Gespräch mit dem französischen Philosophen François Cusset.
aus telegraph #118/119
Während der letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich konnte man feststellen, dass in Medien und Politik die Ökonomie nie ein Objekt der Kritik darstellt, obwohl sie für soziale Probleme verantwortlich gemacht wird. Wie erklären Sie dieses Paradox?
Die Wirtschaft ist in den Wahlkampfdebatten omnipräsent, jedoch fehlt es an jeglicher Wirtschaftskritik. Die Ökonomie ist selbst nicht mehr Gegenstand der Diskussionen, da über sie ein natürlicher Konsens zu herrschen scheint. Dieser Konsens beruht auf einem seit 25 Jahren währenden fatalistischen, als liberal bezeichneten, Diskurs. Jedoch stellt sich das Ganze aus meiner Sicht etwas komplizierter dar. Die Logik der Ökonomie wurde in eine natürliche, fast biologische Logik überführt: die Logik der Globalisierung. Und es scheint, als ob man nichts gegen diese Entwicklung unternehmen könnte. Selbst Globalisierungsgegner wollen daran nur partiell etwas ändern. Sie hoffen auf ein wenig Barmherzigkeit und eine Tobin-Steuer von 0,1 Prozent.
Dazu kommt bei ihnen eine post-christliche Haltung, die auf etwas Solidarität dringt. Damit wäre der französische antiliberale Diskurs schon zusammengefasst. Da ökonomische Theorien und ihre Logik nicht mehr diskutiert werden, fehlt es nicht nur gänzlich an der Wirtschaftskritik, sondern darüber hinaus werden wichtige existierende Verbindungen zwischen verschiedenen Aspekten nicht mehr hergestellt: zwischen ökonomischer Logik und dem Nichtbestehen sozialer Beziehungen, den allgemeinen existentiellen Bedingungen der Anomie und der Isolation, einer vollständigen Zerstreuung gegenüber der verpflichtenden Individualität. Exemplarisch hierfür scheint mir die Art und Weise zu sein, wie das Thema Schule im Wahlkampf behandelt wird. Im rechten und im linken Lager wird diese Frage isoliert behandelt. Das republikanische Ideal in Frankreich ist eine vom Markt unabhängige Schule. Jedoch wird nie die Unterwerfung unter eine paternalistische, intellektuelle oder republikanische Autorität in Frage gestellt, ob man sich nun die ultrakonservativen Diskurse ansieht, die zurück wollen zu alten Unterrichtsformen; ob es sich um die Diskurse von Post-68ern oder Libertären über die offene Schule handelt; oder sogar um die der kritischen Linken, wonach die Schule den kritischen Geist – besonders gegenüber der Ökonomie – schärfen kann.
Die Schule bleibt einer Logik des Wettbewerbs unterworfen, die sich allerdings unter dem Deckmantel der Gleichheit versteckt. Das, woran sich die Franzosen in ihrem Leben am stärksten erinnern, ist ihr Bestehen bzw. ihr Scheitern bei dieser oder jener Prüfung. Auch wenn das französische Schulsystem zu den egalitärsten gehört, verbirgt sich hinter der republikanischen Egalität die Rechtfertigung der Unterordnung unter eine Hierarchie, unter eine republikanische Ordnung – die nunmehr von einem weitreichenden ökonomischen Diktum bestimmt wird. Tatsächlich werden aber diese Dinge nicht in Verbindung gebracht mit der Logik der Selektion, mit den Gesetzen des Dschungels, mit der Logik der Unterwerfung unter eine Obrigkeit.
Ist mit dem Ostblock auch das kritische Denken im Westen verschwunden?
Äußerte man sich dementsprechend, so würde man für einen verrückten Sowjetliebhaber gehalten werden, der davon überzeugt ist, dass das kritische Denken das Vorrecht dieses morbiden Regimes kleiner Diktatoren sei, die in Wirklichkeit das kollektive Leben dieser Länder komplett in staatliche Verwaltung überführt hatten. Nein! Imaginäre oder zukunftsorientierte Alternativen haben keine Stimme mehr in der Öffentlichkeit, weil die realen Alternativen – so kritikwürdig und diktatorisch sie auch gewesen sein mögen – von der planetaren Bildoberfläche verschwunden sind. In den 1990er Jahren hat der dominierende Diskurs alle alternativen Vorschläge verurteilt und lächerlich gemacht. Ironischerweise lebten kollektive Gefühle in den osteuropäischen Staaten zu dem Zeitpunkt wieder auf, als dort die Liberalisierung besonders gravierend und gewaltig voranschritt. In Frankreich hat sich dieser Diskurs gleichwohl im Zusammenhang mit dem Aufkommen radikaler Bewegungen Ende der 1990er Jahre weiterentwickelt. Allerdings hat das nicht zu einer Rückkehr zu einem auf sozialen Fragen beruhenden gesamtkritischen Denken geführt; das war während der Blüte der marxistischen Strömungen ganz anders.
