Dokad od Kapitalizmu? – Wohin vom Kapitalismus aus?

Wie wenig die einheimische Linke davon hält, sich mit Veränderungen in diesem Lande aufzuhalten, haben sie Anfang des Jahres vorgeführt. Statt einer Kritik des neuen deutschen Imperialismus leisteten sie sich eine sogenannte „Kommunismusdebatte“. – Eine politische Momentaufnahme.

Von Sebastian Gerhardt
aus telegraph #122/123

Nach den ersten Erfahrungen des Umbruchs vom sogenannten Realsozialismus zur Marktwirtschaft legte Karol Modzelewski 1993 in einem Buch seine Sicht auf Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Entscheidungen vor: „Dokad od komunizmu?“ Der Berliner Basisdruck-Verlag publizierte den Schlüsseltext der Solidarnosc-Linken 1996 unter dem so korrekt wie sperrig übersetzten Titel: „Wohin vom Kommunismus aus?“ Die Überschrift macht deutlich, was für Modzelewski außer Frage stand: Der Startpunkt der Reise, der Kommunismus. Kommunismus war – und ist – für ihn die totalitäre Herrschaft, mit der man es im Ostblock zu tun hatte und von der dann alle nichts mehr wissen wollten. Der Wahlsieg der Bürgerkomitees der Solidarnosc im Juni 1989 markiert für ihn diesen Schritt. Das „Woher“ schien damit geklärt.

Weniger deutlich war allerdings das „Wohin“. Denn rasch fühlten sich die meisten Vertreter Solidarnosc nicht mehr an das Programm gebunden, mit dem sie zu den Wahlen angetreten waren. Innerhalb weniger Monate vollzogen sie einen Schwenk um 180 Grad, von der Vertretung der Interessen der Belegschaften hin zu Preisfreigabe und Lohnstopp, zum „Schock ohne Therapie“. Die Mehrheit der Polen hatte zwar die Parteiherrschaft und die leeren Regale in den Läden endlich loswerden wollen. Nun verloren sie aber auch die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, die billigen Arzneimittel, Schulbücher und Urlaubsplätze. Sie mussten feststellen, dass es ihnen „unter der Kommune“ besser gegangen war. Eine Aussage, die Modzelewski nicht als Ergebnis einer geistigen Sowjetisierung ansah, sondern als bittere Wahrheit: „Zweifellos ist dieser Zustand mehr das Ergebnis der Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten vier Jahre, als von 45 Jahren Kommunismus“, schrieb er 1993. Zusammen mit wenigen anderen Aktivisten der alten Opposition und Linken aus dem Lager der alten Staatspartei gründete er die 1993 die „Unia Pracy“ – die Union der Arbeit. Gemeinsam wollten sie das „Wohin?“, die Richtung der fälligen Reformen, beeinflussen. In seinem Buch widersprach Modzelewski vehement den liberalen Steuermännern der Transformation zur Marktwirtschaft, die ihren Kurs der Konkurrenzfähigkeit um jeden Preis für alternativlos ausgaben. Tatsächlich sei ihre Politik kein Ausdruck irgendeiner wirtschaftlichen Vernunft, sondern diene bestimmten Interessen recht kleiner Gruppen der Gesellschaft. Sein Buch kreist um das Problem, warum ausgerechnet die Erben einer Arbeiterbewegung in den frühen neunziger Jahren eine brutale Verarmung der polnischen Arbeiterklasse durchsetzten.

So plakativ wie problematisch die Vorstellung von historischen Weichenstellungen auch ist, sicher sind mit dem Umbruch von 1989 wesentliche Strukturen geschaffen worden, die noch immer Weltpolitik und Weltwirtschaft prägen. Die Krise von 2008/2009 hat auch in den Zentren der Weltwirtschaft einige der Brüche in der Akkumulationsdynamik offen gelegt und Zweifel an der Nachhaltigkeit kapitalistischer Erfolge bestärkt. Die Schwerpunkte auf den Weltmärkten verschieben sich. Zwar haben sich in den USA und Westeuropa die Machtverhältnisse nicht geändert. Der NATO-Einsatz in Libyen verdeutlicht, wie groß ihr Einfluss immer noch ist. Die Hoffnung auf Veränderungen an der Peripherie, wie sie Thomas Kuczynski in der jüngsten Ausgabe von lunapark21 (Heft 13) formuliert hat, nimmt uns unsere Hausaufgaben nicht ab. Ohne soziale und politische Veränderung in den Metropolen haben emanzipatorische Veränderungen in Brasilien, China oder Indien kaum eine Chance. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als grober Indikator der Arbeitsproduktivität macht deutlich, wo größeren Möglichkeiten einer anderen Wirtschaft immer noch zu finden sind: in den Zentren des Weltmarkts.

