aus telegraph 12/1990
von Gerold Hilderbrand
Spielleute sind in der Stadt. Bürger ziehen Gesichter. Ist die Strasse wieder tot? Der Montag in Sparkassennähe beweist das Gegenteil? Zwar ist die berechtigte Angst vor staatlicher Schläger- und Festnahmekommandos weg, die Musse aber auch. Es ist so gleich anders beim 2. Leipziger Strassenmusikfest. Im Vorjahr wurden beim gleichen Anlass ca. 100 Menschen für 24 Stunden im Stasiknast interniert. Diesmal waren erst gar nicht so viele gekommen. Schlechte public relation?
Nein, die Plakate in Leipzig überdauerten zumeist nicht mal einen Tag oder wurden mit Hakenkreuzen beschmiert. Und die Behörden drohten mit Entschädigungsgeldern, falls die eifrigen Händler gestört würden. Gelang es im Vorjahr, das sta(si)atliche Machtsystem blosszustellen, wurde diesmal etwas vielleicht tieferliegendes sichtbar gemacht: die deutsche Borniertheit. So wurde es ein sehr intimes Fest – nicht ohne Reiz.
Der Einladung gefolgt waren fast ausnahmslos ausländische Akteure. Einzig die Bluesbands (Dresdner, Magdeburger, Senftenberger), die im Vorjahr ergreifenderweise noch im Knast aufspielten, war, ohne von dem geplanten Fest zu wissen, eigenständig aus Traditionsbewusstsein gekommen.
Wolf Znieder, Liedermacher aus München, beklagt anfangs den geringen Organisationsgrad, ist dann jedoch ganz überrascht von seiner Selbsterfahrung, völlig ohne Soundtechnik dankbare Zuhörer zu haben.
Francois Villon ist ein Spanier aus Mosbach. Corelli und Mozart sind auch dabei. Bob Dylan singt auf deutsch von der Desolation Road, die liegt in Frankfurt/M., und den besetzten Häusern dort.
Telefonierende Polizisten fahren langsam vorbei. Ansonsten übertönen nur unkooperative evangelisierende Landeskirchenchristen mit ihrer Lautsprecheranlage einige leisere Strassenmusiker. Wenigstens regnet es (deshalb?) nicht.
Elkim Mimo aus Kolumbien pantomimt „Tanz im brennenden Staat“. Nachts Tanz in der brennenden NATO (ausgesprochene „Nationale Front“). Da gibt es die Verbrüderung der „Jumping Joggings“ (Giessen -das war also die magische Anziehungskraft dieser Stadt) mit dem „Syndikat“ aus Rüsselsheim. Natürliche Erotik und Extase aus Jazz & Soul, multikultureller Musik aller Kontinente, Tanz und Jongleursnummern. Die brachten zuvor schon den Marktplatz zum Kochen.
Mit Jochen Lässig back to the roots: Mercedes Sosa, Victor Jara, Kunert/Pannach. Im Vorjahr
wurde er, wie auch die zwei anderen Festorganisatoren Katrin Hattenhauer und Uwe Schwabe, mit über 1000,-M. Ordnungsstrafe belegt („Teilnahme an einer nicht genehmigten Veranstaltung, die das sozialistische Zusammenleben stört“ hiess das damals auf stalindeutsch). Inzwischen wurde er zum Stadtrat gewählt.
The End: P.A.L.ast – „Sie verlassen hier den deutschen Sektor“-mitten in der Nürnberger Strasse.
Und das nächste Strassenmusikfest findet wieder am 2. Juniwochenende statt.
g.h.