Heutzutage ist die Kritik genauso scharf und teilweise noch schärfer als zur damaligen Zeit, aber sie ist mit Minderheiten und ihren jeweiligen Kämpfen verbunden. Das stellt für die Linke folgendes Problem dar: das Fehlen einer kritischen Einheit. Feministinnen kritisieren die patriarchalische Logik, Immigranten üben Kritik an institutionellem Rassismus, Kommunisten kritisieren den Liberalismus. Welche Zusammenhänge will sie hier konstatieren? Welche Art Dialog ist möglich? Das alles wird in Frankreich durch den Umstand erschwert, dass die althergebrachten Antiliberalen, die immer noch sehr einflussreichen Kommunisten, dieser Herangehensweise sehr verschlossen gegenüberstehen. Ihr alter republikanischer Hintergrund, der ein Festhalten am sozialen Egalitarismus beinhaltet, führt sie zu dem Schluss, dass Minderheiten das Spiel des Marktes (mit)spielen würden. Ihnen zufolge bedient ein in Minderheiten organisierter Kampf den Markt, weil der Markt segmentiert: das Marketing zielt ab auf Frauen, auf Schwarze… Aber gerade weil sie eine Zielscheibe des Marktes darstellen, sollten meiner Meinung nach Minderheiten mit einer kritischen Kraft ausgestattet werden. Diesbezüglich erscheint mir die Situation in Deutschland weitaus fortschrittlicher als in Frankreich. Ursprünglich steht die Tradition der radikalen Kritik nicht nur im Zusammenhang mit der Frage der Minoritäten, sondern sie schlägt auch eine Brücke zur Kapitalismuskritik. Aus der Ferne betrachtet scheint es Deutschland also zu gelingen, zwei gegensätzliche Klippen erfolgreich zu umschiffen: die amerikanische Klippe – eine gegenüber dem Kapitalismus gänzlich unkritische radikale Minderheitenpolitik – und die französische Klippe – eine Kritik des Liberalismus, die allerdings die Minderheitenfrage nicht stellt bzw. sie umgeht.
Liegt der Ursprung für die Suche nach Lösungsansätzen in der Minderheitenproblematik in der Schwierigkeit begründet, globale Kritik zu üben?
Diese Frage ist für alle neuen Bewegungen zentral. Globales Denken ist hier fast ein terminologischer Widerspruch. Denn alles Globale bestärkt de facto Markt und Herrschaft. In den USA und in Deutschland sind die mit Minoritäten verbundenen Bewegungen sehr fortschrittlich. Sie arbeiten und kämpfen gezielt. Sie wollen nicht nur ihre Interessen vertreten, sondern sie sind auch der Ansicht, dass man bestimmte Ergebnisse nur durch Kämpfe auf sehr spezifischen Ebenen erzielen kann. Anderenfalls wäre alles nur Gerede oder man wäre gezwungen, im System mitzuspielen. Wenn man sich die Kämpfe der Initiativen gegen Aids ansieht, die Kämpfe für die Verteidigung von Migrant_innen, die feministischen Bewegungen… sicherlich haben diese Bewegungen nicht jedes ihrer angestrebten Ziele erreicht, da die Macht nicht auf ihrer Seite ist. Aber ihre Kämpfe sind dauerhafter, wirksamer und entschlossener als die der Kommunisten oder Trotzkisten. Sie bedienen sich anderer Aktionsformen als nur Demonstrationen zu organisieren. Ich glaube, dass die heutige Kritik nur radikal und pragmatisch sein kann, das heißt, von einer bestimmten Ebene ausgehend muss man bis zum Ende gehen. Danach stellt sich allerdings die Frage nach den Verbindungen zwischen den einzelnen Kämpfen. Das ist eine sehr komplexe taktische Frage, die in Frankreich überhaupt nicht gelöst ist.
Wer könnte jetzt in Frankreich das Bindeglied zwischen diesen verschiedenen Bewegungen sein? Eine politische Partei, eine Gewerkschaft?
Die Kluft zwischen den Anhängern einer althergebrachten Arbeiterklasse, die Arbeit als absoluten Wert verteidigt, und denen dieser neuen Bewegungen ist fast tiefer als die Kluft zwischen rechts und links. Erstere war es, die in den 1980er Jahren durch ihren „Korpsgeist“ die soziale Bewegung zu Fall gebracht hat. In ihrem Diskurs haben sie Arbeitslosigkeit als eine schmähliche Krankheit, eine Entsozialisierung dargestellt. Sie wurden sich nicht darüber bewusst, dass man schon damals die konträre Position hätte verteidigen müssen: sagen, dass andere Lebensformen möglich sind, kollektive, jene die vom Tausch leben, künstlerisches Schaffen und Non-Profit-Arbeit, sowie alle nicht entfremdeten kollektiven Aktivitäten.
Sie beginnen Ihr Buch „La décennie“ mit der Feststellung, dass 1968 nicht nur das Jahr der Revolten war, sondern dass sich gleichzeitig die Konsumgesellschaft als auch rechtsextreme Bewegungen wie GRECE in Frankreich entwickelten. Warum war es Ihnen wichtig, daran zu erinnern?
Dieser historische Rückblick ist im übertragenen Sinn zu verstehen. Ich wollte unterstreichen, dass sich 1968 sehr unterschiedliche Ereignisse abspielten und wollte der allgemeingültigen Meinung widersprechen, dass 1968 einzig das Jahr der Studentenrevolten war. Mein ganzes Buch wird von der Kritik an der derzeitig vorherrschenden Vision des Jahres 1968 umrahmt; eine Vision, die darauf baut, das Phänomen 1968 mit seinem Ende zu erklären. Wie alle westlichen Studentenbewegungen habe 1968 dazu beigetragen, den Liberalismus zu ermöglichen, Werbefachleuten gute Ideen zu liefern… Das ist grotesk! Genauso als wenn man den Gulag mit einem Kapitel von Karl Marx erklären würde. Man kann die Folgen nicht der Sache an sich zuschreiben. Um also diese landläufige Meinung über 1968 zu konterkarieren, zeige ich auf, dass in diesem Jahr sehr viele Dinge aufkamen, die leider länger überlebten als die Studentenrevolten. Ich erläutere auch, dass diese rückwärtige Lesart nicht funktioniert, da 1968 ein Ereignis war. Das Problem ist, dass wir das Ereignis als solches nicht mehr denken können. Wenn man versucht, eine Bewegung durch ihr Ende zu erklären – einer Art verhängnisvoller Entwicklung folgend, wonach „1968 gleich Individualismus, gleich Werbung“… ist – dann irrt man sich. Wir können die absolute Erschütterung der Politik und der Subjektivität, so wie es 1968 der Fall war, nicht mehr denken. Übrigens fahren Historiker mit dem Versuch fort, erklären zu wollen, warum es 1968 so gut funktioniert hat; warum alles fünf Wochen gedauert hat und nicht nur drei Tage. Und mich interessiert gerade das: Dieses Ereignis, das in einer Blockade des Landes bestand, die Verbindung zwischen den verschiedenen Kategorien, dass sich Studenten nicht mehr wie Studenten verhielten, Arbeiter nicht mehr wie Arbeiter, Landwirte nicht mehr wie Landwirte, das alle zusammen arbeiteten… Gemessen an einem Jahrhundert sind fünf Wochen wenig. Und vielleicht sind wir deshalb so nostalgisch. Wir sollten an die historischen Bedingungen denken, die eine Wiederholung dieses Ereignisses ermöglichen würden, anstatt zu sagen, dass „das zum Liberalismus geführt hat“.
Warum erwähnen Sie die Gründung von GRECE? Was soll man von der Aneignung linker Ideen durch die Neue Rechte halten?
Den Diskurs, der beide Extreme miteinander gleichstellt, halte ich immer für gefährlich. Er wird de facto vom Zentrum bestimmt und verbindet Demokratie mit bestimmten historischen Bedingungen: dem Markt, der politischen Vertretung… Und diejenigen, die das Funktionieren der Demokratie in Frage stellten, würden zur selben Sache. In den westlichen Staaten dominieren in der Geschichtsforschung seit 30 oder 40 Jahren diejenigen Theorien, die Hitler und Stalin gleichsetzen. Die extreme Rechte von Alain de Benoist ist nicht die rassistischste, aber sicherlich die perverseste Bewegung, weil sie sich sehr für die Radikalität der Linksextremen interessiert. Ich habe 2001 in Genua Aufrührer des Schwarzen Blocks getroffen, die mir in ihren Reihen versteckte Royalisten gezeigt haben. Sie waren dort, weil sie mit der Idee, Fensterscheiben von Banken zu zerstören, ziemlich einverstanden waren. Es ist beunruhigend zu sehen, dass die Rechtsextremen sehr geschickt die marxistische Lehre verwerten, weil sie grundlegend mit ihrer globalisierenden Vorstellung und der Dialektik der Krise einverstanden sind. Diese Taktik erlaubt ihnen vor allem, eine breitere Anhängerschaft zu gewinnen. Es ist sehr geschickt, wenn sich Alain de Benoist als Dritte-Welt-Aktivist bezeichnet, obwohl die Dritte Welt überall kritisiert wird und alle dennoch „moralische“ Dritte-Welt-Verfechter bleiben. Denn plötzlich wird er gelesen. Aber mich bringen diese Ideen nicht durcheinander, denn das ist reine Taktik.
In Deutschland lehnte es eine Strömung der Linken ab, sich dem G8-Gipfel in Heiligendamm zu widersetzen, weil auch die extreme Rechte dagegen sei bzw. dort aufmarschieren wollte.
In Frankreich gab es zum Zeitpunkt des Referendums über die europäische Verfassung eine ähnliche Situation. Man hielt linken Aktivisten vor, sich mit ihrem „Nein“ zur Verfassung an die Seite der Rechtsextremen zu stellen. Mathematisch gesehen ergibt dieses Argument keinen Sinn. Es ist ein interessantes Zeichen, dass diese Debatten im linken Lager zeitgleich in Frankreich und Deutschland geführt werden. Wir sollten uns daran erinnern, dass in den 1960er und 1970er Jahren politisch wichtige Kämpfe nicht zwischen schwachen demokratischen Zentristen und Linksextremen geführt wurden, sondern zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten. Tagtäglich prügelten sich Verfechter beider Lager. Diese Kämpfe haben aus vielerlei Gründen aufgehört. Unter anderem deshalb, weil die Rechtsextremen dem Anschein nach moderater geworden sind, sie finden sich nun in der demokratischen Arena wieder. In Frankreich hat die Bewegung GUD (Groupe Unité Défense) einer politischen Partei Platz gemacht, die 15 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinigen kann und noch mehr gewinnen könnte. Das aktuelle mediale Wahldispositiv wird sehr viel weniger von klassischen politischen Polaritäten bestimmt. Und die demokratischen Zentrumsparteien haben ein Interesse daran, die extreme Rechte und die extreme Linke mit denselben Argumenten zu kritisieren.
Sie unterstreichen in „La décennie“ ebenfalls, dass Frankreich in den 1970er Jahren durch eine intellektuelle Gegenrevolution gekennzeichnet wurde. Wie vollzog sich diese Entwicklung?
Die Gegenrevolution war Ende der 1970er Jahre das Ergebnis des Zusammentreffens zweier Bewegungen. Eine war rein taktischer Natur und der Spiegel ihrer Generation. Bourdieu hätte sie als Generation beherrschter Intellektueller bezeichnet: Menschen, die im Schatten der Großmeister des kritischen Denkens aufgewachsen waren und die, um herauszuragen und etwas anderes sein zu können als Bourdieus und Foucaults Schüler, gezwungen waren, eine andere Agenda zu entwickeln. Ich sage das mit einem etwas zynischen Unterton, aber gerade hier bestätigt sich Bourdieus Hypothese. Auf Grund von karrieristischen Bestrebungen wurde versucht, Argumente zu entwickeln, die die Ideen der vorhergehenden Generation umkehren sollten. Diese Generation der 1970er Jahre stellte dem bisherigen universitären oder spezifischen Intellektuellen den medialen Intellektuellen gegenüber, in dem sie die öffentliche Debatte durch Moralfragen aufheizte, die die Theorie entschärfen und jeglichem ernsthaften kritischen Denken die Grundlage entziehen sollten. Diese Strategie erwies sich als überaus wirksam. Das Auftauchen dieser Medienintellektuellen ging einher mit einem wichtigen zeitgeschichtlichen Faktor: die Entdeckung – Mitte der 1970er Jahre – des Gulags und anderer sowjetischer Gräueltaten; vor allem dank des Erfolgs von Solschenizyns Buch „Der Archipel Gulag“. Diese Enthüllung war keine wirklich neue Erkenntnis, da Trotzki schon in den 1930er Jahren über Gulags berichtete, Victor Serge in den 1950ern und Claude Lefort in den 1960ern. Es genügte, ein Buch zu öffnen, um es zu wissen. Allerdings wurde das intellektuelle Feld in Frankreich damals so stark von den Marxisten dominiert, dass der Gulag ein Tabuthema blieb. Die besagte Konvergenz vollzog sich, als die neue Generation sagte: „Dieses Buch ist eine Enthüllung. Es verurteilt nicht nur den sowjetischen Totalitarismus, sondern selbst die Idee, seine Formen menschenwürdiger zu gestalten.“ So sollte es auch mit den diesem Zeitgeist zuzuschreibenden intellektuellen Quellen sein. So erschienen 1977 zwei Bestseller: „Barbarei mit menschlichem Antlitz“ von Bernard-Henri Lévy und André Glucksmanns „Die Meisterdenker“. Beide entwickeln dasselbe Argument. Ich fasse zusammen, in dem ich karikiere – allerdings sind beide Bücher schon an sich Karikaturen: „Den Gulag haben wir Hegel, Nietzsche und Marx zuzuschreiben. Der politische Horror ist den Philosophien des vergangenen Jahrhunderts zuzuschreiben. Da es totalisierend ist und Systeme kreiert, birgt das kritische Denken die Idee in sich, einen neuen Menschen zu schaffen und alles mündet letztendlich im Gulag.“ Das hat überhaupt keinen Sinn. Allerdings folgt daraus die Reduzierung des Denkens auf die moralische Besessenheit vergangener oder zukünftiger Abweichungen.
Vermittelt der Antitotalitarismus nicht das Risiko eines sich Einschließens in einem totalitären System?
Das ist eine ziemlich rhetorische Aussage. Sicher ist hingegen, dass es sich beim Antitotalitarismus um Totalitarismus handelt. Indem Terminologien durch andere ersetzt werden, wird die Gesellschaftsordnung, in der die Welt als Totalität organisiert ist, von einer symmetrisch inversen Ordnung umgestürzt. Das „staatliche“ oder „soziale“ wird zum „demokratischen“ oder „ökonomischen“, das „liberale“ ersetzt das „egalitäre“. Letztendlich bleibt es bei einer gänzlich funktionalistischen Weltvorstellung, bei der eine grobschlächtige und rigide Sichtweise durch eine andere ersetzt wird. Dennoch sollte man diese beiden Konzepte nicht gleichsetzen.
Kann die Gewalt der 1970er Jahre durch diese intellektuelle Gegenrevolution erklärt werden?
Es überrascht mich nicht, dass viele amerikanische Neokonservative ehemalige marxistische Intellektuelle sind; dass alle französischen Intellektuellen systematisch Kriegen zustimmen, da sie aus einer gewissen, etwas militärischen, linksextremen Ecke kommen. Von der sozialrevolutionären Gewalt zur konservativen, regenerierenden Gewalt kommend wohnt all diesen Parcours eine Kohärenz inne. Sie vertreten ein bestimmtes Gewaltkonzept, gleichzeitig beruhend auf Nietzsche und neokonservativen Ideen, um die Ordnung wiederherzustellen, um jungen Punks wieder gewisse Wertvorstellungen einzutrichtern. Entgegen den Behauptungen angepasster Pazifisten, bedeutet das im Gegenzug allerdings nicht, dass man die Gewalt als solche kritisieren sollte. Heutzutage sind wir nicht mehr in der Lage, die Gewalt als politisches Mittel zu denken. Das ist zweifelsohne eine der Auswirkungen des Antitotalitarismus, des Moralismus. Alles, was nach den Ausschreitungen in den französischen Vororten 2005 gesagt bzw. geschrieben wurde, unterstreicht meine Annahme. Als ob es sich zu dieser Zeit um Gewaltausbrüche gegenüber schutzlosen Staatsbürgern gehandelt hätte; man sprach sogar von einem „Bürgerkrieg“. Dabei vergriffen sich die Jugendlichen an Polizisten, an öffentlichen Einrichtungen und an Autos. In unseren Endmediendemokratien wird überhaupt nicht mehr zwischen der Zerstörung von Eigentum und der Vernichtung menschlichen Lebens unterschieden. Sollte das etwa heißen, dass alles, sogar das menschliche Leben, auf eine Stufe mit dem Eigentum gestellt wird? Wenn man daran erinnert, dass seit drei Jahrhunderten alle sozialen Fortschritte auf Grund von Gewaltanwendung erkämpft wurden, wird man für einen Faschisten gehalten. Trotzdem trifft diese Aussage zu. Aber wir sind unfähig, die politische Dimension einer bestimmten Art sozialer Gewalt zu denken.
Warum gab es in Frankreich keine RAF?
Wir verfügten mit „La Gauche Prolétarienne“ und „Action Directe“ über Embryonen. Allerdings gestattete es das französische System, viele linksextreme Führerfiguren wieder zu absorbieren. Sie wurden Mitglieder der „Parti Socialiste“ und waren Mitterrand und der französischen Wirtschaftskraft in den 1980er Jahren sehr verbunden. In Deutschland hingegen befand sich das politische System in einem viel stärkeren ideologischen Widerspruch zum Linksextremismus. Vielleicht ist das Verhältnis zur politischen Gewalt auch ganz anders. Ich glaube, dieses Verhältnis definiert sich immer über die Antwort auf die Frage, was man zu verlieren hat. Die italienischen Linksextremen – die schändlichen Verrats und Treuebruchs seitens der kommunistischen Partei ausgeliefert waren – und die deutschen Linksextremen – die sich einer dem Kalten Krieg geschuldeten eisernern Staatsgewalt gegenüber sahen – waren gewissermaßen gezwungen, sich zu radikalisieren. Der französische Kontext war anders; es gab mehr Optionen für einen Ausweg. Die folgenden waren die attraktivsten: sich im kulturellen Linksradikalismus selbst zu recyceln, sich in den neuen Orten der Politik niederzulassen, sich sympathischer Subversion zu bedienen. Das französische System absorbiert alles und jeden, so auch die Gewalt, die kanalisiert und dadurch sympathisch wird. Man lehrt uns, sie zu benutzen; Pamphlete zu verfassen, anstatt Autos anzuzünden.
In den 1970er Jahren begannen große links- und rechtsgerichtete Parteien damit, Menschenrechte als logische Folge der Demokratie darzustellen.
Als Funktionalist, der ich nun einmal bin, würde ich sagen, dass das Thema Menschenrechte aufgegriffen wurde, um diese totale politische Leere auszufüllen, die die Weltanschauung der neuen Philosophen hinterließ. Diese Ideologie besteht darin, zu sagen: „kein Staatswille, kein politischer Wille, denn jedweder politischer Wille bedeutet Gulag. Kein kritisches Arbeiten, denn es führt zur UdSSR.“ In einer vergleichbaren politische Leere, wo man sich zufrieden gibt mit der Aufzählung von Dingen, die man nicht tun soll, braucht man natürlich neue Inhalte – stellen wir aber noch klar, dass es sich bei diesen neuen Philosophen um tatsächliche Reaktionäre handelt, die ihre Einstellungen mit einem mehr oder weniger an einen anarchistischen Hintergrund gebundenen, romantischen Pessimismus paaren. Das einzig Inhaltsfüllende, das sie gefunden haben, war das Thema der Menschenrechte. Das war allerdings schon ein Jahrzehnt vorher ein Witz; ein mit dem Kapitalismus verbundener rechtlicher und demokratischer Formalismus. Plötzlich wurden die Menschenrechte zum absoluten Richtwert, zum kategorischen Imperativ, der in Streitgesprächen jeden zum Schweigen brachte. Um korrekt zu bleiben, sollte man unterstreichen, dass es bereits in den 1980er Jahren Intellektuelle gab, die diese Position kritisierten. Marcel Gauchets Artikel „Les droits de l’homme ne sont pas une politique“ („Menschenrechte sind keine Politik“) erinnert daran, dass es sich hierbei nur um eine politische Vogelscheuche handelt und keineswegs um politische Vorschläge und Konzepte. Allerdings fanden sich Erscheinungsformen dieser Position an der Seite des Humanitären wieder. Da das Argument der Menschenrechte, weil es ein rein formelles Argument ist, in der öffentlichen politischen Diskussion nicht sehr gut funktionierte, stützte man sich auf das humanitäre Feld, um die inhaltlichen Debatten zu moralisieren. Menschenrechte stellen also eher ein Diskursdekorum dar, als dass sie Politik seien. Das Verhalten der Linken unter Mitterrand beweist es: die Erhebung der Menschenrechte zu einer ihrer Losungen hinderte sie nicht daran, gleichzeitig mit Südafrika und anderen abscheulichen Regimes Geschäfte zu machen, und das ohne sich die Menschenrechtsfrage zu stellen.
Wurde diese intellektuelle Entwicklung von einer Veränderung in der Wahrnehmung der Geschichte begleitet?
Während dieser Gegenrevolution in den 1980er Jahren gab es eine krasse Unfähigkeit, über die Zukunft nachzudenken. Die Verteufelung jeglicher Alternativen zur sozialen Marktwirtschaft und zur absoluten Medienpräsenz führte dazu, dass wir nicht mehr dazu in der Lage sind, die Zukunft zu denken. Der Antikommunismus ist zu dieser Zeit sehr virulent und das Jahrzehnt endet übrigens mit dem Tod Ceausescu. Die Folge dieser Unfähigkeit, die Zukunft zu denken, ist zwangsläufig die Hinwendung zur Vergangenheit – die Vergangenheit als tragende Kraft politischer Ordnung. Bislang hat jedes Regime die Geschichte als Rechtfertigung seiner eigenen Politik benutzt. Neu ist, dass sich die Verwendung der Geschichte vor dem Hintergrund endloser Gegenwart abspielt, die mit der Augenblicklichkeit der Medien und der absoluten Unfähigkeit, Weichen für die Zukunft zu stellen, verbunden ist.
Sie beginnen eines Ihrer Buchkapitel mit dem Bericht über den Tod des Ehepaars Ceausescu. Welche Lesart geben Sie diesem Ereignis?
Der Prozess und die Hinrichtung der Ceausescus wurden live im Fernsehen übertragen. Hierbei sehen die beiden Diktatoren wie groteske Statisten aus. Durch die Live-Übertragung wird die zeitgeschichtliche Distanz zerstört. Die Geschichte hatte sich bis dato immer mittels einer gewissen Verzögerung entwickelt. Die Geschichte ist ein Diskurs. Sie wird mit einer zeitlichen Verzögerung zwischen Erlebtem und der Erinnerung daran geschrieben: Ereignisse werden selektiert, die Anpassung an einen bestimmten politische Rahmen erfolgt. Bei Ceausescus Tod greift dieser Prozess nicht mehr. Er wird live gezeigt, zudem sehen ihn Zuschauer, denen das ziemlich egal ist, es ist schließlich Weihnachten! Serge Daney hat bereits erläutert, dass letztlich das Fernsehen die Geschichte ersetzt hat. Einerseits ist Geschichte allgegenwärtig, allerdings wird sie gleichzeitig auf die Aktualität der Medien reduziert. Es handelt sich also um eine selektive Geschichtsschreibung. Für soziale Bewegungen oder die historische Realität werden wichtige Zeitspannen annulliert. Hierfür genügt es, falsche Kontinuitäten zu und in der Geschichte zu (re-)konstruieren. Mitterrand setzte so De Gaulles Bestrebungen fort, Frankreich nach Vichy zu versöhnen. De Gaulle sagte: „Das hat nie stattgefunden.“ und man ging über zur Vierten Republik. Genauso verhält es sich mit den Aussagen postkommunistischer Regierungen in Osteuropa, deren einzig mögliche Taktik es war, den Kommunismus als Parenthese zu bezeichnen. Allerdings ist die Geschichte keine Näherei, wo ganze Teile aus einem Bekleidungsstück herausgeschnitten werden, um die Gegenwart mit älteren, vorherigen Stücken wieder zusammen zu nähen. Manchmal, wenn das Trauma sehr groß war, besteht die Notwendigkeit, sich der gesamten Diskontinuität zu stellen. Die Geschichte ist gleichsam ein Diskurs des Vergessens und der Erinnerung.
Warum interessiert sich die Linke in Deutschland und Polen für die Theorien Carl Schmitts?
Fast überall waren viele der heutigen politischen Machthaber in ihrer Jugend in der linksextremen Szene engagiert. Der Linksextremismus hat Carl Schmitt benutzt, wie es auch die Rechtsextremen taten. Seine Ansichten verdeutlichen eine sehr konfliktgeladene Theorie der Politik. Für jede durch Konflikte strukturierte politische Gruppierung ist seine Theorie sehr aufschlussreich; es handelt sich um eine der wichtigsten kratologischen Visionen. Da diese Theorie Bestandteil ihrer theoretischen Ausbildung war, ist sie bei vielen politischen Aktivisten immer noch sehr präsent. Und in einem Zeitalter, in dem Politik nach absolutem Konsens auf allen Gebieten strebt, obwohl die soziale Realität sehr konfliktreich ist und sich im krassen, kaum zu überwindenden Widerspruch zu jeglichen Regierungsformen befindet, wird jede konfliktgeladene Gegentheorie operativ. Aber ich bin kein Anhänger Schmitts. Ich finde die Theorien von Rancière, Badiou und sogar Laclau überzeugender, die die Politik als Konflikt postulieren. Allerdings finden sich bei Schmitt, vor der Nazi-Zeit, auch interessante Ansätze. Letztendlich ist Schmitt für die Linksextremen, die sich für die Politik als Ausschluss des Feindes interessieren, nur eine Referenz unter vielen.
Gibt es überhaupt noch Platz für eine Kritik an der Demokratie und ihrer heutigen Funktionsweisen, wenn Politik immer konsensbezogener wird?
Es gibt die Möglichkeit der faktischen Kritik an der Demokratie. Denn das Zeitalter des Konsenses ist auch das Zeitalter der Entwertung der Debatte. Die Diskussion als solche wird entwertet. Sie ist die Wirkungsweise der Demokratie. Es gibt Fernsehdebatten. Man glaubt vor einer Wahl mehrere Auswahlmöglichkeiten zu haben. Allerdings wird – durch die objektive Konvergenz dieser Optionen und auf Grund des Fakts, dass bei Fernsehdebatten alle einer Meinung sind – die öffentliche Diskussion jeglicher Realität beraubt; d.h. man engt gleichzeitig die Möglichkeit des Kampfes und der Spaltung innerhalb einer Debatte ein. Mir scheint, dass wir innerhalb des Diskurses gefangen sind. Das begünstigt übrigens das Spiel der Demokratie. Um die demokratische Ordnung zu rechtfertigen, lässt sie alte faschistoide Gespenster wieder aufleben, anstatt der Kritik an ihr den Weg zu ebnen. Meiner Meinung nach sind wir also gezwungen, nicht ihre theoretischen Grundpfeiler, sondern die Demokratie in der Praxis zu kritisieren. Die Existenz spezifischer Protestbewegungen erklärt sich durch die Infragestellung des demokratischen Diskurses. Diese Bewegungen schlagen eine Radikalisierung vor: durch die Entwicklung von Formen direkter lokaler oder nicht-repräsentativer Demokratie, im Sinne sehr lokaler Lebensgemeinschaften. Man kann diese Entwicklung besonders in den so genannten „Entwicklungsländern“ beobachten. Zum Beispiel kann man aus den Geschehnissen im mexikanischen Oaxaca mehr Lehren ziehen, als aus zehn Jahren europäischem Linksradikalismus. Weil es dort gelebte Praxis ist.
Gleichwohl scheinen einige Parteien Selbstkritik zu üben und über das Konzept der „Partizipation“ eine Erneuerung der Demokratie vorschlagen zu wollen. Auch in der Wirtschaft ist dieses Konzept zu finden. Was bedeutet es, dass dieses Konzept jetzt aufkommt?
In der Wirtschaft wird seit 30 Jahren partizipatives Management praktiziert. Die partizipative Demokratie entspricht also einer verspäteten politischen Form, eines in der Ökonomie begründeten Phänomens und der hyperzynischen Annahme, dass ein an seiner Unterdrückung teilnehmender Unterdrückter keinen Widerstand mehr leistet. Indem man den Angestellten dazu anhält, seine eigenen Regeln für die Unterdrückung zu erlassen, kann man sie institutionalisieren. Das ist eine der ältesten Ideen des Kapitalismus. Früher schwappten solche Konzepte von der Politik zur Wirtschaft über. Derzeit trifft das Gegenteil zu. Und es gibt hierfür einen niederträchtigen medialen Ursprung. Um heutzutage gewählt zu werden, sagt der mediale Populist: „Ich existiere nicht. Ich habe keinen Willen. Mein Wille ist Ihr Wille.“ Wir befinden uns somit in einem krassen Werbezeitalter der Demokratie. Die Wahlplakate von Ségolène Royal könnten ein Spiegel sein. Sie spiegeln einen Endindividualismus wider. Wissend, dass es in diesem Spiegel nichts gibt, weil wir auf der Ebene der Makropolitik nicht existieren.
Wie betreibt man linke Demokratiekritik, wenn das Wort „Partizipation“ schon besetzt ist?
Das Konzept der partizipativen Demokratie beschränkt sich für die politische Klasse auf die Möglichkeit der Teilnahme an der öffentlichen Diskussion. Es entsteht der Eindruck von Partizipation. Aber seit eineinhalb Jahrhunderten besteht im Rahmen einer modernen demokratischen Gesellschaftsordnung die Möglichkeit der Einflussnahme in einem einzigen Akt: wählen. Darüber hinaus gibt es keine Aktionsmöglichkeiten. Die Verfechter von Alternativen zur repräsentativen Demokratie gehen allerdings davon aus, dass es neben der Möglichkeit der Wahl viele andere Dinge zu entwickeln gibt: kollektive Organisations- und Entscheidungsformen, Lebensgemeinschaften, Kampfesgemeinschaften… Es geht nicht um ein: „Geben Sie mir Ihre Ideen und dann stimmen Sie für mich. Sie werden nur am Tag des Wahlganges existieren.“ Es geht vielmehr um ein: „Ihr existiert tagtäglich, wenn ihr am gemeinschaftlichen Leben teilhabt.“ Das ist etwas ganz anderes; aktive Teilnahme gegen das Gefühl der Ohnmacht an Wahltagen.
Die derzeit sehr beliebte Systemtheorie scheint besonders staatliche Legitimationsverfahren zu rechtfertigen. Wie sehen Sie das?
Wenn man Jürgen Habermas als Beispiel nimmt, so bin ich mit der Kritik, die die Linke an ihm übt, einverstanden. Die Definition der Demokratie als Ethik der Diskussion, als rationelle Organisation der Kommunikation, entspricht keiner beobachtbaren Realität. Voraussetzung dafür wäre, dass die eigene Meinung eine Wirkung erzielt; dass die Diskussion an sich ein Produkt der Gemeinschaft und des Reichtums ist. Wer aber könnte mir das beweisen? Tatsächlich wäre sie eine simple politische Information, dem Staat nützlich, der sich den Wahlprognosen anpassen und versuchen würde, mich beim nächsten Mal wahlpolitisch zu verführen. Ich glaube eher an das, was Rancière Subjektivation nennt: das unvorhergesehene Moment, das die historische Ordnung und die herkömmlichen Anordnungen durchbricht; das aus einer Kampfsituation heraus ein neues gemeinsames Thema außerhalb bestehender Kategorien auftauchen lässt. Dieser Kampf schaltet Systeme und Diskurse aus.
Stellen die Alterglobalisierungsbewegungen eine Alternative zur aktuellen politischen Krise dar?
Es kommt darauf an, was Sie unter Politik verstehen. Wenn es sich um die polizeiliche Verwaltung der sozialen Ordnung handelt, die befindet sich nie in einer Krise. Außer vielleicht, wenn diese Verwaltung nicht mehr gut funktioniert und sich die Repression zuspitzt. Wenn Sie unter Politik allerdings Stichworte wie Ereignis, Subjektivation, Krisensituation und neue Klarheit verstehen, dann gibt es nur Krisen. Aber wenn Sie unter „politischer Krise“ den Vertrauensverlust der Bürger in staatliche Institutionen und ihre Regierungen, einen Vertrauensverlust gegenüber der demokratischen Logik, verstehen, dann können die Alterglobalisierungsbewegungen keine Alternative sein. Denn die Mehrheit dieser Gruppierungen stellt die Logik von Wahlen nicht in Frage. Allerdings befindet sich die Logik der politischen Repräsentation auch in einer Krise. Um nur ein Beispiel zu nennen: Attac. Attac kann nicht gewählt werden, aber diese Bewegung steht Kandidaten aufstellenden Parteien nah und sieht sich selbst als aktive Minderheit in der Wahl an. Darüber hinaus stellen Alterglobalisierungsbewegungen für mich keine Alternative zur institutionellen Logik dar. Sie sind eher eine Alternative zu bestehenden Ideologien, die aktuelle Weltordnung betreffend. Aber ich habe sehr große Bedenken. In diesen Gruppierungen stößt man auf viele Illusionen und Mythologien. Sie schlagen nur vor, das System an seiner Peripherie zu verbessern. Historisch gesehen hat diese Einstellungen immer das System in seiner Existenz bestärkt. Ihre Worte klingen wie ein säkularisierter theologischer Diskurs zum Thema „Morgen wird es besser sein.“ Dieses alte Versprechen, erst christlichen, dann kommunistischen Ursprungs, hat es seit Jahrhunderten erlaubt, die Massen zu bevormunden. Wenn ich ein T-Shirt mit der Aufschrift „Eine andere Welt ist möglich“ sehe, habe ich Lust folgendes zu entgegnen: „Eine andere Welt ist schon da. Es liegt an euch, sie zum Leben zu erwecken.“ Nichtsdestotrotz ist die alterglobalistische Strömung sehr vielfältig und sie birgt interessante Bewegungen in sich.
François Cusset ist Historiker der Ideen. Er lehrt in Paris am Institut des études politiques und an der Reid Hall, dem Pariser Zweig der Columbia University.
Im Jahr 2006 erschien sein Werk „La décennie: le grand cauchemar des années 1980“ [Das Jahrzehnt: Der Alptraum der achtziger Jahre] (La Découverte, 2006). Dort analysiert Cusset Jahr für Jahr, wie das Verschwinden kritischen Denkens in Frankreich Platz macht für eine reaktionäre Ideologie. Drei Jahre zuvor zeigte Cusset in „French Theory“ (La Découverte, 2003) auf, wie die Rezeption der Werke französischer Philosophen, u.a. die von Foucault, Deleuze und Baudrillard, das Denken der US-amerikanischen Intellektuellen erschüttert und damit wesentlich zur Begründung von Kulturwissenschaften und Gender Studies beiträgt. Weitere Veröffentlichungen: „Queer critics: la littérature française déshabillée par ses homo-lecteurs“ (PUF, 2002).
Das Gespräch führten Kamil Majchrzak und Emmanuelle Piriot.
Übersetzung aus dem Französischen: Franziska Albrecht.
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