DIE GESCHEITERTE REVOLUTION

von Andreas Schreier
aus telegraph #118/119 2009

Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert. (Heiner Müller)

Die Revolution erbricht ihre Kinder
20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit, Friedliche Revolution und Mauerfall, ein glücklicher Ausgang eines schrecklichen Jahrhunderts der Diktaturen (Neubert), ein Ziel wurde erreicht, von dem viele vorher nur träumen konnten: Deutschland in Frieden, Freiheit und Demokratie vereint und in EU und NATO (Eppelmann und Meckel) – Jahr für Jahr wird so den revolutionären Ereignissen von 1989/90 in der DDR gedacht und Jahr um Jahr fällt es schwerer, den Geruch dieser Absonderungen zu ertragen. Viele Aktivisten des Herbstes 89 schweigen heute dazu. Ein paar haben sich unter dem wärmenden Mantel der Geschichteeingerichtet – prostituieren sich im Dienste der herrschenden Geschichtsumschreibung. Dieser Freier zahlt gut, mit Geld aus dem Vermögen der SED. Gern opfert man dafür seine alten Ideale auf dem Altar der Totalitarismusdoktrin. In diesem Akt werden gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Den Einen schmeichelt es das eitle Ego: je schlimmer der Osten, desto bedeutender ihr Widerstand und dem Anderen erleichtert es die Bürde der Vergangenheit: 40 Jahre Bautzen verdrängen vier Jahre Auschwitz (Wippermann).

Vor gut 20 Jahren waren in der DDR die Begriffe Wende, Oktoberrevolution oder einfach Revolution für das, was damals geschah, gebräuchlich. Die aktuelle Sprachregelung ist jetzt Friedliche Revolution, manchmal werden auch unsere, unvollendete, nachholende oder ganz krass protestantische Revolution daraus. In letzter Zeit ist jedoch auffällig, dass der Begriff Friedliche Revolution zunehmend, beispielsweise auf Kampagnen-Logos der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, mit deutsch-deutscher Symbolik wie Mauerfall, Deutsche Einheit, Brandenburger Tor oder der Deutschlandkarte in schwarz-rot-gold verknüpft wird. Die Revolution in der DDR als ein rein ostdeutsches Ereignis tritt ab und an ihre Stelle rückt der Mythos von der nationalen Revolution.

Die deutschen Revolutionen
Alle Revolutionen in Deutschland sind bekanntlich gescheitert. Ist nun die Wende von 1989 die erste erfolgreiche Revolution in der deutschen Geschichte?

Der Deutsche Bauernkrieg, die erste frühbürgerliche Revolution in Europa, wurde brutal niedergeschlagen. Brecht bezeichnete sie als das größte Unglück in der deutschen Geschichte, weil durch ihr Scheitern und den darauf folgenden Dreißigjährigen Krieg das revolutionäre Potential in Deutschland für Jahrhunderte erledigt war. Es herrschte die Reaktion. Auch die Niederschlagung der Märzrevolution von 1848 hatte langfristige Folgen für die deutsche Geschichte: Die im Lauf der Jahrzehnte zunehmende ideologische Überhöhung und Verklärung des deutschen Nationalismus und Militarismus, die mit einer gleichzeitigen Diskreditierung demokratischer Ideale durch die politisch herrschenden Gesellschaftsschichten einher ging, beförderte mittel- bis langfristig in immer stärkeren Maße auch antisemitische Ressentiments und das verstärkte Aufkommen rechtsextremer, im damaligen Sprachgebrauch „völkisch“-nationalistischer Gruppen und Parteien. Diese Entwicklungen trugen schließlich mit zu den Kriegen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bei Erster Weltkrieg, Zeit des Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust. (Wikipedia) Mit der Ermordung Liebknechts und Luxemburgs und der Niederschlagung der Münchner Räterepublik endete auch die Novemberrevolution von 1918/19 in einer Niederlage. Durch den Verrat der SPD-Führung wurden die alten reaktionären Eliten verschont – mit den bekannten Folgen.

