Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Mathieu Rigouste, Wissenschaftler am Institut Maghreb Europe der Universität Paris
aus telegraph #118/119
Aus den öffentlichen Debatten über AusländerInnen oder MigrantInnen scheint der Begriff der «Integration» nicht mehr wegzudenken. Welche Entstehungsgeschichte hat der Begriff in Frankreich?
Dieser entstand ursprünglich in der Kolonialzeit. Damals bezeichnete er ein juristisches System, welches den Kolonisierten einen Status und die gleichen Rechte wie die der Franzosen geben sollte. Die parlamentarischen Debatten führten aber zu zwei voneinander getrennten Rechtssystemen.
Erneut tauchte der Begriff Ende der 1970er wieder auf, als klar wurde, dass die Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien sich dauerhaft in Frankreich niederlassen werden und ihre Kinder nach dem Geburtsortsprinzip (ius soli) französische Staatsbürger werden. Da kommt der Begriff wieder ins Spiel, so als wäre es notwendig, eine Grenze zwischen den Franzosen zu errichten.
Ende der Siebziger Jahre wird in den politischen Debatten und den großen Medien die Frage gestellt: Wer ist ein richtiger Franzose und wer ein falscher? Nach der Revolution im Iran beschäftigt man sich auch damit, ob französische Moslems sich gegenüber der französischen Regierung loyal verhalten oder sich einer fremden islamischen Macht verpflichtet fühlen würden.
In Frankreich hängen solche Bedenken mit einer Debatte über Identität und Sicherheit zusammen, gerade zu einem Zeitpunkt, wo versucht wird, die Republik neu zu definieren: Wer sind die wahren Franzosen? Wer gefährdet die Unversehrtheit des nationalen Territoriums? Wer bedroht die Republik? Darum dreht sich der Integrationsdiskurs in den Achtziger Jahren. Die eigentliche Frage dahinter heißt: Was ist die Republik? Das ist nämlich unklar. Davon fehlt ein Konzept. Also wird versucht, die Republik über ihre Feinde zu definieren. Das aber verdreht komplett den Integrationsbegriff der Kolonialzeit. Es geht nicht mehr darum, die Anderen aufzunehmen und ihnen gleichwertige Rechte zu geben, sondern es wird von ihnen verlangt, sich einer souveränen Ordnung zu unterwerfen: Der Republik.
Lässt sich „Integration“ wissenschaftlich definieren?
Nein. Viele von uns Wissenschaftlern setzten sich dafür ein, diesen Begriff aus der Methodik der Sozialwissenschaften herauszuhalten. Es gibt keine „Mechanismen der Integration“. Es gibt multikulturelle Aspekte, Austausch, Begegnung. Aber vor allem Konflikt, Widerstand, Herrschaft. Es kann untersucht werden, wie ein Migrant Widerstand leistet und beherrscht wird.
Die Integration untersuchen heißt, sich mit den vorherrschenden Diskursen über Integration zu befassen. Die Art und Weise zu erforschen, wie politische Maßnahmen, mediale und militärische Diskurse eine ganze Reihe an Metaphern hervorbringen, die „Freund“ und „Feind“ konstruieren. Das dient dazu, zwischen denjenigen zu unterscheiden, die als Verhandlungs- und Kooperationspartner in Frage kommen, und denjenigen, die überwacht, eingesperrt und abgeschoben werden müssen. Integration ist ein völlig subjektiver Begriff. Er hängt von der Perspektive ab, die die Gesellschaft einnimmt. Seit den Siebziger Jahren ist von Integration stets im Zusammenhang mit Repressionsmaßnahmen oder Abschiebungen die Rede. Die Entscheidung, 1973 die Grenzen für die Familienzusammenführung zu schließen, oder die Einführung der sog. „Stoléru-Million“ [Ein Zuschuss in Höhe von damals 10.000 Francs, der Einwanderern einen Anreiz zur Rückkehr geben sollte. Benannt nach dem französischen Staatssekretär Lionel Stoléru (Parti Socialist), der diese Maßnahme 1977 einführte, Anm. KM] werden von einem Diskurs begleitet, der erklärt: „Wir werden einen Teil abschieben, der nicht assimilierbar ist, und einen anderen Teil behalten, und von ihm verlangen, dass er sich integriert“. Die Integration ist als positives Gegenstück einer repressiven Politik gedacht. Sie soll institutionelle Widersprüche verschleiern und den Ausschluss der Migrant_innen rechtfertigen.
Würden Sie es als Rassismus bezeichnen, zwischen Integrierten und Nicht-Integrierten zu unterscheiden, zwischen denjenigen, die Rechte besitzen und denen, die ihnen abgesprochen werden?
Bei Gründung der kolonialen französischen Republik wurden Indigene in Rassenkategorien eingeordnet. Es war die Rede von moslemischen Franzosen aus Algerien oder Franzosen nordafrikanischer Abstammung. Dies geschah im Gegensatz zu „reinblütigen“ Franzosen. In der post-kolonialen Republik ist die Argumentation genau die Gleiche.
Anstatt aber von Moslems als Rasse zu sprechen, werden sie heute als Angehörige einer homogenen, geschlossenen und nicht assimilierbaren Kultur dargestellt. Zwischen Religion, Kultur und Sitten wird kein Unterschied gemacht. Dieser Diskurs führt genau zum gleichen Ergebnis: Es entsteht eine Art exogener Körper, dessen Sein entweder unassimilierbar ist oder eine Bedrohung darstellt, jedoch bei Einhaltung einiger institutioneller Vorschriften aufgenommen werden könnte. Im Hinblick darauf wird das französische Denken von einer Form des Rassismus geprägt, der sich als Kulturalismus äußert: Ein Rassismus, der als ein Diskurs über die Kultur aufgetakelt daherkommt.
Wie ist diese Art von Apartheid-System zu erklären, wo doch für die französische Gesellschaft die republikanischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine zentrale Rolle spielen sollten?
Während der Kolonialzeit wurde juristisch festgeschrieben, dass bestimmte Personen, aufgrund dessen, dass sie an einem bestimmten Ort geboren oder einer bestimmten „Rasse“ zugeordnet wurden, keinen Zugang zu allen Rechten erhalten.
Im post-kolonialen Frankreich hingegen gilt: Wer im Land geboren wurde ist zugleich Franzose und verfügt theoretisch über alle Rechte. Dafür wurde auf nicht-juristischer Ebene ein Fremdkörper konstruiert. Heute basiert der Ausschluss, die Verbannung aus dem „Existenzrecht“, nicht etwa auf juristischen Verfahren. Sie ist vielmehr symbolisch.
Genau hier spielen die Medien, die eine zentrale Funktion bei der Herstellung des gesellschaftlichen Imaginären haben, eine Rolle – es geht um die Herstellung des „richtigen“ und des „falschen“ Franzosen. Der Ausschluss ist symbolisch und wird kulturell, aber auch institutionell hergestellt. Die Polizei greift nämlich im wohlhabenden 16. Pariser Arrondissement (Bezirk) nicht in der gleichen Weise durch, wie im 18. Arrondissement. Die Art des Durchgreifens soll klar machen, dass die Dinge unter Kontrolle sind und diese prägt sich in das Bild des kollektiven Imaginären ein. Jemand, der im 18. Arrondissement aufwächst, hat nicht das gleiche Recht auf Existenz wie ein Anderer, der im reichen Vorort Neuilly groß wird. Das System der Verbannung wurde so fortgesetzt und reicht über das Rechtssystem hinaus.
Aber die Sonderkontroll-Maßnahmen richten sich ja nicht nur gegen MigrantInnen. Wie erklären Sie das?
In Frankreich trifft diese Verbannung nicht nur die nicht-weißen Franzosen und Ausländer, sondern auch die armen Weißen. Ein schwarzer Mann also, dessen kulturelles und symbolisches Kapital es ihm ermöglicht als gut situierter Bürger aufzutreten, kann sich von bestimmten Formen der Ausgrenzung erfolgreich emanzipieren. Jedoch nicht von allen. Denn die Polizeikontrollen betreffen ihn genauso wie die Armen aus den Arbeitervierteln.
