55 Jahre nach Einführung der Wehrpflicht hat der Bundestag am 25. März 2011 ihre Aussetzung beschlossen und den Weg zu einer Freiwilligenarmee freigemacht.
Von Ralf Siemens
aus telegraph #122/123
Das auf Zwang beruhende Wehrpflichtinstrumentarium zur Rekrutierung von Soldaten ist mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz zum 1. Juli suspendiert. Diese Entscheidung markiert dreierlei: Erstens nehmen jetzt auch die Betonköpfe und Traditionalisten in der Union Abschied vom Kalten Krieg, in dem einzig eine Massenarmee als das probate Mittel zur militärischen Verteidigung gesehen wurde. Zweitens folgt die Bundesrepublik dem Trend hochtechnisierter Staaten, kleinere, aber professionellere und flexibel einsetzbare Freiwilligenstreitkräfte zu finanzieren. Und drittens markiert der Ausstieg aus der Wehrpflicht die Normalität sich demokratisch verstehender Gesellschaftssysteme, dem eigenen Staatsbürger nur dann einen militärischen Zwangsdienst aufzubürden, wenn es die verteidigungspolitische Situation zwingend erforderlich erscheinen lässt.
Von Bekenntnissen…
Dass ausgerechnet eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung die Axt an das militärische Zwangssystem anlegt, ist bemerkenswert. Und es ist auch erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit ein bis zum Ausscheiden Guttenbergs CSU-geführtes Militärministerium das Wehrpflicht-Dogma weggeräumt hat. Die Bekenntnisse führender Unionspolitiker zur Wehrpflicht füllen sicherlich ganze Archivbestände. So hob beispielsweise Kanzlerin Merkel beim staatstragenden Gelöbnis von Bundeswehr-Rekruten vor dem Reichstagsgebäude am 20. Juli 2009 noch ausdrücklich hervor, dass sie sich zur Wehrpflicht bekenne. Die Wehrpflicht sei „eine wichtige Klammer zwischen Gesellschaft und Streitkräften“, die die Bundeswehr gesellschaftlich verankert habe. Die Wehrpflichtigen würden die Sicherheit Deutschlands gewährleisten. Mehr noch: „Die Wehrpflicht ist zum Markenzeichen unserer Streitkräfte geworden, um das wir auch international beneidet werden.“
… zu Einsichten
Aber wen interessiert schon Politikergeschwätz von gestern, hätten nicht Hunderttausende die mit der Wehrpflicht verbundenen Eingriffe in ihre Freiheitsrechte erdulden müssen. Die gewendete Auffassung der Union fasst Thomas de Maizière, der das Militärministerium von seinem Amtsvorgänger Guttenberg Anfang März übernahm, in der Bundestagsdebatte treffend zusammen: „Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspolitisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militärisch nicht mehr erforderlich. Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auch nicht mehr gewährleistet. Es gibt keinen Weg zurück. Ich sage das nicht mit Freude. Denn die Aussetzung der Wehrpflicht heute ist kein Freudenakt.“
Einen gewichtigen Punkt hat de Maizière nicht genannt: Ausgangspunkt der Wehrpflichtdiskussion innerhalb der Bundesregierung war die Haushaltslage des Bundes. Im Mai letzten Jahres kündigte Guttenberg in einer Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr Einschnitte in den Strukturen und beim Personalbestand an, um einen finanziellen Beitrag zur notwendigen Konsolidierung des Bundes zu leisten. Und, sinngemäß, wenn die Bundeswehr schon sparen müsse, dann solle eher die Wehrpflicht aufgegeben werden, als dass die Streitkräfte zugunsten der Wehrpflicht militärische Fähigkeiten aufgeben müssten.
Im über 31 Milliarden Euro schweren Bundeswehretat sind allein 50 Prozent für Personalkosten gebunden. Und dabei hatte die Wehrpflicht ihren Preis. Sie kostete jährlich etwa eine Milliarde Euro. Wobei darin nicht einmal die Ausgaben der Wehrverwaltung eingerechnet sind, die die jungen Männer in die Kreiswehrersatzämter vorbestellt, mustert, nach ihrer Eignung untersucht und zum Zwangsdienst heranzieht. Und auch die wehrpflichtbedingten Ausgaben für Verbrauchsmaterialien, Unterkunft und medizinische Versorgung sind noch außen vor.
