Von Jochen Knoblauch
aus telegraph #122/123
Es heißt ja etwas großkotzig: Nichts ist so alt, wie das Buch der letzten Saison – aber dies wäre etwas kurz und konsumistisch gedacht. Da aber der letzte telegraph nun auch schon fast ein Jahr her ist hat sich bei mir einiges angesammelt. Wenn jetzt also das eine oder andere Buch aus dem Jahre 2009 noch dabei ist, dann weil es sich trotzdem lohnt. Ansonsten werde ich versuchen auf aktuelle Neuerscheinungen zwischendurch auf dem ost:blog zu schreiben. Hier nun erst mal noch die Bücher der letzten Saison:
Anarchismus
Solange wir noch alt genug sind, um von der Geschichte eingeholt zu werden, sollten wir die Chance auch nützen. So etwas das stetige Geplänkel um das Buback-Attentat und der damaligen Diskussion innerhalb der westdeutschen Linken: Johann Bauer; Ein weltweiter Aufbruch! Gespräche über den gewaltfreien Anarchismus der Siebzigerjahre. Mit Grundlagentexten u.a. zur Kritik der RAF und zur Göttinger „Mescalero“-Affäre. Verlag der Graswurzelrevolution Nettersheim 2009 / OKt. / 119 S. / 12 Euro. Vor allem schreibt Bauer hier an gegen den staatlichen Mythos, dass die RAF die sozialen Kämpfe bestimmt hätte, was natürlich nicht der Fall war. Die RAF waren vielleicht die lautesten, aber längst nicht die effektivsten.
Nicht nur für Jugendliche gedacht ist die kleine, aber feine – gezeichnete – Einführung in das libertäre Denke: Findus; Kleine Geschichte des Anarchismus. Ein schwarz-roter Leitfaden. (Comic) Verlag der Graswurzelrevolution Nettersheim 2009 / OKt. / 56 S. / 7,80 Euro. Findus, der sich mit seinen Zeichnungen in der „Graswurzelrevolution“ und der „Direkten Aktion“ inzwischen sich einen Namen gemacht hat legt hier eine Einführung mit Aha-Erlebnis vor.
Zur Geschichte gehört inzwischen auch der umfangreiche Versuch den libertäre Kultursozialisten Gustav Landauer endlich mit einer längst überfälligen Werkausgabe zu würdigen. Dieses unterfangen nimmt nun Form an und kontinuierlich erscheinen im Jahr ein bis zwei Bände. Der aktuelle: Gustav Landauer; Nation, Krieg und Revolution. Ausgewählte Schriften Band 4. Herausgegeben von Siegbert Wolf, mit Illustrationen von Uwe Rausch. Verlag Edition AV Lich 2011 / Okt. / 407 S. / 18,00 Euro. Diese Werkausgabe richtet sich nach den Themenkreisen Landauers und ist jeweils mit einer Einführung, Zeittafel, Bibliographie und einem Personenregister versehen. Ein löbliches Projekt.
Geschichte ist inzwischen auch, dass ein Banküberfall erstmals mit einem Automobil begangen worden ist. Dieser „Heldentat“ kann sich der Anarchist Jules Bonnot rühmen, der in den „Jahren des Zorns“ zu einer berüchtigten Figur in Frankreich wurde. Jetzt gibt es einen Roman über sein Leben erschienen: Pino Cacucci; Besser auf das Herz zielen. Roman. Edition Nautilus Hamburg 2010 / Geb. / 349 S. / 19,90 Euro. Mitreißend und dicht geschrieben. Somit ist das Buch was für Menschen, die Krimis und Historie mögen.
Das Jahr 2010 sollte eigentlich ein Tolstoi-Jahr werden, denn am 20 November jährte sich sein Todestag zu 100. Mal. Aber so richtig sollte dieser russische Reformpädagoge, christlicher Anarchist und Schriftsteller mit Weltruf nicht ins Rampenlicht öffentlicher Diskussionen geraten. Dafür erschien das kleine Büchlein: Klaus Hugler; L. N. Tolstoi – Der fremde Gast. Regia Verlag o.O. 2010 / OKt. / 151 S. / 10,00 Euro. Eine kleine aber feine Einführung in Leben und Werk.
Ebenso soll hier noch mal auf ein kleines Buch zum selben Thema verwiesen werden: Ulrich Klemm; Leo Tolstoi – Dichter, Christ, Anarchist. Edition Anares Hilterfingen (Schweiz) 2008 / 51 S. / 7,80 Euro. Somit bleibt Tolstoi gefangen zwischen den Fronten, die nur das literarische Werk sehen wollen, und denen, die in Tolstoi auch den Reformer und Anti-Militaristen sehen. Schade.
Politik
Alle wettern über die Banken, über die Gier usw., aber wie sieht es mit den Alternativen aus? Statt Gezeter brauchen wir endlich Gegenmaßnahmen. Eine davon wir hier vorgestellt: Elisabeth Voß; Wegweiser Solidarische Ökonomie. ¡Anders Wirtschaften ist möglich! Hrsg.: NETZ für Selbstverwaltung und Selbstorganisation e.V. AG SPAK Bücher Neu-Ulm 2010 / 86 S. / 9,00 Euro. Statt sich beleidigt oder trotzig in die Ecke zu stellen, wird hier Mut gemacht über eine andere, solidarische Ökonomie nachzudenken. Und das ist verdammt wichtig.