Die katastrophalen Folgen des Tsunami vom 11. März in Nordostjapan zeigen aber auch, wie es heute um die biblische Aufforderung bestellt ist, sich „die Erde untertan zu machen“. Selbst mit gewaltigen technischen Apparaten beherrschen die modernen Gesellschaften die Erde nur zu einem kleinen Teil. Und fraglich ist es, wie die Nebenwirkungen und Folgewirkung einiger der dabei eingesetzten Mittel beherrscht werden können. Der Tsunami tötete an den Küsten Japans wahrscheinlich mehr als 25 000 Menschen, hunderttausende leben in Notunterkünften. Zwar gelang in den japanischen Atomkraftwerken die Notabschaltung während des Erdbebens, doch als infolge der Flutwelle die Kühlung des AKW Fukushima Daiichi ausfiel, entwickelte sich in kurzer Zeit der größte Atomunfall seit Tschernobyl. Noch nach Wochen fehlten den Arbeitern im Katastropheneinsatz an Dosimetern, Geigerzählern und Gummistiefeln. Dabei sind sie nur 250 Kilometer von Tokio entfernt. Inzwischen hat sich bis zur New York Times (11.4.2011) herumgesprochen, dass fast 90 Prozent der Beschäftigten in den japanischen Atomkraftwerken Leih- und Zeitarbeiter sind, die aus dem Job fliegen, wenn die Anzeige auf ihrem Dosimeter die zulässige Höchstbelastung überschreitet. Dann kommen neue.

Aber schon eine Woche nach der Katastrophe erläuterte die New York Times ihren Lesern das Vorgehen der Analysten und Händler an der Wallstreet, die selbstverständlich das Unglück in seinen finanziellen Folgen erfassen und bewerten müssen: Wie groß sind die Konsequenzen bei welchem Szenario für welche Branche und Firma. Für wen ergeben sich Einschränkungen, für wen Behinderungen? Welche Verluste sind versichert und durch wen? Die Wiederaufbaukosten werden zurzeit auf etwa 300 Milliarden Euro geschätzt: Eine Summe, die angesichts der Auslandsvermögen des japanischen Kapitals sicher aufgebracht werden kann. Im Hintergrund machte die New York Times jedoch noch ein anderes Problem aus: „Die große Frage ist, ob die Märkte – in die wir gewöhnlich so viel Vertrauen setzen – solchen äußeren Risiken ihren wahren Preis geben können.“ Doch – wie die Times weiß – müssen „die Märkte“ diesen wahren Preis gar nicht finden, da die Regierungen mit ihren Garantien für die Atomkonzerne die wirklich unkalkulierbaren Risiken übernehmen.

Gründe nach einer anderen, menschenfreundlicheren Gesellschaft zu suchen, gibt es wohl genug. Wie aber die Probleme sinnvoll zu formulieren sind, nach deren Lösung wir suchen, ergibt sich nicht von selbst oder aus den aktuellen Skandalen. Eine besondere Selbstsicherheit ist dabei nach den Niederlagen der Linken – aller ihrer Strömungen – in den letzten Jahrzehnten weder zu erwarten, noch wäre sie wünschenswert. Doch Bescheidenheit allein kann die Antwort wohl nicht sein. Im Gegenteil: Die Anforderungen an die eigene politische Arbeit sind gestiegen, während die Erfolgserwartungen gesunken sind. Es gilt zugleich „Kleinere Brötchen zu backen“ und „Dickere Bretter zu bohren.“ Das ist nicht einfach, aber wann ist das Arbeiten für eine menschenfreundlichere Gesellschaft je einfach gewesen?

Der Rückblick auf Modzelewskis Überlegungen könnte uns warnen: Wir sollten uns über das „Woher?“ nicht zu sicher sein, wenn wir ein sinnvolles „Wohin?“ diskutieren wollen. Einerseits zählte zu den Schwächen der Linken in der Solidarnosc – wie, auf andere Weise, auch der Linken in der DDR-Opposition – eine ungenügende Analyse der Widersprüche nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft im osteuropäischen Nominalsozialismus, sondern vor allem eine Analyse der Widersprüche in diesen Klassengesellschaften selbst. Nicht nur die Parteispitze und die Generäle, „die da oben“, stellten sich als Gegner solidarischer Lösungen heraus. Andererseits ist nicht alles an der alten Gesellschaft überflüssig und verzichtbar. Auf dem Weg zu neuen Möglichkeiten kann vieles verloren gehen, was tatsächlich noch gebraucht wird. Im Nachhinein ist es kaum noch überraschend, dass sich in Polen Anfang der neunziger Jahre Freunde und Bündnispartner bald als erbitterte Widersacher herausstellten – und, seltener, auch umgekehrt.

Dabei sind jähe Wendungen und überraschende Umbrüche nie auszuschließen, schon gar nicht in Krisenzeiten. Unsicherheit muss auch gar nicht immer etwas Schlechtes sein. Sie kann das Offene einer Lage anzeigen, ja den Verzicht auf die Kontrolle einer Situation, um Neues zu ermöglichen. Nur muss man mit einer offenen Lage auch etwas anfangen können: Es ist eine Reaktion auf eine bestimmte Verteilung von Ressourcen, die auf der einen Seite eine „unternehmerische“ Lust am Risiko, auf der anderen die besorgte Suche nach Sicherheit hervorbringt. Mit der Frage nach den Ressourcen, den subjektiven und objektiven Möglichkeiten aber verlassen wir den Bereich der bloßen Hoffens auf künftige Veränderung und richten unser Interesse auf unsere Gegenwart. Eine halbwegs präzise Analyse von gesellschaftlichen Situationen und Kräfteverhältnissen kann die Felder der Möglichkeiten umreißen und zur Prüfung verschiedener politischer Vorschläge beitragen. Ohne eine Analyse der Lage sind realistische Antworten auf aktuelle Fragen nicht zu haben. Dabei zeigt sich rasch, wie die Kritik der politischen Ökonomie nicht nur „Aufklärung über den Gegner“ ist, wie Karl Korsch einst schrieb, sondern ebenso Aufklärung über uns selbst: Zur Orientierung im Gelände ist eine Landkarte nur hilfreich, wenn man die eigene Position mit ihr bestimmen kann. Dann kann man sich aufmachen, angrenzende, noch unbekannte Gebiete zu erforschen – oder auch gleich dort mit Veränderungen anfangen, wo man gerade ist.

Wie wenig die Mehrheiten in der einheimischen Linken davon halten, sich mit Veränderungen in diesem Lande und einer Untersuchung der heimischen Verhältnisse aufzuhalten, haben sie Anfang des Jahres vorgeführt. Statt einer Kritik des neuen deutschen Imperialismus leisteten sie sich eine sogenannte „Kommunismusdebatte“, in der konkurrierende Parteiprojekte reformistischer oder revolutionärer Art gegeneinander gestellt wurden.

Keine der verschiedenen Positionen hat dabei auf etwas dunkle Apokalyptik verzichtet. So malte die Ko-Chefin der LINKEN ausgerechnet die unkontrollierbaren Folgen eines Auseinanderbrechens der Eurozone an die Wand, als wäre nicht gerade die deutsche Dominanz in der Eurozone während der Weltwirtschaftskrise nochmals gestärkt worden. Als die Ökonomen die Folgen der japanischen Katastrophen in ihre Prognosen einzubauen versuchen, brachte die Bundesregierung beim EU-Gipfeltreffen Ende März die Verarbeitung der Euro-Schuldenkrise über die Bühne. Euro-Land ist, korrekt als Ganzes betrachtet, noch immer die zweitgrößte Wirtschaftsmacht nach den USA und vor China und Japan. Und nicht so sehr der Kursgewinn des Euro gegenüber dem Dollar, wohl aber die ausgeglichene Leistungsbilanz weist aus, dass das kapitalistische Europa sich in der Krise behauptet hat. Die wichtigste Stütze ist dabei der Krisenerfolg der deutschen Wirtschaft, der sich in den sinkenden Arbeitslosenzahlen, vor allem aber in den Geschäftsabschlüssen deutscher Unternehmen niederschlägt. Schon Ende 2010 hat die Bundesrepublik das Vorkrisenniveau wieder erreicht. Die panischen Reaktionen deutscher Mittelständler auf die eine oder andere Milliarde zur Euro-Rettung zeigen nur, dass diese Leute sich nur auf ihr Geschäft, nicht aber auf den Kapitalismus verstehen. Die Zinsentwicklung der deutschen Staatsanleihen weist aus, wer in Europa die Maßstäbe setzt. Mit dem wieder anziehenden Kreditgeschäft für Unternehmen ist die Zeit des billigen Geldes allerdings langsam vorbei: Da es wieder mehr Anlagealternativen gibt, steigen die Zinsen wieder an. Konsequent hat die EZB Anfang April ihre Leitzinsen leicht heraufgesetzt.

Warnte Frau Lötzsch vor unkontrolliertem Chaos, so Inge Viett vor einer ebenso unkontrollierbaren Ordnung: Sie erwog die Gefahren einer „schleichenden Faschisierung“ und plädierte für klandestine Organisationsformen, wo doch das Problem der Metropolenlinken eher in der Stabilität der parlamentarischer Herrschaftsformen in den Zentren der kapitalistischen Weltordnung besteht. So gerne die Linken im Namen der Bevölkerungsmehrheit sprechen, so ungern lassen sie sich auf demokratische Verfahren festlegen. Auch die Autoren des „kommenden Aufstands“, stalinistischer Sympathien wohl unverdächtig, betonen ihre Verachtung für die Demokratie und werben für ihr Modell einer Diktatur der Aktivisten, in der sich eine linke Boheme von der vermeintlich trägen Masse unabhängig macht.

All diese Fragen taugten aber nicht zum öffentlichen Skandal. Sie interessieren erst, wenn man das Thema ernst nimmt. Zum öffentlichen Skandal wurde eine beeindruckend schlichte Formulierung von Frau Lötzsch, in der sie vom Ausprobieren verschiedener „Wege zum Kommunismus“ sprach: „in der Opposition oder in der Regierung“. Und es wurde auch nicht gefragt, welchen „Kommunismus“ man wohl durch eine Regierungsbeteiligung in einem deutschen Bundesland erreichen könne, sondern die fehlende Distanzierung von den Verbrechen des Kommunismus angeklagt. Dabei ist die Vorstellung einer Vielzahl von möglichen Wegen zum Kommunismus vom Katechismus des Marxismus-Leninismus weit entfernt. Aber in einem sind sich Frau Lötzsch und ihre Kritiker einig: Jeder tut so, als wäre völlig klar, was man unter „Kommunismus“ zu verstehen hat.  

Solche Naivität entsprach in etwa dem Problembewusstsein der Veranstalter von der Tageszeitung „junge Welt“. Diese hatten sich für den Titel ihrer zentralen Konferenzdebatte „Wo bitte geht’s hier zum Kommunismus?“ wohl kaum Steven Spielbergs Groteske aus dem Jahr 1979, sondern ein beeindruckend schlichtes Kinderbuch aus dem Jahr 2007 zum Vorbild genommen: In seinem Büchlein „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ führt Michael Schmidt-Salomon vor, wie einfach es sich manche Atheisten mit der Religionskritik machen. Er lässt darin ein Ferkel und einen Igel, die rundherum glücklich und zufrieden sind, in einer Entdeckungsreise auf wenig nette Vertreter der monotheistischen Weltreligionen treffen. Wie zu erwarten, schneiden bei dieser Begegnung der Rabbiner, der katholische Priester und der Mufti schlecht ab. Am Ende stellt der kleine Igel fest, was dem Ferkel und ihm selbst ohne Gott gefehlt hatte: „Ohne Gott hatten wir keine Angst!“ Tatsächlich fehlte, so wie die Geschichte erfunden ist, dem kleinen Ferkel und dem kleinen Igel aber nicht nur kein Gott, sondern auch sonst so ziemlich überhaupt nichts. Sie hatten auch nie Angst, denn sie leben schon im Paradies, wo sie immer lachen, wenn die Sonne scheint oder der Regen fällt und einen Apfel pflücken gehen, wenn der Magen knurrt. Wenn die wirkliche Welt für alle so eingerichtet wäre, gäbe es sicher weniger Angst und vielleicht auch keine Religion. Nur ist sie so nicht eingerichtet. (Und was es mit der Religion auf sich hat, ist nochmal eine andere Frage.)

Die „junge Welt“ aber fand den Titel fetzig, zielte nur auf eine andere Antwort: Der Kommunismus sollte nicht als überflüssige wie beängstigende Erfindung, sondern als selbstverständliches Ziel jeder anständigen linken Bemühung ausgewiesen werden. Intensive Debatten über den bisherigen Verlauf der Geschichte würden dabei ebenso stören, wie eine inhaltliche Bestimmung des angestrebten Zieles. Es geht um die Inbesitznahme eines Symbols, nicht um eine politische Klärung. Und da die Zeiten einer bevollmächtigten Verleihung des Ehrentitels durch parteistaatliche Instanzen vorbei sind,  „Kommunismus“ aber auch kein eingetragenes Warenzeichen darstellt, kann nun endlos darüber gestritten werden, welches Organisationsprojekt den prominenten Titel zu Recht für sich beanspruchen kann. Mit einer „wirklichen Bewegung, welche den derzeitigen Zustand aufhebt“, hat das alles nur indirekt zu tun: Der öffentliche Lärm verweist auf das Fehlen des Gegenstandes.

Eine tatsächliche Bewegung müsste nicht über den Gebrauch des Titels, sondern über seinen Inhalt streiten. Was ist und wie funktioniert die Selbstbefreiung der arbeitenden Klassen? Und der Streit wäre kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke: Alle lebendigen politischen Bewegungen haben sich durch einen Reichtum von Ideen ausgezeichnet. Denn selbst wenn die Leute sich ein Ziel setzen und einen Weg dahin ausmachen, wenn sie über die nötigen Mittel verfügen und das eigene Verhalten ausreichend beherrschen, um die von ihnen angezielte Lage herbeiführen zu können – selbst dann ist offen, ob das erreichte Ziel tatsächlich ihren Bedürfnissen entspricht. Zuweilen stellt sich erst am Ziel heraus, dass die Handelnden mit dem gewünschten Resultat tatsächlich nicht viel anfangen können, etwa deshalb, weil sie sich selbst ziemlich verkehrt eingeschätzt oder weil sie sich selbst oder ihre Umgebung auf dem Weg zum Ziele gründlich verändert haben.

Volker Braun hatte 1966 mit der Gegenwart „antagonistischer Widersprüche“ das Genügen der „einfachen Wahrheit“ begründen wollen, die „Darstellung aus der Sicht einer Klasse“, die Existenz „einer einzigen Lösung“, die dem Publikum demonstriert wird. Nur für den Sozialismus wollte er eine Ausnahme machen. Das war ein doppelter Irrtum. Denn dem Realsozialismus blieben die „antagonistischen Widersprüche“ nicht erspart. Und auch da, wo sich feindliche soziale Gruppen gegenüber stehen, genügt die einfache Wahrheit nicht. Wer ist die Klasse? Wer bestimmt ihre Sicht? Wer bezahlt für die Lösung? Die Existenz eines Feindes garantiert nicht für die Übereinstimmung der Angefeindeten. Schließlich sind die Möglichkeiten zur Beförderung eines besseren Lebens begrenzt. Was einzusetzen ist, sind Zeit und Kraft jenseits der individuellen Reproduktionsanstrengungen auf Arbeit und zu Haus, erweiterbar nur durch die zusätzliche Kraft solidarischer Kooperation. Doch die Potentiale, welche die Einzelnen mitbringen – die Breite und Systematik ihrer Ausbildung, die Möglichkeit, über die eigene Zeit zu disponieren, Gewöhnung an öffentliches Auftreten – sind systematisch ungleich verteilt. Ihre Verteilung ist Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und ihrer Hierarchien.

Von Marx stammt die knappe Formulierung in der Gründungsadresse der Internationalen-Arbeiter-Assoziation, dass eine Anzahl von Leuten nur ins Gewicht fällt, “wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet”. Nach Jahrzehnten nicht nur kommunistischer Avantgardepolitik ist aber kaum noch verständlich, was unter der dort angesprochenen “Kenntnis” zu verstehen ist. Dabei hatte sich schon der Weise Sun Zi ganz eindeutig geäußert:  “Wenn Du sowohl den Feind als auch dich selbst kennst, kannst Du ohne Gefahr hundert Kämpfe ausfechten. Wenn Du nicht den Feind und nur dich selbst kennst, kannst du siegen oder geschlagen werden. Wenn du sowohl den Feind als auch dich selbst nicht kennst, wirst du in jedem Kampf eine Niederlage erleiden.” Und das heißt: Nicht nur ein Streit über die Einschätzung der objektiven Lage ist vonnöten, da ja keinem Forscher die wirkliche Lage göttlich offenbart wird. Vielmehr ist ohne Selbsterkenntnis, die kein Theoretiker von außen in die Bewegung hinein tragen kann, ein Erfolg in sozialen Konflikten nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich. Diese Selbsterkenntnis wird so verschieden ausfallen müssen, wie die Leute selber unterschiedlich sind. Von ihr werden die Ziele abhängen, die sie verfolgen. Und es werden unterschiedliche Ziele sein, die in verschiedenen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften, Assoziationen und Kommunen verfolgt werden. Nicht alle Ziele werden miteinander vereinbar, manche vielleicht auch recht unvernünftig sein.