Ein vollberechtigter Franzose zum Beispiel wird somit durch das Stereotyp einer politischen Führungskraft Frankreichs repräsentiert: Ein weißer, christlicher oder atheistischer vierzigjähriger Mann. Alle, die davon abweichen, unterliegen Kontroll- und Einrahmungsformen, sowie Formen einer außergewöhnlichen gesellschaftlichen Ächtung. In der Tat wird diese aber in Zeit und Raum generalisiert. Darin besteht das Konzept der Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen. Dass sie Ausgrenzungs-Verfahren unterzogen werden, welche die Gruppe der vollberechtigten Franzosen nicht umfassen.
Folgen die Diskurse über den Ausländer den Krisen des Kapitalismus?
Die Studie von Ralph Schor über die Dreißiger Jahre hat dies erforscht. Ich habe die Siebziger und Achtziger Jahre gründlich untersucht. Der Zusammenhang ist auch hier offenkundig. Der Diskurs taucht auf, sobald die Wachstumsrate sinkt. In den Siebziger Jahren wurden aber andere Argumente vorgebracht. So hat das Institut National d’Études démographiques (Nationales Institut für Demographische Studien) zum Beispiel, das absurde Prinzip der „Toleranzschwelle“ propagiert. Danach solle der Rückgang der Geburten bei den „echten“ Franzosen im Vergleich mit einem Geburtenüberschuss bei den Franzosen aus den ehemaligen Kolonien die Überschreitung einer Grenzlinie darstellen. Dabei kann man auch sehr gut nachvollziehen, wie der Rassen-Begriff parallel zur Entwicklung des Diskurses über den Niedergang des Westens instrumentalisiert wurde. Wenn man sich aufmacht, die republikanische Ordnung wiederherzustellen, wenn Sicherheitsnetzwerke zur Wiederherstellung „der wahren französischen Kultur“ entwickelt werden, dann zielt das auf die Konstruktion eines kulturellen Feindes ab. Ein Feind, der angeblich die Fundamente der „echten französischen Kultur“ verhöhnt. Diese Prozesse wirken sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik. In einer politischen Krise – ausgelöst durch ein Attentat oder diplomatische Spannungen- werden Staatsangehörige des verantwortlich gemachten Landes sofort als fünfte Kolonne dieser ausländischen Macht hingestellt. So als diene der Fremdkörper im Volk als Sicherheitsventil zur Wiederherstellung der Ordnung. Um die Wiedereinführung der Ordnung zu rechtfertigen, muss im kollektiven Imaginären eine Bedrohung konstruiert werden. Kontrolle, Repression und Abhängigkeit müssen als erstrebenswert erscheinen. Dabei wird gerade das Andersartige – der Ausländer oder der politisch Andere – für die Krise verantwortlich gemacht, die in Wirklichkeit strukturell ist, da sie mit der Entwicklung der Gesellschaftsstrukturen verbunden ist.
Worauf gründen Sie die Überzeugung, dass es sich hierbei um eine strukturelle Krise handelt?
Man muss vom Konzept des Systems ausgehen. Bei der Einrichtung eines Produktions-Systems muss eine gewisse Anzahl der Bevölkerung Ausbeutungs-Bedingungen unterworfen werden. In Systemen zentralisierter Macht beauftragen die herrschenden Gruppen dazu den Staat. Zur Kontrolle der Bevölkerung bedarf es des Imaginären. Denn weder die Repräsentanten des Staates, noch die der Wirtschaft dürfen für die Fehler des Systems verantwortlich gemacht werden.
Dazu müssen Spaltungen in der Bevölkerung geschaffen und Diskurse in Umlauf gebracht werden, deren Ziel es ist, dass es der Bevölkerung gefällt, beherrscht zu werden, ihre Meister nicht zu hassen, sondern etwas anderes. Das funktioniert nach dem Sündenbock-Prinzip. Die Idee der Nation und des Nationalismus tragen dazu bei. Die Sicherheitslogik ist eine Vorstellung von Ordnung und Norm, in der die Bevölkerung das zu Sichernde ist und gleichzeitig auch die Quelle, aus welcher die Bedrohung entspringt. Ziel ist es, dass die Bevölkerung sich selbst kontrolliert. Folgt man dieser Vorstellung, erweist sich das Konstrukt des Ausländers als Bedrohung als sehr brauchbar. Die Angst ist eine politische Waffe in der Hand des Fürsten.