Ein Relikt der 1970er Jahre ist dieses neu aufgelegte Buch des gewaltlosen und Anti-imperialistischen Hans Paasche; Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Donat Verlag Bremen 2010 / geb. / 167 Seiten / 12,80 Euro. Aber irgendwie will sich nach 40 Jahren nicht mehr jene spaßige Zivilisationskritik so richtig einstellen. 40 Jahre Diskussionen haben die Landschaft geprägt und dieser über 90 Jahre alter Text mag nicht mehr so wie einst überzeugen. Das kluge und informative Nachwort des Verlegers reißt die Sache auch nicht mehr so richtig raus. Es würde sich bestimmt lohnen noch mal tiefer sich damit zu beschäftigen. Der Autor Hans Paasche jedenfalls hat es verdient nicht vergessen zu werden.
Kunst
Sicherlich ist Stirners Werke „Der Einzige und sein Eigentum“ von 1845 inzwischen ein Mythos (viel verkauft, wenig verstanden). Und jetzt wird es zu einem Kunst-Objekt: Michaelis Pichler; Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Anhang. Verlag „greatest hits“ Berlin 2009 / 460 S. / 12 Euro. Im Format und Aussehen, dem Reclam-Band ähnlich hat der Künstler Pichler einfach alles im Stirner-Text gestrichen, bis auf die Personalpronomen. Klasse. Und welche Erkenntnis lässt sich daraus ziehen? Der „Prediger des Egoismus“ hat längst nicht soviele Personalpronomen verwendet, wie mensch gemeinhin vermuten würde. Als Sammelobjekt unabdinglich.
Ein Kunst-Stück ganz eigener Güte ist: Bernd Kramer und Christoph Virchow (Hg.); Ein Fall von versteckter Erotik… Überlegungen zum Problem von Übermalungen in der Kunst. Karin Kramer Verlag Berlin 2010 / Mit 49, teils farbigen Abbildungen / 136 Seiten / 14,80 Euro. Mit der alten West-Berliner Kunst-Szene beginnend und sich langsam nach Prenzlauer Berg sich bewegend bringt dieser Sammelband zum Thema „Übermalungen“ einen eigenen Blick auf die Berliner Szene. Ein amüsantes und kurzweiliges Buch. Für kunstinteressierte Desperados sehr empfehlenswert.
Literatur
In der Surrealistischen Bewegung waren nur wenige Frauen vertreten und sie war eine der stärksten: Leonora Carrington; Die Windsbraut – Bizarre Geschichten. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Heribert Becker. Edition Nautilus Hamburg 2009 / Reihe: Kleine Bücherei für Hand und Kopf Bd. 61 / Klappenbroschur / m. farb. Abb. / 255 S. / 14,90 Euro. Diese Sammlung von surrealen Geschichten, geschult an englischen Humor und Schrulligkeit sind immer noch empfehlenswert, und zeigen, dass Carrington als eigenständige Person wahr zu nehmen ist und nicht nur als die Frau an der Seite von Max Ernst.
Zeitschriften mag eigentlich an dieser Stelle nicht so gerne empfehlen aber als lokale Aussenseiter-Empfehlung sei diese hier mal für Literatur interessierte genannt: Hinter der Weltstadt. Mitteilungen des kulturhistorischen Vereins Friedrichshagen e.V. Nr. 18: „Schaffen, was in mir ist“ – Frauen im Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises (Hedwig Lachmann-Landauer, Frida Strindberg, Laura Marholm, Julie Wolfthorn, Dagny Przybyszewska, Paula Dehmel), April 2009. / Format: Din-A-4 / OGeheftet / Abb. / 48 S. / Preis ???. Der Untertitel sagt ja schon alles, und es kann versprochen werden, dass hier einige interessante Ausgeben bereits gemacht worden sind. Es ist toll, dass sich Leute gefunden haben diese reichhaltige Geschichte von Friedrichshagen lebendig zu halten.
Lebendig gehalten sollte auch der französische Dichter Benjamin Péret. Jetzt liegt eine neue Ausgabe vor: Benjamin Péret; Ich esse nicht von diesem Brot. Schmähgedichte. (in französischer und deutscher Sprache). Übersetzt, eingeleitet, mit einem Glossar versehen und durch eine Umfrage ergänzt von Heribert Becker. Karin Kramer Verlag Berlin 2010 / Mit fünf farbigen Zeichnungen von Arrabal und 3 Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Rikm Lina / 174 S. / 18,00 Euro. Der große Surrealismus-Kenner Becker hat sich dem großen sozialkritischen Dichter angenommen. In Frankreich waren seine Gedichte wirkliches Volksgut, vertont von bekannten Sängern und Sängerinnen, was wohl in Deutschland kaum möglich wäre. Und bis heute haben seine bissigen Verse an Radikalität nichts eingebüßt. Das wäre eine Pflichtlektüre für unsere Bezirks-Bukowski-Poeten. Ganz nach dem stotternden Vorbild: Wir können auch anders!
Nun, soweit erst mal ein Teil der Empfehlungen. Keine neuen Bücher, bevor die alten nicht gelesen sind…