In der DDR war alles real nur nicht der Sozialismus
Zwanzig Jahre nach den Ereignissen von 1989 wird heute vielerorts der Eindruck vermittelt, der zweite Aufstand gegen die SED in der Geschichte der DDR war eine Revolution gegen die kommunistische Diktatur mit dem ausschließlichen Ziel, die deutsche Wiedervereinigung herbeizudemonstrieren. Wem die Stasi nicht das Gehirn geklaut hat, weiß, dass die Gesellschaft, in der man Ende der 80er Jahre lebte, kein Kommunismus sein konnte, nicht einmal Sozialismus. Kommunisten oder Sozialisten wie Janka, Bahro, Havemann, Hermlin oder Biermann (als er noch bei Verstand war) musste man immer mit der Lupe suchen. Die meisten Parteibonzen, denen man begegnete, waren schnöde Karrieristen. Der Dramatiker Heiner Müller sagte damals: Es ist unsinnig, von einem Scheitern des Sozialismus zu reden, denn den Sozialismus hat es bisher nur in den Köpfen von Intellektuellen gegeben. Und vielleicht als Traum von ein paar Millionen Leuten. Aber die Realität des Sozialismus war der Stalinismus, und das heißt: die Kolonisierung der eigenen Bevölkerung.

Eine der wirksamsten Strategien die SED zu kritisieren war, von links her zu argumentieren. So ordneten sich denn auch die meisten Gruppen und Aktivisten der DDR-Opposition politisch irgendwo in das eher alternative, sozialistische oder anarchistische Spektrum ein. Man argumentierte mit Luxemburg und Marx gegen die SED, sprach von gesellschaftlicher Verantwortung und wollte keine kapitalistischen Verhältnisse in der DDR, sondern einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Hier traf man sich auch mit vielen Künstlern, Intellektuellen und kritischen SEDlern. Im Herbst 89 war es dann so weit: Die oben konnten nicht mehr und die unten wollten nicht mehr. Durch Proteste und Demonstrationen wurde eine gewaltige Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung in Gang gesetzt. Die Revolution als Lokomotive der Geschichte nahm Fahrt auf. Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, zu der u.a. Wolfgang Ullmann und Regine Hildebrandt gehörten, schrieb damals in einem Aufruf für einen Volksentscheid:

WIR MEINEN: Sozialismus sollte auf dem Mehrheitswillen der Bürgerinnen und Bürger und nicht auf der festgeschriebenen Führungsrolle der SED beruhen. Sozialismus hört mit dem Ende solcher Vorherrschaft nicht auf. Er fängt mit lebendiger Demokratie erst richtig an.

Die Menschen organisierten sich selbst in Bürgerkomitees, Betriebs- und Soldatenräten, unabhängigen Gewerkschaften. Sie besetzten Häuser und gründeten Zeitungen. Diese Ereignisse trugen alle klar die Merkmale einer echten Revolution – leider nur gerade so lange, wie sie nicht von Forderungen nach der deutschen Einheit dominiert wurden. Das war in den ersten Monaten sehr wohl der Fall. Auf den zahlreichen Demonstrationen in Berlin sah man so gut wie keine Deutschlandfahnen, das Brandenburger Tor oder die Mauer waren nie das Ziel, obwohl es für die tausenden Teilnehmer kein Problem gewesen wäre, dorthin zu gelangen und so traf die Maueröffnung im November alle Protagonisten völlig unvorbereitet. Der damalige Aktivist Bernd Gehrke bemerkte treffend: Für die Machtclique um Krenz war die Maueröffnung kein Akt der Befreiung der Bevölkerung, sondern ein Akt der Gegenrevolution, der ihre Macht durch Dampfablassen aus dem revolutionären Druckkessel verlängern sollte, so, wie die Gegenrevolution stets versucht hat, die Weinkeller zu öffnen, um das Volk durch Alkohol vom Sturm auf die Festungen der Macht abzuhalten. Und in der Tat hatte die Maueröffnung die nämliche Wirkung. Von einem Tag auf den anderen halbierte sich zunächst die Energie gegen das Regime durch die Einkaufs- und Besichtigungsfahrten in den Westen, um danach mit doppelter Energie — provoziert durch die immer neuen Skandale der Herrschenden — zurückzukehren, nun aber immer weniger mit dem Wunsch, durch eigene demokratische Anstrengungen ein besseres Leben zu erreichen, sondern durch den Verzicht darauf, den immer wohlfeiler propagierten Wohlstand des Westens geschenkt zu bekommen. So wurde die Maueröffnung nicht der krönende Akt einer revolutionären Demokratie, sondern der Reaktion, der die stalinistischen Herrscher im Osten vor der Volkswut rettete und den Konservativen im Westen die Mittel in die Hand gab, die Wiedervereinigung zu ihren Bedingungen zu diktieren und die Ausbreitung der Demokratiebewegung in den Westen zu verhindern.

Als die Forderungen spätestens ab Dezember 1989 zunehmend deutsch-nationaler wurden, war auch die Bewegung nicht mehr revolutionär, sondern fremdbestimmt. Lothar de Maizière in einer Rede zum 10. Jahrestag der Deutschen Einheit: Hier von Dresden aus ist im Dezember 1989 von dem Platz, vor der nun wieder entstehenden Frauenkirche durch den Beifall der Dresdner zur Rede von Helmut Kohl, ist das entscheidende Signal für einen radikalen Wechsel in den politischen Zielen gegeben worden. Aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ wurde der Ruf „Wir sind ein Volk.“

Kein anderes Ereignis, wie die Modifikation dieser simplen Parole, symbolisiert so treffend die Wende in der Wende. Der Westen hatte sich erfolgreich der Bewegung bemächtigt, der Schritt von der Revolution zur Gegenrevolution war vollbracht. Die wie immer gut informierte BILD-Zeitung wusste es allerdings schon früher als andere: Am 11. November 1989, zwei Tage nach dem Mauerfall, schreibt BILD: „Wir sind das Volk“ rufen sie heute – „Wir sind ein Volk“ rufen sie morgen! Wie weitsichtig. Wie dieser Massenspruch in der DDR gedreht wurde, erzählte uns der Spin-Doctor, Peter Radunski, damals Chef der Öffentlichkeitsarbeit der West-CDU, vor einigen Jahren im Deutschlandradio Berlin.

Peter Radunski: Wir haben festgestellt, das war auch stark diskutiert worden im Bundesvorstand und Präsidium, dass eigentlich die Selbstbestimmung nicht das sein kann, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann. (…) Hinter den Kulissen stemmt die Bundes-CDU in der Woche vom 11. bis 17. November einen Aktionsplan. Es gilt, die Meinungsführerschaft zu übernehmen: Radunski: Eine Sitzung war am 16. abends im Adenauerhaus, eine so genannte Kommunikationsrunde. Und bei dieser Kommunikationsrunde, das kann ich aus meinen Notizen deutlich sehen, ist gesagt worden: Kinder, wir machen ein Plakat „Wir sind ein Volk“. Das heißt, in Weiterentwicklung des Slogans, der in der damaligen DDR skandiert wurde: „Wir sind das Volk“. (…) Wir haben das nicht zentral gemacht, aber wir haben sehr frühzeitig gewissermaßen die Aufgaben aufgeteilt: ihr Hessen, ihr kümmert euch um Thüringen beispielsweise, ihr Württemberger um Sachsen. Wir haben sie alle gebeten, helft. Und dabei sind sicher auch Junge-Unions-Leute nach den einzelnen Teilen der DDR gekommen und haben sicher da auch die Wandzeitung oder das Plakat „Wir sind ein Volk“ hochgehalten. Aus einem schriftlichen Vermerk der CDU-Bundesgeschäftsstelle geht hervor: Versand an die Kreisverbände/ Plakate „Wir sind ein Volk“ – Erste Aufl age 12.800 Stück. Aufkleber „Wir sind ein Volk“ – Erste Auflage: 100.000 Exemplare. Zweite Auflage: 300.000 Exemplare.

Aber nicht nur der Westen und seine gegenrevolutionären Höflinge, die Eppelmänner, Meckels, Krauses und Schabowskis, haben die Revolution von 1989 letztendlich zum Scheitern gebracht, sondern auch die SED-Führung, die den Traum der Arbeiterbewegung, Sozialismus, hoffnungslos diskreditierte. Dazu kam wohl auch die Unentschlossenheit und Unfähigkeit der DDR-Opposition breite Bündnisse zu schmieden und zur richtigen Zeit die Machtfrage zu stellen.

Auf jede halbe Revolution folgt eine ganze Konterrevolution
Die Bevölkerung sagte irgendwann basta, keine sozialistischen Experimente. Die DDR hätte aber, wenn überhaupt, nur als demokratisch-sozialistische Alternative zum Westen eine Daseinsberechtigung gehabt. Mit der Abwesenheit von Privateigentum an Banken und den wichtigsten Produktionsmitteln war die Voraussetzung dafür gegeben. Als ein weiteres kapitalistisches Deutschland hatte aber auch eine noch so demokratische DDR keine Chance. Ein wichtiges Merkmal jeder vollendeten Revolution fehlte fast vollständig. In einer Revolution wird normalerweise die Macht der überkommenen Herrschaft gestürzt und durch die der Revolutionäre ersetzt. Der Osten bekam Kohl. Der emanzipatorische Charakter, den eine vollendete Revolution gehabt haben müsste, wurde 1990 durch westdeutsches Recht und, wie im Falle der Mainzer Straße, auch durch massive westdeutsche Polizeigewalt eingedämmt. Ein wirklich revolutionärer, qualitativer gesellschaftlicher Sprung wurde erfolgreich verhindert. Der Osten kam vom Regen in die Jauche.

Welche Ziele haben nun die Revolutionäre der DDR-Opposition erreicht? Nehmen wir einige Beispiele.

Die Forderung nach militärischer Abrüstung: Atomwaffen sind nach wie vor in mehreren Bundesländern stationiert, ganz Deutschland ist in der NATO und führt, im Gegensatz zur damaligen DDR, wieder weltweit Krieg.

Die Forderung nach Abschaffung der Geheimdienste: Wir haben heute in der Bundesrepublik Möglichkeiten geheimdienstlicher, polizeilicher und privatwirtschaftlicher Überwachung, von denen die Stasi nur träumen konnte. Die Forderung nach besserem Umweltschutz und Ökologie: Luft und Flüsse in Ostdeutschland sind sauberer geworden – als Abfallprodukt und zum Preis der Deindustrialisierung des Ostens. Auch Atomkraftwerke werden in Deutschland weiter betrieben und Atommüll wird quer durchs Land transportiert.

Natürlich haben wir einige bürgerliche Rechte wie Versammlungs-, Presse- und Reisefreiheit dazu bekommen. Mal abgesehen davon, dass, wenn man kein Geld hat, diese Rechte für den Einzelnen nicht allzu viel Wert haben, wurden diese bürgerlichen Rechte gegen viele soziale Rechte eingetauscht. Sehr viele Ostdeutsche haben heute keine Arbeit, Zehntausende flüchten deshalb jedes Jahr in den Westen. Das Gesundheits- und Bildungssystem stehen im ganzen Land vor dem Abgrund, Existenzangst ist im Osten weit verbreitet. Laut FAZ schreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung zum demografischen Wandel in einer neuen Untersuchung seinem Auftraggeber, dem Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, dass es in den neuen Bundesländern Landstriche gäbe, die niemals den deutschen Entwicklungsdurchschnitt erreichen könnten und in denen sich öffentliche Förderung deshalb nicht mehr lohne. „Manche Regionen sind nicht förderbar“. In den „abgekoppelten“ Gegenden seien keine Investitionen zu erwarten, es fehlten motivierte Lokalpolitiker, gut ausgebildete und innovative Arbeitskräfte. Daran änderten auch aufwendige Infrastrukturbauten, Entwicklungsprogramme oder der Einsatz von Beratern nichts. Der Staat sollte sich in diesen „verlorenen Räumen“ auf die Daseinsvorsorge beschränken und auf weitergehende Förderung verzichten. Es sei „der Öffentlichkeit klar zu sagen, dass die grundgesetzlich festgelegte, Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse‘ nicht mehr gewährleistet werden kann“. Nicht nur gemessen an den erreichten Zielen der DDR-Opposition muss die Revolution von 1989 also als gescheitert gelten. Damit bewegt sich unsere Revolution in der Tradition aller deutschen Revolutionen. Die Deutschen erlebten auch dieses Mal wieder die Freiheit erst am Tag ihrer Beerdigung. Dass das Ende der Geschichte, wie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks oft prophezeit, keineswegs in Sicht ist, zeigt uns die aktuelle schwere Krise des Kapitalismus. Vielleicht gibt es, sagen wir einmal, in fünf Jahren, bei der nächsten großen Systemkrise erneut die Gelegenheit, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen und der Zusammenbruch des Ostens wäre am Ende nur der Prolog für den Zusammenbruch des Westens. Zeit wär´s.

Andreas Schreier engagierte sich in der DDR in der Friedens-, Umwelt- und Antifabewegung. Er war Mitarbeiter am Zentralen Runden Tisch und in dessen Arbeitsgruppe Sicherheit zur Auflösung des MfS. Er ist Redakteur dieser Zeitschrift.

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