Eine vernünftige Kritik der Ziele findet sich aber nur in der Selbsterkenntnis der Leute selber. Nur sie bietet einen rationalen Zugang zur Produktion gemeinsamer Zielsetzungen, die den Bedürfnissen verschiedener Beteiligter Rechnung tragen. “Das politische Problem besteht darin, zu erkennen, wie man die Instrumente beherrschen kann, die man zur Beherrschung der Anarchie individueller Strategien und zur Herstellung einer konzertierten Aktion verwenden muss. Wie kann die Gruppe die von einem Sprecher ausgedrückte Meinung kontrollieren, der in ihrem Namen und zu ihren Gunsten, aber auch an ihrer Stelle spricht?”(Pierre Bourdieu)

Die traditionell reformistische Antwort auf diese Frage bestand in einem Rückzug auf die politische Form: die Demokratie im Verband wie in der Gesellschaft könnte allein garantieren, dass die Interessen der Repräsentierten nicht unter den Tisch fallen. Die traditionell kommunistische Antwort bestand in einem Vorgriff auf den politischen Inhalt: nur die Lösung der Eigentumsfrage garantiere die wirkliche Freiheit und Gleichheit. Die erste Antwort unterschätzt bis heute den großen Aufwand, den es für eine freie Willensbildung zu treiben gilt: Zeit, Freiräume im nicht nur übertragenen Sinne, die Relevanz der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen. Die Bildung gesellschaftlichen Eigentums ist keine Option, die man als Sozialist auch abwählen kann. Die zweite Antwort will vom Problem gar nichts wissen, da ohnehin im „objektiv gegebenen Ziel“ der eigenen politischen Arbeit, im Sozialismus, der Widerspruch aufgehoben worden sein soll. Beide Antworten ignorieren in trauter Übereinstimmung den wesentlichen Bruch, der die solidarische Gestaltung gemeinsamen Handelns erst ermöglicht: Die Leute müssen ihren anerkannten Platz in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verlassen und ihre Verhältnisse gestalten lernen. So, wie es in der Internationale heißt: „Es rettet uns kein höhres Wesen/ Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun./ Und aus dem Elend zu erlösen,/ können wir nur selber tun.“ Auf diesem Weg jedoch müssen wir uns von vielen gewohnten und fest verankerten Überzeugungen verabschieden – weil diese Überzeugungen in Verhältnissen verankert sind, die gerade nicht fortgeführt werden sollen.

Gerade deshalb ist Demokratie für den Kommunismus keine Zutat, sondern der Kern der ganzen Sache. Keine politische Organisation kann immer „recht haben“. Demokratische Formen geben die die Möglichkeit, aus den unvermeidlichen Fehlern gemeinsam zu lernen. Nach den Erfahrungen der letzten hundert Jahren werden wir gut daran tun, von Exkommunikationen der Vertreter „falscher Positionen“ abzusehen. Ein gewisses moralisches Minimum sollte reichen. Die Perspektive einer wirklichen Kritik der politischen Ökonomie ist eine gemeinsame Freiheit für alle und jede/n, an und für sich.

1) Zum polnischen Hintergrund vgl. Solidarnosc als Geschichte, Horch und Guck 2001(3), http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2000-2003/heft-35/03523-gerhardt/
2) www.ostblog.de/2010/09/vom_anschluss_der_ddr_zum_deut.php.
3) http://ferkelbuch.de
4) www.bildungsgemeinschaft-salz.de/bilder/beyond_sg_end. pdf

Sebastian Gerhardt ist Redakteur der Zeitschrift „lunapark21“ und arbeitet im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin.

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