Die Debatte über Integration bezweckt also die Aufrechterhaltung der Ordnung?
Und die Rechtfertigung der Souveränität und der Macht des Staates. Aber die Debatten entwickeln sich auch zufällig und werden politisch instrumentalisiert. Die sicherheitspolitische Wende hat in Frankreich Ende der Achtziger Jahre stattgefunden, als die Linken beschlossen haben, sich das Terrain für den Themen-Komplex der Ausländerfeindlichkeit zurückzuerobern und sie sich dem bestehenden „Konsens“ angeschlossen haben, nach welchem Kriminalität nicht mehr auf soziale Ursachen zurückzuführen sei, sondern mit Repressionen bekämpft werden sollte. Als die Linke begann, die Einwanderung wie eine Flut zu behandeln, die eine Toleranzgrenze überschritten haben soll, hat sie zu einem Modell gefunden, das der extremen Rechten zuzuordnen ist. Darauf war bereits während des kalten Krieges die gesamte Rechte eingeschworen. Die Linke hat es sich Ende der Achtziger Jahre zu Eigen gemacht und in den Neunzigern weiterentwickelt. Das Ergebnis heute: Das ganze politische Spektrum ist sich darüber einig, dass es angeblich zu viele Ausländer gibt. Dass die Grenzen dicht gemacht werden müssen, die Überflüssigen abgeschoben und die Kriminellen, die sehr oft mit den Ausländern gleichgestellt werden, bestraft werden müssen.
Ab den Neunziger Jahren bekommt die religiöse Frage einen Stellenwert, den sie früher nicht hatte. Warum?
Das Lancieren von Vorstellungen über den Islam und das Patriarchat diente dazu, diejenigen zu spalten, die den Rassen-Begriff ablehnten. Es gibt in den Herrschafts-Vorstellungen drei große Kategorien: die Rasse, das Geschlecht und die Klasse. Als die Debatte darauf stieß, dass unter dem Rassen-Begriff eingeordnete Menschengruppen offensichtlich diskriminiert werden, brach eine ideologische -von den Staatsapparaten angeheizte- Diskussion über das Geschlecht aus.
In Frankreich machte sie sich am Kopftuch fest. Die antirassistische Kritik hat es komplett destabilisiert, dass der moslemische Mann als Verfechter des Patriarchats hingestellt wurde. Dass das Kopftuch ein Instrument der männlichen Herrschaft ist, möchte ich auf keinen Fall in Frage stellen. Nichtsdestotrotz ist es mit den Debatten über das Kopftuch gelungen – die ja keine Gender-Debatten sind, aber als solche in einer multikulturellen Gesellschaft hingestellt werden – diejenigen, die gegen Diskriminierungen kämpften, zu spalten. Außerdem ermöglichte ein Diskurs des „Wir können sie nicht bei uns behalten, weil sie die Frauen dominieren“ die Tatsache zu verdrängen, dass die französische Gesellschaft selbst patriarchalisch und phallokratisch ist. Die Frage der männlichen Herrschaft an sich wurde auf die Anderen delegiert. Es seien die Moslems, die die Frauen unterdrücken, die Nicht-Moslems unterdrücken sie angeblich nicht. Dies führte dazu, dass Moslems nicht mehr als Diskriminierte, sondern als Diskriminierende angesehen wurden, und dies geschah gleichzeitig als das französische Modell legitimiert wurde.
In den Neunziger Jahren hat die Kopftuchdebatte ein unglaubliches Chaos bei den Linken ausgelöst. Einige, die im Kopftuch nichts anderes als ein Herrschafts-Instrument sahen, haben die Opfer einer bestimmten Ordnung zu den Schergen einer anderen erklärt.
Die Hauptarbeit der Kämpfe in den Banlieues zielt heute darauf ab, diese Gemengelage zwischen männlicher, rassistischer Herrschaft als auch der Klassenherrschaft zu entwirren. Daran schließt wiederum die Debatte über die Sichtbarkeit der Minderheiten im Fernsehen. Das Problem der Diskriminierung wird auf die Frage des Raums für Minderheiten in den Medien reduziert. Also werden Vertreter der „Minderheiten“ eingestellt. Diese Leute sagen zwar genau das Gleiche wie die Anderen, aber sie sind Schwarze oder Araber. Es ist die Logik des Spektakels. Das Problem wird durch Bilder gelöst, anstatt an den Strukturen etwas zu verändern. Statt das ökonomische und politische System in Frage zu stellen, das sich auf die Spaltung der Arbeiterklasse stützt und die Nicht-Weißen noch stärker ausgrenzt, werden die diskriminierten Bevölkerungsgruppen dazu benutzt einen ausländerfeindlichen Diskurs zu rechtfertigen. Sie werden zu Marionetten gemacht. Genau wie in der Kolonialzeit die Harkis dazu benutzt wurden, um die Kolonisierten zu kontrollieren. Ich erinnere daran, dass die größte Anzahl algerischer Funktionäre im Staatsdienst während des Krieges in Algerien zu verzeichnen war. Weil man damals die Ansicht vertreten hat, dass die Anwesenheit von Moslems in den staatlichen Strukturen die Aufrechterhaltung der Ordnung legitimieren wird.
Wie wurde die Bewegung Ni Putes Ni Soumises („weder Huren noch Unterwürfige“) in den Banlieues wahrgenommen?
Wie ein Angriff. Ihr Diskurs besteht darin, zu sagen: „Der arme Mann aus dem Arbeiterviertel, der zusätzlich noch Moslem ist, unterdrückt die Frauen“. Das lässt die Unterdrückung der bürgerlichen und jüdisch-christlichen Frauen außen vor. Diejenigen, die in den Banlieues aufgewachsen sind, wissen, dass sich die Mehrzahl der jungen Frauen dort nicht etwa versteckt hält. Sie haben auch eine große Klappe. Sie können sich durchsetzen, auch wenn sie von jeher mit einem weit verbreiteten Machismo konfrontiert sind.
Der Diskurs von „Ni Putes Ni Soumises“ leuchtete bestimmten Linken, die nicht in den Vierteln leben, absolut ein. Demnach leben unterdrückte Frauen in Frankreich ausschließlich in den Arbeitervierteln und die Unterdrücker sind die Moslems. „Ni Putes Ni Soumises“ stellt genau das gleiche Phänomen dar wie SOS-Racisme am Anfang der Achtziger Jahre. Es ist ein Konstrukt der sozialistischen Partei, das darauf abzielt, durch Spaltung und Instrumentalisierung eine Wählerschaft in den Banlieues zu gewinnen.
Hat sich seit dem Aufruhr in den Banlieues im Herbst 2005 etwas im herrschenden Diskurs über Ausländer geändert?
Der Aufruhr der Arbeiterviertel im Herbst 2005 war wie ein Erdbeben. Er wirkte wie ein Signal, um für die Viertel einen ganzen Abriegelungs-Apparat zu konstruieren. Das Ziel war, die soziale Bewegung in den Vierteln zu entpolitisieren. Es gab natürlich auch vorher schon Elemente davon. Die Aufstände erlaubten der herrschenden Ordnung ihr Kontrollarsenal zu testen und damit zu experimentieren, während sie sich in einem postkolonialen Bürgerkrieg wähnte.
Der Entpolitisierungsdiskurs fasste all jene, die Widerstand leisteten, in der Vorstellung von einem unbewussten Feind, dem des Barbaren, zusammen. Ich darf das sagen, weil ich in einer Cité aufgewachsen bin und immer noch dort lebe. Die Mehrzahl der jungen Menschen in den Cités ist extrem politisiert. Dennoch werden die Viertel und die Gewalt als Virus betrachtet. Um sie zu beschreiben, bedient man sich eines medizinischen Vokabulars. Es heißt also, wenn die Krankheit nicht geheilt wird, dann kann sie den ganzen Körper der Nation anstecken. Die Metapher vom Feuer bezweckt die gleiche Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung. Ein Feuer wirft keine politische Frage auf. Das Feuer muss gelöscht werden, sonst wird alles andere brennen. Demzufolge werden Ärzte und Feuerwehrleute in die Viertel geschickt. Sie sind konsequente, ethisch handelnde Wissenschaftler. Ihre Technik ist sauber und präzise. Soziales Elend wird ignoriert. Dies plausibilisiert Aussagen, nach denen zu viele Ausländer aufgenommen worden sind, die nicht arbeiten wollen und nur imstande sind Autos anzuzünden. Es ist eine Strategie, die den Feind entpolitisieren soll. Und wird die gesellschaftliche Gruppe des Anderen entpolitisiert, dann werden ihre Angehörigen zu Untermenschen erklärt, und das legitimiert ihre Vernichtung, sei sie zufällig oder vorsätzlich. Ist der Andere kein politisches Wesen, dann darf er keine Rechte einfordern. Er hat keinen Platz auf dem republikanischen Spielfeld und muss als Bedrohung für die nationale Gemeinschaft behandelt werden.
Haben sich seit diesen Ereignissen die Einwohner in den Banlieues politisch organisiert?
Davon sehe ich wenig. Es gibt trotzdem zahlreiche von Vereinen initiierte Foren im Internet, an denen Leute aus den Vierteln, aus allen Generationen, teilnehmen. Diese Leute sind nicht damit einverstanden, wie die Politiker die Viertel verwalten. Aber von einer wirklichen Organisierung ist nichts zu sehen.
Aber es ist eine Art Rüstzeug geblieben. Der Aufruhr von 2005 hat den Leuten aus den Vierteln vieles deutlich gemacht. Zunächst die Tatsache, dass sie stark sind, dass sie dem Staat und der Polizei Angst einjagen können. Es hat auch zu einem Bewusstsein geführt, dass alle unter denselben Lebensbedingungen leben, dieselbe Wut besitzen, bei der jedoch unklar ist, was man mit ihr anstellen soll. Und es wird alles unternommen, um zu verhindern, dass daraus etwas entsteht. Die Organisationen, die hervortreten, sind jene, mit denen die Stadtverwaltungen gut diskutieren können: Die Migrant_innen-Vereine, die schön innerhalb der demokratischen Spielregeln bleiben, die Jugendlichen, die die Angebote der Stadtverwaltung annehmen.
Das ist gerade das, was an „Ni Putes Ni Soumises“ missfallen hat. Frauen-Organisationen, die in den Vierteln kämpfen, gibt es schon seit Jahrzehnten. Sie waren nie sehr stark, doch gibt es überall welche. NPNS ist aus dem Nirgendwo gekommen, mit Anhängern, die nicht aus den Vierteln stammen oder sie längst verlassen haben, und den Leuten nun sagen wollen, was sie zu tun haben, z. B. wie Pärchen ihre Beziehung organisieren sollen. Das heißt, dass man in den Vororten in sehr viele Bereiche des Lebens eingreifen darf, wobei die Einwohner der Stadtzentren oder der schicken Banlieues danach niemand fragt. Von den zahlreichen Vereinen, die es in Frankreich gibt, werden nur diejenigen bekannt, die mit dem Staat oder der Stadtverwaltung gut kooperieren. Die anderen werden entweder unhörbar gemacht oder auf die Seite derer gestellt, mit denen man nicht diskutieren darf. Dies trifft zum Beispiel für die „Le Mouvement de l‘immigration et des banlieues“ (MIB) (Bewegung der Einwanderung und der Banlieues) zu, welche in den Medien nie vorkommt, weil sie sehr kritisch ist. Das Gleiche gilt für Vereine, die nach einem Polizeimord gegründet werden, um den Familien vor Gericht zu helfen, Debatten mit den Einwohnern zu organisieren, um etwas zu unternehmen, um kollektiv Widerstand zu leisten, wie etwa „Bouge qui Bouge“ in Dammary-les-Lys. Aber diese Versuche selbstorganisierte Bewegungen zu schaffen, die aus dem Sein ins Seiende aufbrechen, werden komplett verschwiegen.
Das Gespräch führten Kamil Majchrzak und Emmanuelle Piriot. Übersetzung aus dem Französischen: Emmanuelle Piriot.
Mathieu Rigouste ist Wissenschaftler und arbeitet am Institut Maghreb Europe der Universität Paris 8, er ist Autor der Studie „L’ennemi intérieur. La généalogie coloniale et militaire de l’ordre sécuritaire dans la France contemporaine“. (Der innere Feind. Die koloniale und militärische Genealogie der Sicherheits-Ordnung im heutigen Frankreich)
La Découverte, 2009.
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