Linksbündnis SYRIZA, in dem neben der griechischen Schwesterpartei der deutschen Linkspartei, SYN, etwa ein Dutzend kleinere linke und kommunistische Organisationen zusammengeschlossen sind, hält Gewalt gegen Sachen zwar für kontraproduktiv, gleichzeitig aber angesichts der tödlichen Schüsse auch für verständlich. Für die überwiegende Mehrheit der außerparlamentarischen Linken dagegen sind Angriffe auf Polizeiwachen und Brandsätze in Bankfilialen legitimer Ausdruck der Gegengewalt gegen ein „mörderisches System“. „Wenn die Jugend erschossen wird, braucht die Linke nicht Abbitte leisten“, heißt es beispielsweise in einer Erklärung des „Netzwerks für politische und soziale Rechte“, eines Zusammenschlusses von teilweise auch in anderen linken Organisationen engagierten griechischen Menschenrechtlern. (Gewalt gegen Menschen dagegen ist für die überwiegende Mehrheit allerdings völlig inakzeptabel. Der Mordanschlag auf einen 21jährigen Polizeiposten am 5.1.09, für den die griechische Stadtguerillaorganisation „Revolutionärer Kampf, EA“ zwei Wochen später mit einem Bekennerschreiben die Verantwortung übernahm, wurde fast durchweg verurteilt und erzeugte höchstens bei einem kleinen Teil der anarchistischen Szene Sympathie.)
Weil aber eben nicht nur hunderte von „Schwarzkappen“ sondern auch tausende „normale“ Schüler und Studierende auf der Straße waren, kamen die internationalen bürgerlichen Medien nicht umhin, ihr Augenmerk auch auf die sozialen Hintergründe der Proteste zu richten. Hier machte man sogleich Bildungsmisere, Korruption und die Verarmung von breiten Schichten besonders junger Menschen aus. Dabei wird so getan, als läge die Krise am falschen Management korrupter machtbesessener Politiker. Die Jugend rebelliere, weil sie mittlerweile zu den Verlierern in einem System gehöre, in dem der Staat sich nicht an seine eigenen Gesetze halte und Korruption zum Alltag gehöre, so beispielsweise der Tenor eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung vom 13. Dezember. Als würden 65-Stunden-Woche und flexible Arbeitsverhältnisse nicht europaweit zur Generation hochausgebildeter und prekär bezahlter Jungakademikertaxifahrer führen. Als wäre das gigantische Umverteilungsprogramm zugunsten des Kapitals nicht Ausdruck der Systemkrise, die den „globalen Kapitalismus“ ergriffen hat. Die Angst vor dem „Überschwappen“ ähnlicher Proteste auf die von ähnlichen Problemen betroffene Jugend im eigenen Lande sorgt dafür, dass solche Zusammenhänge in den Medien der herrschenden Klassen tunlichst verschwiegen werden.
Gegen die Bildungsmisere und die ihnen auferlegte Perspektivlosigkeit wehren sich Schüler und Studierende in Griechenland schon seit Jahren, sei es mit Massendemonstrationen, sei es mit teilweise wochenlangen Schul- und Hochschulbesetzungen. In den Sommersemestern 2006 und 2007 aber auch im Sommer letzten Jahres demonstrierten fast jede Woche tausende von Studierenden gegen die Einführung und Umsetzung eines Hochschulrahmengesetzes, das u.a. marktwirtschaftliche Kriterien für das Universitätsmanagement vorsah. Das Gesetz wurde trotzdem verabschiedet, doch die Proteste konnten zumindest eine gleichzeitig angestrebte Verfassungsänderung verhindern, mit der das in Griechenland gültige staatliche Monopol auf die Hochschulbildung gefallen und die Einführung privater, kostenpflichtiger Hochschulen ermöglicht worden wäre. Die unzähligen friedlichen Demonstrationen, die wochenlangen, von Studierendenvollversammlungen beschlossenen und von Professorengewerkschaften gestützten Hochschulbesetzungen fanden jedoch keinerlei Erwähnung in der internationalen Presse. Ohne diese seit drei Jahren laufenden „stillen“ Proteste gegen Bildungsmisere und berufliche Perspektivlosigkeit wären die Proteste im Dezember 2008 sicher nicht mehr als ein zwei Wochen langes und heftiges Strohfeuer gewesen. So aber wurden die sozialen Kämpfe, nicht nur im Bildungssektor, nach Ablauf der Weihnachtsferien wieder aufgenommen. Den Auftakt bildete eine Demonstration tausender Jugendlicher im Januar 2009 in Athen.
Hier ist eine Generation auf der Straße, die sich gegen ein marodes Bildungssystem und das Fehlen von Zukunftschancen auflehnt. In der Wiege der abendländischen Kultur ist die Schulbildung zu einem bloßen Auswendiglernen verkommen. Und selbst das stundenlange Pauken von Fakten reicht nicht, um die an das Abitur anschließenden Eingangsprüfungen für die Universitäten zu schaffen. Wer studieren will, muss sich nach dem Unterricht jahrelang zusätzlich in teuer zu bezahlenden privaten Schulungseinrichtungen, den sogenannten Frontistiria, für die Eingangsprüfungen fitmachen. Wer es sich dann noch leisten kann, geht zum Studium ins Ausland. Denn die seit Jahren rückläufigen Ausgaben des griechischen Staates für die Hochschulbildung ermöglichen schon seit langem keine personelle und sachliche Ausstattung der Universitäten mehr, die eine Bildung vermitteln könnte, die diesen Namen auch verdient.
Und selbst wer diese Tretmühle übersteht oder ein Studium im Ausland bezahlen kann, findet hinterher oft keine Anstellung im gewählten Beruf. Mit 21,4 Prozent Jugendarbeitslosigkeit liegt Griechenland EU-weit auf der zweitschlechtesten Position (hinter Spanien mit 25 Prozent). Viele Jungakademiker müssen sich mit schlecht bezahlten Aushilfsjobs durchschlagen, wenn sie denn überhaupt Arbeit finden. Statt von der im deutschen üblichen „Generation Praktikum“ redet man in Griechenland von der „Generation der 700 Euro Verdiener“.
„Mit Polizei und Gewalt ist keine Bildung möglich!“ Diese in den Dezembertagen oft gehörte Parole fasst vielleicht am besten zusammen, was eine ganze Generation in Griechenland in den Aufstand getrieben hat.
Heike Schrader ist Journalistin und lebt in Athen.
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