Erosion der Wehrpflicht
Letztlich hatte die politische und militärische Führung keine Alternative zur Aussetzung der Wehrpflicht. Denn auch die andauernde Kritik am Zwangssystem des Kriegsdienstes hat deutliche Spuren in den einstmals geschlossenen Reihen von Union und SPD hinterlassen. Die Wehrpflichtfront war sturmreif geschossen, hatten doch auch zunehmend bürgerliche Leitmedien in ihren Kommentaren ein Abrücken von der Wehrpflicht erkennen lassen.
Zum einen fehlte seit dem Ende des Kalten Krieges eine sicherheitspolitische Begründung für die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht. Diese mahnte bereits Ende 1995 der damalige Bundespräsident und frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, an, als er ausführte, dass „die Wehrpflicht ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers (ist), dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet“. Die Wehrpflicht sei kein „allgemeingültiges ewiges Prinzip“, sondern müsse sicherheitspolitisch begründet werden. Es brauchte aber noch weitere 15 Jahre, bis endlich die Bundeswehr eingestand: „Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mitteleuropas und damit Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr. Das wird angesichts des erweiterten europäischen Sicherheits- und Stabilitätsraumes und der erkennbaren Fortschritte in der Zusammenarbeit mit Russland auf absehbare Zukunft auch so bleiben.“ Daher, so die regierungsamtliche Schlussfolgerung, „sind die mit gesetzlichen Pflichtdiensten verbundenen Grundrechtseingriffe nicht mehr zu rechtfertigen“.
Der andere Faktor ist die fehlende „Wehrgerechtigkeit“. Auch diese hat eine verfassungsrechtliche Bedeutung. Die Bundeswehr hat zunehmend den Anteil von Wehrpflichtigen in ihrem Personalbestand heruntergefahren. Bis 1990 war etwa jeder zweite Soldat in der Bundeswehr noch ein Wehrpflichtiger. Ende des letzten Jahrzehnts diente aber nur noch jeder Siebente als Grundwehrdienstleistender in der „Wehrpflichtarmee“. Damit hatte sich die Bundeswehr bereits schleichend von der Wehrpflicht verabschiedet, um den Anteil von Profis unter ihren Soldaten zu steigern. Dies führte direkt in die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um die Wehrpflicht. Denn wenn der Staat einen Zwangsdienst abfordert, muss dieser so organisiert sein, dass die ihm Unterworfenen allgemein und nicht selektiv, sprich: willkürlich zu dienen haben. Wenn aber nicht einmal jeder Fünfte eines Jahrgangs dem Waffendienst nachzukommen hat, wenn jeder Zweite ausgemustert wird, dann liegt hier ein eklatanter Verstoß gegen den Grundsatz der gleichen Pflichtenbelastung vor. Das Ergebnis ist die gesellschaftliche Erosion der Wehrpflicht.
Ära von Wehrpflichtarmeen ist vorbei
Die Aussetzung der Wehrpflicht ist faktisch ihr Ende. Die Zeiten einer Massenarmee mit Hunderttausenden Kriegsdienstverpflichteten sind vorbei. Ein klassischer konventioneller Krieg ist ausgeschlossen. Nicht nur, weil nach menschlichem Ermessen ein solcher kriegerischer Konflikt in Europa auszuschließen ist, sondern auch, weil es selbst den westlichen Industriestaaten ökonomisch nicht mehr möglich ist, eine solche Massenarmee modern aufzustellen.
Trotzdem hat die Bundesregierung die Wehrpflicht nicht abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt, aber streng genommen noch nicht einmal das. Denn mit dem verabschiedeten Wehrrechtsänderungsgesetz bleibt § 1 des Wehrpflichtgesetzes, wonach alle Männer ab dem 18. Geburtstag wehrpflichtig sind, unangetastet. Erst der zweite Paragraf bestimmt, dass alle nachfolgenden Regelungen „lediglich“ außerhalb des Spannungs- oder Verteidigungsfalles nicht gelten. Man hat sich also eine Hintertür offengelassen, um in Spannungszeiten, die sie selbst ausschließt, die Wehrpflicht automatisch wieder aufleben zu lassen. Das ist das letzte Zugeständnis an die militärkonservativen Wehrpflichtanhänger in Politik und Militär.
Bundeswehr ohne Wehrpflicht
Die faktische Abschaffung der Wehrpflicht wird für den Binnenbetrieb und das Binnenklima der Bundeswehr wenig Auswirkungen haben. Da die Wehrpflicht nicht mehr strukturbestimmend war, ist der Wegfall der kurzdienenden Wehrpflichtigen für die Bundeswehr eher entlastend als funktionseinschränkend. Die praktische Bedeutung der Wehrpflicht lag in den vergangenen Jahren darin, einerseits einen direkten Zugriff auf junge Männer zu haben, andererseits aus dem über die Wehrpflicht in die Truppe hereingeholten Rekrutenkreis ihren Nachwuchs für die unterste Laufbahn zu einem nicht unerheblichen Teil rekrutieren zu können. Dass zukünftig die Bundeswehr ihren Nachwuchs für die Mannschaftsdienstgrade über Anzeigenkampagnen in der „Bild“ zu gewinnen sucht, ist der Preis dafür, dass nicht mehr jedes Jahr 400.000 männliche Jugendliche unter Androhung einer polizeilichen Vorführung aufgefordert werden, sich einer militärischen Zwangsuntersuchung mit anschließender wehrpsychologischer Eignungsprüfung unterziehen zu müssen.
Die Bundeswehr wird ihre Tradition, ihr Selbstbild und ihr Selbstverständnis ändern. Nicht als Folge der Wehrpflicht-Aussetzung, sondern vielmehr als Folge der Kriegs- und Einsatzrealität. Kriege verändern den Menschen. Dies gilt selbstverständlich und gerade für diejenigen, die sie führen. Abstumpfung, Gewaltverherrlichung und Verrohung sind die Gefahren einer sich von der Gesellschaft ohnehin abgeschotteten militärischen Welt, die mit einer zunehmenden Kriegspolitik zwangsläufig verbunden ist.
Wirtschaftsinteressen statt Landesverteidigung
Die Aussetzung der Wehrpflicht ist untrennbar mit der vom Bundeskabinett im Dezember beschlossenen Reform der Bundeswehr verbunden. Die Bundeswehr soll von rund 250.000 Soldaten auf bis zu 185.000 Soldaten verkleinert und in ihren Strukturen vollständig auf Auslandseinsätze ausgerichtet werden. Noch liegen keine konkreten Beschlüsse über die neuen Strukturen der Streitkräfte vor. Es zeichnet sich aber ab, dass insbesondere die Stellung des Generalinspekteurs als oberster Militär erheblich gestärkt wird. Ihm soll zukünftig die Rolle eines Oberkommandierenden der Streitkräfte zukommen. Außerdem soll die grundgesetzlich festgelegte Trennung zwischen ziviler Militärverwaltung und der uniformierten Truppe an der Spitze, im Ministerium, aufgeweicht werden. Soldaten sollen auch Posten übernehmen dürfen, die eigentlich ausschließlich Beamten offenstehen.
Von der Landesverteidigung als verfassungsmäßigen Auftrag hat sich die Bundeswehr verabschiedet. Sie reformiert sich zu einem Instrument, dass ausschließlich der weltweiten wirtschaftlichen und geopolitischen Interessenwahrung der Bundesrepublik dient. Bereits die „Verteidigungs“politischen Richtlinien (VPR) des Militärministeriums stellten 1992 fest, dass die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ ein vitales Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik sei. Und Horst Köhler sagte im Sommer 2010 in einem Interview, dass „auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“. Als Beispiel führte er freie Handelswege an . Er dankte als Bundespräsident ab, weil seine Äußerung ein überwiegend negatives Echo auslöste und er von der Bundesregierung keine Unterstützung erfuhr. Einzig der Verteidigungsminister sprang ihm bei. Guttenberg verwies wiederholt auf den Zusammenhang von Rohstoffverknappung einerseits und Ressourcenbedarf „aufstrebende Mächte“ andererseits, was zu militärisch auszutragenden Konflikten um Rohstoffe münden könne.
Bemerkenswert: War es noch das Ziel rot-grüner militärischer Reformen, die Bundeswehr zu befähigen, gleichzeitig bis zu 14.000 Soldaten in fünf verschiedenen Operationsgebieten zu „friedensstabilisierenden Einsätzen“ schicken zu können, ist die Zielvorgabe für die aktuell anstehende Reform, „Dauereinsätze mit mindestens 10.000 Soldatinnen und Soldaten in mehreren Einsatzgebieten“ durchführen zu können. Dies macht nicht die neue Qualität der angestoßenen Reform aus. Sondern sie liegt darin, wie sich die Binnenstruktur sowie das Machtgefüge innerhalb des Militärs und zur Politik verändern kann. Eine Kriege führende Armee, die nach Verwundeten- und Tapferkeitsorden, nach Ehrenmalen und Veteranentagen ruft, und eine Politik, die dies nicht nur toleriert sondern auch fordert, bewegt sich in die gesellschaftliche Außenseiterrolle – in eine selbstgeschaffene Realität des Besonderen und Herausragenden.
1) Zum verabschiedeten Wehrrechtsänderungsgesetz in seiner geänderten Fassung und zu den abgelehnten Entschließungs- bzw. Änderungsanträgen im Eintrag „Bundestag beschließt
die Aussetzung“ vom 24. 03. 2011 unter http://www.asfrab. de/wehrpflichtinfos/aktuelles.html
2) Von den 28 EU-Mitgliedsstaaten halten gegenwärtig lediglich noch vier Staaten an der Wehrpflicht fest: Estland, Finnland, Österreich und Zypern. Siehe http://www.asfrab.de/wehrpflicht- infos/wehrformen-in-der-eu.html
3) Rede der Bundeskanzlerin beim Gelöbnis der Bundeswehr vor dem Reichstagsgebäude am 20. Juli 2009 in Berlin, abrufbar unter http://www.bundesregierung.de/nn_916176/Content/DE/ Bulletin/2009/07/85-1-bkin-geloebnis-bw.html
4) Rede des Bundesministers der Verteidigung vor dem Deut- schen Bundestag am 24. März 2011, abrufbar unter http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2011/03/32- 3-bmvg-bt.html
5) Rede Guttenbergs an der Führungsakademie der Bundeswehr vom 26. 05. 2010.
6) Um etwa 60.000 Wehrdienstleistende auszubilden, wurden annähernd 10.000 Zeit- und Berufssoldaten benötigt. Nach den Kostenansätzen 2010 sind 13.800 Euro pro Grundwehrdienst- leistendem und rund 31.500 Euro pro Zeit-/Berufssoldaten aufzuwenden
7) Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr vom 15.11.1995, abrufbar unter http://www.bundespraesident.de/dokumente/-,2.12411/ Rede/dokument.htm
8) Aus der einleitenden Begründung der Bundesregierung zu ih- rem Antrag auf Aussetzung der Wehrpflicht, siehe Endnote 1. 9) Vgl. dazu Ralf Siemens, Wehrpflicht, die große Lotterie – Zahlen und Fakten zur Wehrpflicht-Willkür in Forum Pazifismus III/2008, abrufbar unter http://www.asfrab.de/beitraege.html 10)Verteidigungspolitische Richtlinien, 26. 11. 1992, abrufbar unter http://www.asfrab.de/vpr-1992-verteidigungspolitische- richtlinien-1992.html
11) Horst Köhler im Interview am 22. 05. 2010, abrufbar unter http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1188780/ 12) Spiegel Online vom 9. 11. 2010, Guttenberg verteidigt Köhlers umstrittene Thesen, abrufbar unter http://www.spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,728127,00.html
13) Erlass des Verteidigungsministers Peter Struck vom 10. 08. 2004 „Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr“, abrufbar unter http://www.asfrab.de/konzeption-der-bundeswehr.html 14) Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr vom 31. 08. 2010, abrufbar unter http://www.bundeswehr-monitoring. de/fileadmin/user_upload/media/Bericht%20GenInsp%20%20 Endfassung%2020100831.pdf
Ralf Siemens ist Sprecher der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph