GELD KANN MAN NICHT ESSEN

aus telegraph 12/1990
von Hans-Peter Studer (Schweiz)

Nur ein toter Hirsch ist ein wertvoller Hirsch, nur eine zersägte Tanne eine wertvolle Tanne, nur
umgemähtes Gras wertvolles Gras. So lautet, pointiert formuliert, die makabre Logik, welche derMarkt¨wirtschaft – und etwas weniger ausgeprägt auch der Planwirtschaft – systemimmanent ist.

Mit anderen Worten, ein Hirsch, der bloss sein ganzes Leben im Wald herumzieht und dort irgendwann einmal verendet, ist für die moderne Wirtschaftsgesellschaft wertlos. Obwohl ihm eigentlich ein Eigenwert zukommt und obwohl er wichtiger Teil des ökologischen Gesamtgefüges ist, wird er letztlich erst dann wertvoll, wenn ich ihn töte und sein Fleisch oder sein Fell verkaufe.

Und auch eine Blumenwiese erweist sich mehr und mehr als Luxus, denn wichtig ist, dass die Wiese gedüngt wird, um den Ertrag an abgemähtem Gras zu steigern, und da ist es dann eben um die farbigen Blumen bald einmal geschehen. Die gibt es jetzt ja schliesslich, mit reichlich Chemie auf Makellosigkeit getrimmt, das ganze Jahr über im Supermarkt zu kaufen.

Der Name verrät es bereits, in der Marktwirtschaft zählt bei Lichte besehen allein der Markt. Angebot und Nachfrage bestimmen darüber, was wertvoll ist und was nicht, und bei den Werten, die sich daraus ergeben, handelt es sich zwangsläufig um blosse Geldwerte. Für die Natur jedoch – und auf längere Sicht auch für uns selbst – ist dieser Reduktionismus im wahrsten Sinne
tödlich.

Die noch einigermassen intakte Schöpfung ist nämlich in einer von abstrakten Tauschwerten bestimmten und gelenkten Welt wertlos. Wertvoll wird sie erst und um so mehr, je weiter wir sie in ihre Bestandteile zerlegen und aus dem natürlichen Zustand entfernen. Denn jetzt wird sie handelbar, jetzt können mit Rohstoffen, mit Halbfabrikaten und Fertigprodukten lukrative Geschäfte gemacht werden.

Was wunder, dass der Boden allenthalben parzelliert und überbaut wird, dass in der Landwirtschaft die Erträge bedenkenlos gesteigert werden, dass die Natur stets perfekter nach ihren Schätzen durchwühlt und gezwungen wird, selber ihre eigene Zerstörung zu beschleunigen: Kies wird zu Beton vermahlen, Eisenerz in Maschinen gegossen, Öl und Kohle, Flüsse und Bäche werden in Energie verwandelt, und zusammen werden die dermassen veredelten Naturbestandteile im Namen des technischen Fortschritts auf die noch verbliebene Restnatur losgelassen.

Und selbst wenn unsere Mitwelt ob der fast bedingungslosen Umwandlung in Geld und Geldwerte allmählich zugrunde geht, so lässt sich auch aus ihrer Zerstörung noch ein Geschäft machen. Zum einen wird sie nämlich jetzt knapp, was die Verdienstmöglichkeiten, z. B. auf dem Bodenmarkt, beträchtlich verbessert; und zum anderen kann auch mit der Sanierung zumindest der gröbsten Umweltschäden gutes Geld erwirtschaftet werden – wiederum natürlich, indem auch hierfür Natur in Form von Energie und Rohstoffen beansprucht wird.

Gerade der Umweltschutz – so sehr er im reichen Westen als Beweis für die Überlegenheit der Marktwirtschaft gepriesen wird und so sinnvoll er als momentane Problem-Entlastung sein kann – sorgt somit dafür, dass die rücksichtslose Ausbeutung der Natur auch in einer Zeit noch unvermindert weitergehen kann, in welcher wir der kollektiven Selbstzerstörung bereits bedenklich nahe gekommen sind:

In einer Gesellschaft, der es gar nicht eigentlich um den Schutz der Umwelt, sondern vielmehr um den Selbstschutz vor der selbst zerstörten Umwelt geht, beschränkt sich Umweltschutz weitestgehend auf technische Massnahmen. Diese verbrauchen jedoch nicht nur ihrerseits ebenfalls Natur, sondern sie dienen sehr wesentlich auch der Gewissensberuhigung, nach dem Motto: „Mit Katalysator fahre ich jetzt sauber und da kann ich ja ruhig wieder etwas mehr fahren.“

Der gleiche Verdrängungsmechanismus spielt auch etwa bei der Müllverbrennung oder bei der Abwasserreinigung eine Rolle: Sind entsprechende Anlagen einmal vorhanden, so kann das Abfallvolumen sorglos weiter gesteigert werden: Aus den Augen, aus der Nase, aus dem Sinn … Mit den Filterstäuben, der Schlacke, dem Klärschlamm und ähnlichen Kehrseiten der modernen Überflusswirtschaft soll sich gefälligst der Staat herumschlagen.

Überhaupt schiebt das, was vordergründig als wertvoller Beitrag zum Umweltschutz gepriesen wird, die Probleme sehr oft bloss örtlich und zeitlich weiter von uns weg. Kommende Generationen, so ein ehemaliger Direktor des Eidgenössischen Amtes für Energiewirtschaft, werden gewiss fähig sein, die Probleme des Atommülls zu lösen, denn seine Generation sei schliesslich auch fähig gewesen, Atomkraftwerke zu bauen.

Und bis es so weit ist – so ist man geneigt, hinzuzufügen -, lässt sich der atomare und der normale Sondermüll ja auch zwischen¨lagern oder, besser noch, in Länder abschieben, die dringend auf Devisen angewiesen sind. Die anderen sollen schliesslich auch etwas von unserem Wohlstand haben.

Allerdings verursacht diese Abschiebetaktik, genauso wie tatsächliche Umweltschutzmassnahmen, doch auch gewisse Kosten – und die gilt es wieder hereinzuholen. Und damit ist dann gleich ein weiterer wichtiger Impuls für die möglichst noch raschere Umwandlung von wertloser Natur in wertvolle Produkte und Dienstleistungen gesetzt.

Damit sie sich den Umweltschutz überhaupt leisten können – so wird seitens der Wirtschaftsverantwortlichen argumentiert – müssen sowohl die einzelnen Unternehmen als auch ganze Volkswirtschaften weiter wachsen, sprich noch mehr produzieren. Da könnte man zwar genauso gut behaupten, um den Lungenkrebs zu bekämpfen, gelte es, den Tabakkonsum zu fördern, um so höhere Steuereinnahmen für die Krebsforschung zu erzielen. So lächerlich allerdings das fiktive Argument beim Tabak wirkt, so sehr sind die entsprechenden Denkmuster im Umweltbereich nach wie vor an der Tagesordnung.

Denn schliesslich – und auch diesbezüglich will man die eigene Logik nie zu Ende denken – steigert das allgemeine ebenso wie das umweltschutzbedingte Wirtschaftswachstum den Wohlstand in Form des Bruttosozialprodukts, während die zusehends weniger funktionstüchtige Natur, obwohl eigentlich unsere Lebensgrundlage, ohnehin nichts wert ist.

In der Folge wähnen wir uns zwar immer reicher, wiewohl wir in Tat und Wahrheit stets ärmer werden, weil um uns wie auch in uns immer weniger von dem übrigbleibt, was wir zum Leben wirklich brauchen. Wollten wir dieser Entwicklung wirklich Einhalt gebieten und wieder den uns zugedachten Platz in der Schöpfung einnehmen, so müssten wir nicht nur die innere Beziehung zur Natur und zu uns selbst wiederfinden, sondern vor allem unseren Wohlstandsüberfluss in Frage stellen und entschieden abbauen.

Bis wir uns allerdings dazu durchgerungen haben bzw. von den äusseren Umständen allenfallsnoch rechtzeitig dazu gezwungen werden, wird weiterhin die keinesfalls übertriebene Greenpeace-Warnung gelten: Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann!