Das Jahr 1990 und die deutschen Linke

von Bernard Schmidt
aus telegraph 120 | 121

Auf den Mauerfall in Berlin im November 1989 reagiert die westdeutsche Linke in unterschiedlicher Weise. Ihre Reaktion ist durch ein doppeltes Muster geprägt, genauer, sie polarisiert sich zwischen zwei einander entgegengesetzten Polen: Auf der einen Seite herrscht eine verhalten positive Erwartungshaltung gegenüber dem, was zukünftig eventuell an Positivem mit den Umbrüchen „im Osten“ einhergehen könne – beispielsweise bezogen auf eine nunmehr mögliche Zusammenarbeit mit Linken aus der Ex-DDR. Die positivste Haltung formuliert die damalige Bundesvorständlerin der grünen Partei Renate Damus, die zum linken Flügel zählt, 1990 in der taz: Endlich sei das Zerr- und Schreckbild eines autoritären Staatssozialismus weggefallen. Dem Kapitalismus fehle es dadurch nunmehr an einem negativen Spiegel- oder Schreckbild, so dass sich künftig die Kritik an ihm und die Debatten um Systemalternativen auf sympathische Varianten eines ökologischen Sozialismus (und nicht auf die „real existierende“ Kasernensozialismus-Variante der DDR) drehen würden. Insofern sei der Wegfall des DDR-Realsozialismus nur ein erster Schritt, dem weitere positive Schritte folgen würden, die dann auch vom real existierenden Kapitalismus weg führen würden.
Auf dem anderen Gegenpol herrscht ab dem Winter 1989/90 eine pure Katastrophenstimmung vor: Einem entfesselten deutschen Nationalismus – mit Massenzustimmung, die man aufgrund der in breiten Teilen der Noch-DDR-Bevölkerung (wohl aus vorwiegend ökonomischen Motiven) verbreiteten Befürwortung eines Beitritts zur Bundesrepublik gegeben sieht – könne man nicht mehr Herr werden. Das Schwenken schwarz-rot-goldener Fahnen in der Noch-DDR und das lautstark zu vernehmende „Ja zur D-Mark“ werden als Ausdruck einer reaktionären Massenstimmung analog – im besten Falle – zum August 1914, eher aber zum Aufkommen des Nationalsozialismus interpretiert. Innerhalb von nur wenigen Jahren, so lautet eine Einschätzung, die man beispielsweise bei einem Teil der Autorinnen und Autoren im Monatsmagazin konkret oder in der Minderheitsfraktion des Kommunistischen Bundes (KB) – als Keimzelle der späteren „Antinationalen“ – antrifft, werde man einer solchen historischen Dynamik nicht mehr Herr werden. Zumal, so wird die „in Deutschland ganz besondere Gefahr“ eingeschätzt, diese nicht allein von den Herrschenden ausgehe, sondern primär durch eine Bevölkerungsmehrheit aktiv getragen werde. Dies ist die Geburtsstunde der Strömung, aus der über mehrere Stufen die „Antinationalen“ und später die „antideutsche“ Strömung mit ihrer – in jüngerer Zeit explizit gewordenen – Anlehnung an den US-Neokonservativismus entstehen werden. Aus einer im historischen Rückblick berechtigten Furcht vor der Eigendynamik, welche aus chauvinistischer Euphorie – analog zum August 1914 – oder reaktionären Ideologieelementen (Nationalismus, Antisemitismus) in der Gesellschaft erwachsen könne, wird bei ihnen in späteren Jahren eine regelrechte „Massen“verachtung, die hinter jeder kollektiven Lebensäußerung auch für soziale Belange bereits das braune Übel lauern sieht.
In einem Teil der radikalen Linken, der sich irgendwo zwischen den beiden Extrempositionen befindet, wird der Umbruch von 1989 weder als Chance noch als den reinen Untergang verheißende Katastrophe gedeutet. Hier wird eher ins Zentrum gerückt, dass durch den sich abzeichnenden Wegfall des „realsozialistischen“ Blocks und der „Systemkonkurrenz“ die weltweiten Voraussetzungen dafür, etwa in Afrika, Asien oder Lateinamerika politische Alternativen jenseits des kapitalistischen Weltmarkts zu verfolgen, erst einmal schlechter ausfielen. Auch in Teilen der radikalen Linken, die sich niemals positiv auf den „Realsozialismus“ sowjetischer Bauart als positives Gesellschaftsmodell bezogen hatten, wird – im Nachhinein – die Rivalität beider Blöcke als strategische Voraussetzung, die Machtpositionen der Machthaber in den kapitalistischen Zentralländern zu begrenzen und ihre planetaren Bestrebungen auszubremsen, begriffen. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie dunkel oder auch wie apokalyptisch die Negativszenarien ausfallen sollen – oder müssen -, die man nun voraussehen könne.
In den Reihen desjenigen Teils der westdeutschen Linken, der 1989 der Entwicklung eher mit Angst und Furcht unter Verweis auf die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert reagiert – und dem auch der Autor dieser Zeilen damals zugehört – , werden ab 1990/91 überhöhte alarmistische Tendenzen bemerkbar. Aktuelle Entwicklungen im „wiedervereinigten“ Deutschland werden von manchen Personen systematisch auf der Folie der Geschichte der ersten Jahre des „Dritten Reiches“ interpretiert. So erinnert sich der Autor dieser Zeilen an eine Diskussion im Spätherbst 1991 in den damaligen Räumlichkeiten einer Hamburger Zeitungsredaktion, in der ein damals im Antifabereich aktiver und zu den „Antinationalen“ zählender Autor einen Plan aus dem Hause Bertelsmann zur nunmehr möglichen kapitalistischen Durchdringung „Mittel- und Osteuropas“ mit den Worten kommentierte: „Das ist der neue Generalplan Ost.“ Kleiner Unterschied zwischen den beiden historischen Epochen: Der durch die NS-Bürokratie aufgelegte „Generalplan Ost“ sah die Ermordung von 40 bis 50 Millionen „slawischen Untermenschen“ vor…
Nicht nur in den Reihen von radikalen Linken war damals übrigens vor dem Heraufziehen eines „Vierten Reiches“ gewarnt worden. Beispielsweise druckte die Berliner ‚taz’ im Frühjahr 1990 – während sich die deutsch-deutsche Währungsunion als Vorstufe der Wiedervereinigung anbahnte – eine Karikatur, in der sie satirisch als Zielsetzung der herrschenden Politik formulierte: „Ein Reich, ein Volk, wie Früher“. Einige Ereignisse nach dem Vollzug der staatlichen „Wiedervereinung“ am 03. Oktober 1990 schienen den Alarmprognosen dann auch zunächst Recht zu geben. Tatsächlich kam es vor allem in den Anfangsjahren nach dem Zusammenschluss von BRD und DDR nicht nur zu einer Welle von nationalistischen und rassistischen Manifestationen, sondern auch zu massenhafter Gewalt gegen Einwanderer vor allem im Zusammenhang mit der berüchtigten so genannten „Asyldebatte“, dieser staatlich orchestrierten Hetzkampagne der 1991 bis 93 im Vorfeld der Änderung des Grundgesetz-Artikels 16 zum Asylrecht. In Hoyerswerda (September 1991) und Rostock (August 1992) verbrannten Gebäude, in Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) dann auch Menschen. Im Anschluss daran, und an die am 26. Mai 1993 erfolgte Grundgesetz-Änderung, zog das deutsche politische Establishment dann aber die Grenze und dämmte die freigewordene rassistische Dynamik wieder ein. Neonazi-Gruppierungen – die nach ihrem „Übertritt“ in der Ex-DDR massiv tätig geworden waren – wurden erstmals staatlich verboten. Durch die Aufnahme der „Republikaner“ in die Verfassungsschutzberichte der meisten Bundesländer wurde allen Staatsbediensteten signalisiert, dass nunmehr Schluss mit lustig sei – und dass die Betätigung von BeamtInnen für die extreme Rechte unter Umständen mit Berufsverbot geahndet werden könne. Wurden REPs und DVU durch „Asyldebatte“, politisches Klima und Medienberichterstattung eher nach oben gespült, so wurden sie nunmehr als Schmuddelkinder dargestellt. Und ihre Wahlergebnisse sanken denn auch; bei der Europaparlamentswahl 1994 flogen die „Republikaner“ (3,5 % der Stimmen) aus dem Europäischen Parlament, in das sie 1989 mit über 7 Prozent der Stimmen triumphal eingezogen waren, wieder hinaus. Ab diesem Zeitpunkt verpuffte der allzu schrille Alarmismus von Teilen der damals noch so bezeichneten „Antinationalen“, die unmittelbare Parallelen vom „Dritten“ zum „Vierten Reich“ zogen. Im Juli 1993 hatten beispielsweise Anhänger dieser Strömung eine Gedenkfeier in der Hamburger Sankt Michaels-Kirche für die Bombardierung von 1943 gestört und unter anderem auf einem Transparent den Slogan benutzt: „Bomber Harris said: I would do it again. We say: do it now again!“ Diese faktische Gleichsetzung von Hitler-Deutschland und Kohl-Deutschland (jedenfalls bezüglich der ihnen gegenüber gebotenen Konsequenzen) war denn doch historisch starker Tobak; sie war der Anlass für den Verfasser dieser Zeilen, mit diesem Milieu politisch zu brechen.

Weitere politisch-ideologische Wandlungsprozesse kamen in diesem Segment der (Ex-)Linken später hinzu, insbesondere durch die sich extrem stark verschiebende Wahrnehmung des Nahostkonflikts. Einen Bezug zu Israel und den Konflikten im Nahen Osten hatte die „antinationale“ respektive „antideutsche“ Diskussion zunächst nicht unmittelbar – bekam ihn aber im Laufe des Golfkriegs von Januar/Februar 1991. In den ersten Tagen der Flächenbombardierung des Irak antwortete die dortige Diktatur auf die Offensive der von den USA geführten Kriegskoalition, indem sie Scud-Raketen (sowjetischer Bauarbeit, aber mit Hilfe des deutschen Thyssen-Konzerns aufgemotzt) auf militärische Stellungen in Saudi-Arabien und dann auch in Richtung Israel abfeuern ließ. Die dort, in Israel, entstandenen Schäden waren damals militärisch bedeutungslos, es gab freilich zwei zivile Tote durch Einsturz eines Hauses infolge eines Raketeneinschlags (und etwa ein Dutzend Opfer von Unfällen mit Gasmasken, die etwa durch falsches Aufsetzen der Maske erstickten). Aber in ihrer Wirkung sollten diese – auf militärischem Niveau eher symbolischen – Attacken vor allem dazu dienen, die Meinung der Straße in vielen arabischen Ländern zugunsten des irakischen Regimes zu mobilisieren, indem die Konfrontation ausgeweitet wurde. Verbal drohte der irakische Präsident Saddam Hussein später damit, die (wenig treffsicheren) Raketen beim nächsten Beschuss mit Giftgasköpfen zu bestücken. Militärisch war er dazu mutmaßlich überhaupt nicht in der Lage, da die Verlängerung der Reichweite dieser Kurzstreckenraketen durch Thyssen auf Kosten ihrer Trägerkapazität ging. Aber verlassen wollte man sich darauf in der israelischen Bevölkerung nicht, zumal fest stand, dass das irakische Regime zum damaligen Zeitpunkt C-Waffen besaß: Es hatte 1988 Giftgas gegen Kurden im Nordirak eingesetzt. (Wogegen in Westdeutschland nur kleine Gruppen, u.a. linkere Gruppen am Rande der breiten Friedensbewegung gegen die NATO-Nachrüstung, protestiert hatten, während der Irak die technologischen Grundlagen dafür u.a. aus der BRD bezogen hatte.)
Daher saßen viele Menschen in Israel verängstigt in Schutzbunkern, und die Drohung mit dem Giftgaseinsatz rief natürlich historische Traumata wach. Und da es zum Teil deutsche Firmen waren, die dem Irak bei der chemischen Aufrüstung geholfen hatten, wurden historisch aufgeladene Vorwürfe laut und Vergleiche zu jenen (anderen) deutschen Firmen, die Giftgas in die Vernichtungslager geliefert hatten, gezogen.
Dies ist die Geburtsstunde dessen, was später zur zentralen „antideutschen“ Ideologie gerinnen sollte. Angesichts der noch frischen Warnungen vor dem „Vierten Reich“ – die staatliche Vereinigung von BRD und DDR, im Oktober 1990, lag zum Zeitpunkt des Golfkriegs nur drei Monate zurück – schienen diese lauten Vorwürfe nun die Wiederkehr des historischen Monstrums zu bestätigen. Eine Assoziationskette war schnell gesponnen, an der damals einige Beiträge in der taz (namentlich von dem Historiker Götz Aly) sowie der Zeitschrift konkret (ab ihrer Ausgabe 03/1991) mit strickten: Deutschland findet zu seiner Vergangenheit zurück; Deutschland hat dem Irak Giftgas geliefert; das irakische Regime möchte Israel auslöschen und bereitet sich darauf vor; zugleich gehen in Deutschland Hunderttausende Menschen gegen die Bombardierung des Irak auf die Straße. Klar war damit scheinbar folgendes: Hitlers langer Arm macht nun seine Pläne zur Ausrottung der Juden mittels Gasmord wahr. Ähnlich, wie viele Deutsche nach 1945 nur an die Opfer der Bombardierung Dresdens dachten und daher sich selbst und ihre Nation zum angeblichen Opfer des Zweiten Weltkriegs stilisierten, ist auch dieses Mal die Empörung über die Bombenteppiche nur die Ablenkung vom wahren Verbrechen (wie damals vom Holocaust). Die deutschen Massen sind, einmal mehr, Komplizen eines schnauzbärtigen Diktators, der vom Ende der Juden träumt.
In Wirklichkeit waren die Dinge nicht ganz genauso miteinander verkettet, wie man es wahrhaben wollte. Tatsächlich hatten deutsche Firmen (neben französischen und US-amerikanischen Unternehmen oder staatlichen Institutionen) in den 80er Jahren an der Aufrüstung des Irak, auch im nicht-konventionellen Bereich, mitgewirkt. Aber diese Aufrüstung hatte nicht zum Zweck, einen Angriff auf Israel zu ermöglichen, sondern erfolgte im Rahmen des Krieges zwischen dem Irak und dem Iran. Dieser mörderische Krieg, der von 1980 bis 88 dauerte, wurde durch fast alle führenden Industrieländer mit massiven Waffenlieferungen (oft an beide Seiten, wie im Falle der Bundesrepublik, während Frankreich „einseitig“ den Irak ausrüstete) unterhalten. Trug er doch dazu bei, die eigene Konjunktur zu unterstützen, aber auch zwei Regionalmächte zu schwächen, die OPEC zu spalten und den Ölpreis (der 1985/86 sein historisches Rekordtief erreichte) in den Keller rutschen zu lassen. Eine Kriegsführung des Irak gegen Israel lag zu jener Zeit nicht im Bereich des Denkbaren, und es hätte auch nicht im Interesse der US-Administration gelegen, die ihrerseits ebenfalls massiv an der damaligen Aufrüstung des Irak – auch im Bereich der bakteriologischen Kriegsführung, wie die New York Times im August 2002 ausführlich berichtete – beteiligt war. Und schließlich waren offizielle deutsche Stellen am Jahresanfang 1991 längst auf einen Kurs der Unterstützung Israels und der Befürwortung des US-Krieges gegen den Irak eingeschwenkt.
Zunächst hatte die Führung des wiedervereinigten Deutschland gar eigene Ambitionen zur militärischen Teilnahme an dem Konflikt angemeldet: Der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) schickte sich etwa im Oktober/November 1990 dazu an, 72 Tornado-Kampfflugzeuge der Bundeswehr auf die NATO-Basis Incirlik im Südosten der Türkei zu verlegen. Also in die Nähe des absehbaren Kriegsschauplatzes, und eventuell in Reichweite irakischer Raketen. Doch die Ambitionen der Bundesrepublik, die soeben mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag frisch ihre volle staatliche Souveränität zurück erlangt hatte, wurden durch ihre westlichen Bündnispartner ausgebremst: Einer allzu schnellen Ausweitung des militärischen Aktionsradius der Bundeswehr mochten diese nicht zustimmen. Der Kohl-Regierung wurde beschieden, man habe sie nicht um militärische Hilfe gerufen. Dass Ende Januar 1991 in Deutschland die Diskussion aufflammte, ob man nicht militärisch dem bedrohten Israel zu Hilfe kommen müsse (konkret aufgehängt an der Aufforderung, Abwehrraketen vom Typ ‘Patriot‘ aus Bundeswehrbeständen zu liefern), verschaffte vielen deutschen Politikern einen moralisch blütenweißen und von „historischer Sensibilität“ zeugenden Vorwand, um eine stärkere Rolle Deutschlands wieder ins Gespräch zu bringen. Ein SPD-Politiker, der damalige Wiesbadener Oberbürgermeister Achim Exner, wollte gleich die Bundeswehr nach Israel entsenden, wurde aber zurückgepfiffen, zumal man das dort gar nicht gefordert hatte. Ein Bundeswehrgeneral, Reinhard Schmückle, bezeichnete die Präsenz der Bundeswehr im türkischen Incirlik – die auf ein paar kleinere Flugzeuge vom Typ ‘Alpha-Jet‘ hatte abgespeckt werden müssen, nachdem die Verbündeten keine Tornados der Bundeswehr anfordern wollten – als „praktische Trauerarbeit und Vergangenheitsbewältigung“. So ging nationaler Wiederaufstieg im Jahr 1991, und an dem Grundmuster hat sich seither wohl nicht so sehr viel geändert.
Aber die Gründer der neuen ideologischen Strömung hinderte das nicht daran, ein anderes Szenario aufzumachen: Das „Vierte Reich“ agierte doch sichtbar, im Schatten des Golfkonflikts, verborgen hinter den Umrissen der irakischen Diktatur, die mit massenhafter Komplizenschaft der (friedensbewegten) Deutschen auf den Straßen agierte. Die militärischen Angebote an die westlichen Mächte hinter den USA dienten nur zur Täuschung, waren aber ein durchsichtiges Manöver. Anlässlich einer Diskussion mit mehreren AutorInnen, die in konkret 06/1991 publiziert wurde, vertraten mindestens anderthalb – Eva Groepler und, zögernd, auch Hermann L. Gremliza – implizit oder explizit die Auffassung, Deutschland sei in Wirklichkeit „wenn Kriegspartei, dann auf der Seite des Irak“ gewesen. Das Bündnis Radikale Linke (RL) war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits, vor diesem Hintergrund, an massiv gewordenen politischen Widersprüchen zerplatzt. Es hatte die Herausgabe seiner „Flugschrift“ zum Golfkrieg, die zum 1. März 1991 erschienen war, nicht überlebt: Zwischen Kriegsbefürwortern im Namen des Antifaschismus und Anti-Antiantisemitismus einerseits und KriegsgegnerInnen anderseits war die Kluft unüberbrückbar geworden.
War das zum damaligen Zeitpunkt noch eher eine bloße Assoziationskette, die auf nicht allzu viel tiefgreifende theoretische Reflexion abgestützt war, so ging der „harte Kern“ in den folgenden Jahren daran, eine veritable Ideologie darauf zu konstruieren. In «antideutschen» Publikationen wurde diese später allmählich, Zug um Zug, ausformuliert. Seitdem hat sich der Israelkult- und Philosemitismus-Unfug unter (früheren) radikalen Linken ausgebreitet und in ihren Reihen einen veritablen neuen Dogmatismus hervorgebracht. Aber dies ist ein anderes Kapitel…

Bernhard Schmid lebt seit fünfzehn Jahren in Paris. Er ist Dr. iur., Jurist bei einer antirassistischen Organisation, nebenberuflich freier Journalist und Autor mehrerer Bücher, darunter »Algerien-Frontstaat im globalen Krieg?«, »Das koloniale Algerien« und »Der Krieg und die Kritiker«.

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