Die Häuser gehören denen, die darin wohnen!

aus telegraph 12/1990

Eigenbericht der BesetzerInnen: „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen der Genossenschaft und uns!“

Seit dem 5. Mai 1990 ist die Linienstrasse 206 in Ostberlin besetzt. Von Besetzungen hört mensch viel in letzter Zeit. Hier gibt es aber das Problem, dass es zwei Interessengruppen sind, die sich unabhängig voneinander um die Linienstrasse 206 bemühen. Da ist einmal die Genossenschaft „Speckstein“, die aus der BI Spandauer Vorstadt entstanden ist, da sind zum anderen die BesetzerInnen. Wir sind 23 Menschen, die wohnungslos sind oder aber in beengten und Wohnungen mit überhöhten Mieten leben. Wir haben bewusst zusammengefunden, um einen geeigneten Wohnraum zu finden, in dem wir unsere Vorstellungen von Zusammenleben und Wohnen probieren können. Daneben
wollen wir billigen Wohnraum bewahren, weil in der nächsten Zeit auch die Mieten den westlichen Richtlinien angepasst werden.

Wir haben uns für die Linie 206 entschieden, weil dieses Haus in einem relativ guten Zustand
ist. Es kann saniert werden und gleichzeitig bewohnt bleiben. Die Türen standen offen und nach Informationen der Nachbarn ist das Haus mindestens ein halbes Jahr unbewohnt. Daraufhin haben wir das Haus besetzt.

In den ersten Tagen unserer Besetzung kam ein Mensch vorbei, der vorgab eine Wohnung zu suchen. Da wir von Anfang an nach aussen keine geschlossene Gruppe waren, redeten wir mit ihm über die Bürgerinitiative, von der wir gehört hatten, dass sie sich um dieses Haus bemüht. Am selben Abend kam er wieder mit einem von der Genossenschaft und stellte sich selbst als Mitglied vor. Die Genossenschaft erzählte uns, dass sie sich schon seit Monaten um die Linie 206 bemühten. Das heisst, sie haben Kontakte zur KWV und westlichen Sanierungsträgern aufgenommen, um zu verhandeln. Auch behaupteten sie, dieses Haus winterfest gemacht zu haben. Daher hätten wir kein Anrecht, dieses Haus zu besetzen. Dass wir wohl auch Wohnraum brauchen war für sie kein Argument. Auf unsere Frage hin, warum sie dieses Haus nicht selbst besetzen, argumentierten sie, es wäre unmöglich, hier mit Kindern zu wohnen.

Einige Tage darauf zeigte uns die Genossenschaft kurz einen Zuweisungsantrag, der auf das ganze Hause ausgestellt war. Sie argumentierten mit „älteren Rechten“ und Familien mit Kindern. Wir beugten uns dem moralischen Druck und zeigten uns bereit, ein neues Haus zu suchen. Wir machten uns auch wirklich auf die Suche,- bis wir erfuhren, dass dieser Zuweisungsvertrag falsch ausgestellt war. Die Winterfestmachung war von der BI und von Ex-Besetzern aus Berlin Kreuzberg in einer Propaganda-Aktion, finanziert vom „Stern“, gemacht worden.

Die Genossenschaft bot uns übrigens auch an, bei ihnen einzutreten, unter der Voraussetzung die Linie 206 zu verlassen. Wir wissen, dass es in der Bürgerinitiative schon jetzt mehr Mitglieder als Wohnraum gibt und wir als Letzte drankämen. Die Genossenschaft besteht unseres Wissens zur Zeit aus 36 Mitgliedern, die vertretenen Berufe reichen vom Diplomingenieur über Bauleiter, Professoren, bis hin zu Architekten. Wir haben ein Genossenschaftsmitglied kennenge¨lernt und bekamen so Einblick in seine „miese“ Wohnungssituation: er verfügt nur über drei Wohnungen. Logisch, dass diese Leute kein Haus besetzen, aber nicht wegen ihrer Familie, bzw. kleinen Kindern, sondern, weil sie es aufgrund ihrer Wohnungs- und finanziellen Situation gar nicht nötig haben, aktive Selbsthilfe zu leisten.

Die Genossenschaft beansprucht neben der Linienstrasse 206 noch weitere Häuser: Alte
Schönhauser 13-15, Mulackstr. 37, Steinstr. 20-21. Dabei hat die Linie 206 einen besonderen Status, da von hier aus die Organisation sämtlicher Rekonstruktionsarbeiten geleitet werden soll. Zuerst soll im Paterre, ein Zuweisungsvertrag liegt vermutlich vor, ein Büro der speziell dafür gegründeten Sanierungsfirma „Demos“, kürzlich umbenannt in „Bauart“, eingerichtet werden. Leiter der Firma ist J. Baudik, der eine Art Managerfunktion in der Genos¨senschaft ausübt.

Mit der Finanzierung ist die Genossenschaft auch in jenes unsägliche „25 Millionen-Geschenk“
des Westberliner Bausenators Nagel eingestiegen. Dieses 25-Millionen-Programm trägt im Fall von besetzten Häusern zur Spaltung der HausbesetzerInnen-Bewegung bei. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf die Verträge hin, die die Kastanienallee 86 und die Schönhauser Allee 20 übereilt unterschrieben haben.

Im Interesse des Westberliner Senats tauchte Anfang Juni ein Herr Diese auf. Seine Aufgabe ist
es, bei Problemen zwischen HausbesetzerInnen und anderen Interessengruppen, in unserem Fall die Genossenschaft, zu schlichten.

So kam es zu zwei Schlichtertreffen, an denen neben Diese Vertreter der Genossenschaft, der KWV, der BI „Spandauer Vorstadt“, von „IBES“ und uns aus der Linienstrasse 206. Dabei zogen fast alle an einem Strang: die Genossenschaft habe die älteren Rechte und wir sollten freiwillig aus dem Haus rausgehen. Der Rat der Stadt sollte ein Ausweichprojekt für uns finden.

Da wir in den zwei Monaten schon erhebliche finanzielle Mittel, ganz zu schweigen von der
erbrachten Arbeitsleistung, in das Haus gesteckt haben, lehnten wir ein Austauschprojekt ab.
Daraufhin wurde uns vorgeworfen, egoistisch und unkooperativ zu sein. Herr Diese hielt nun vier Varianten für möglich, entweder wir verzichten oder die Genossenschaft verzichtet, es wird bis zum Herbst ein Ausweichobjekt gesucht oder es erfolgt die Räumung durch die Polizei. Da sich die Genossenschaft uneinsichtig zeigt, deutet alles auf den Versuch einer polizeilichen Räumung. In diesem Fall bitten wir um die praktische Solidarität aller HausbesetzerInnen und links denkenden Menschen und um breiten Widerstand von unten.

KEINE RÄUMUNG VON BESETZtEN HÄUSERN!
WOHNRAUM IST MENSCHENRECHT!
GEGEN SPEKULANTEN IN OST UND WEST!
BesetzerInnen der Linienstrasse 206