Neuer Mythos Linkssozialismus

Bekommt der Linkssozialismus eine Stellung für die programmatische Diskussion in der Linken zuge- wiesen, die ihm nicht zukommt?

Von Stefan Janson
aus telegraph #122/123

Die zu Unrecht von der bürgerlichen Presse wegen angeblicher „Kommunismusaffinität“ verfolgte Vorsitzende der Partei „Die Linke“, Gesine Lötzsch, sagt, dass sie einer linkssozialistischen Partei vorsitzt. Ihr Vorgänger Bisky attestierte dem Linkssozialismus, die zentrale Bedeutung der Demokratie in die Programmdebatte der Linken zurückzubringen. Aber das wachsende Interesse am Linkssozialismus leitet sich nicht nur aus dem Versuch der Partei „Die Linke“ her, eine erweiterte historische Grundlegung für ihre programmatische Diskussion herbeizuführen, wie Bisky an anderer Stelle ausführt. Christoph Jünke, Herausgeber eines wichtigen Sammelbandes zum Linkssozialismus, sieht die Bedeutsamkeit des Linkssozialismus vor dem Hintergrund „neuer Diskussionen über die Krise des Kapitalismus und die Möglichkeiten eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Damit bekommt der Linkssozialismus eine Stellung für die programmatische Diskussion in der Linken zugewiesen, die, so will ich zeigen, ihm nicht zukommt und die im Gegenteil die Diskussion um wichtige Desiderata linker verschleiern und – wegen der überwiegend traditionell marxistischen Fundierung des Linkssozialismus – so im großen und Ganzen kein vorwärtstreibendes Moment enthält.

I.
Zunächst ist zu konstatieren, dass der Gegenstand für dieses Interesse einer systematischen Analyse und strukturell hinreichenden Definition der als linkssozialistisch apostrophierten Strömungen, Gruppen, Parteien und Individuen, die sich am Rande, zwischen und jenseits der beiden Hauptströmungen der historischen Arbeiterbewegung kaum zugänglich zu sein scheint. Jünke bezeichnet als ihre Gemeinsamkeiten das Festhalten am Programm der Befreiung der Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung, die Verweigerung der Integration in kapitalistische wie auch einer Unterordnung unter eine sozialistische Erziehungsdiktatur sowie ihren Einsatz für die umfassende Selbsttätigkeit der zu emanzipierenden Subjekte. Hier trifft er sich mit dem Ansatz von Gregor Kritidis, der in seinem Systematisierungsversuch die Stichworte „Eigenständiges Handeln“, „Selbstorganisation“, „Außerparlamentarische politische Organisierung“, „Kritische Abgrenzung gegen den Parteikommunismus und Sozialdemokratie“ nennt. Er ergänzt diese Merkmale um die Orientierung auf praktische Kooperation, die Notwendigkeit einer Aktualisierung sozialistischer Theorie und den großen Stellenwert, den Linkssozialisten einer internationalistischen Ausrichtung beimaßen. Ein ganz wesentliches und meiner Ansicht nach strukturbildendes Merkmal dürfte jedoch darin liegen, dass sich alle diese linkssozialistischen Ansätze aus dem marxistischen Ansatz sozialistischer Theoriebildung speisen oder herleiten lassen. Letztlich sind diese Ansätze damit mehr oder minder von der „Arbeiterexklusivtheorie“, also der Annahme, es sei die Lohnarbeiterklasse pars pro toto, die Subjekt der sozialen Emanzipation sei. Und ihm liegen – trotz des berühmten „Sozialismus oder Barbarei!“ Annahmen über deren welthistorische Rolle in einer teleologischen Geschichtssicht zu Grunde. Und zu Guter letzt: es wird kaum zu bestreiten sein, dass die übergroße Mehrzahl der Linkssozialisten die Rolle des Staates für die soziale Emanzipation mehr oder minder positiv einschätzt, ebenso wie eine Kritik der technologischen Entwicklung als einer der technischen Gewalt über die Subjekte auch bei ihnen nicht im Fokus steht.

II.
Im Großen und Ganzen führen linkssozialistische Ansätze theoretisch nicht weiter, wo sie als „bloßer und vorübergehender Ersatz für diese Bewegung (zur Umwandlung der Gesellschaft – d.Verf.) in den Zwischenzeiten ihrer Erstarrung,“ wirken, als „unentbehrlicher Gärstoff…, der die Gesellschaft vor der Todesstarre bewahrt.“. Diese Phase ist mit 1968 abgeschlossen. Die Organisationen der westeuropäischen Facharbeiterschaft haben sich in ihrer übergroßen Majorität als Verteidiger des Status Quo erwiesen, bedrängt von den Neuen Sozialen Bewegungen auch gelegentlich als vorsichtig reformerische Modernisierungsagenturen, in der Regel aber später als Agenturen neoliberaler Konterrevolution prozessiert. Viele Frontstellungen und Abgrenzungen des Linkssozialismus in dem eingangs dargestellten Sinne sind durch die Auflösung der alten sozialdemokratischen und parteikommunistischen Milieus und der neoliberalen Wende ihrer Organisationen obsolet: der Wohlfahrtsstaat der fordistischen Periode befindet sich in Auflösung, der Staatskapitalismus im Osten hat sich zum Realkapitalismus gewandelt. Seine parteikommunistischen Agenturen außerhalb sind im Großen und Ganzen nicht mehr von Belang, jedenfalls nicht für die Sache menschlicher Emanzipation, wenn sie es denn je waren. Die entscheidende Frage ist nunmehr: müssen wir nicht ernsthafte Konsequenzen daraus ziehen, dass sich die Organisationen der Arbeiter in solche Agenturen verwandelt, warum sie weltgeschichtlich eben nicht die Rolle gespielt haben, die ihnen von marxistischen Theoretikern in immer neuen, auch linkssozialistischen Varianten und unter immer neuer Interpretation, Zusatzannahmen und der Ausschöpfung auch der entlegendsten Zitate aus den Werken der Klassiker zugewiesen haben – und immer wieder vergeblich? Welchen Beitrag leistet dazu das linkssozialistische Feld? Fragt es danach, aus 200 Jahren Arbeiterbewegung danach zu fragen, ob es vielleicht eben nicht die Existenz als weisungsabhängiger Lohnarbeiter in einer technischen Maschine ist, die einen Menschen zum Rebellen oder revolutionär macht: Lohnarbeit konstituiert Kapital, aber nicht Systemtranszendenz? Und wäre nicht zu fragen, ob mit der klassischen Arbeiterbewegung auch ihre Organisations- und Aktionsformen grundsätzlich zu hinterfragen wären? Die traditionelle Trias „Partei-Gewerkschaft-Staat“ wäre doch knapp 150 Jahre nach Einzug der ersten Abgeordneten in die Parlamente daraufhin zu befragen, ob damit eine demokratische und selbstorganisierte Gesellschaft zu erreichen wäre? Und in welchen Bewegungsformen kann eine solche Gesellschaft erreicht werden – gilt immer noch das marxistische Diktum vom Generalstreik als „Generalunsinn“, dem selbst Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ über Seiten Entschuldigendes voranstellen musste – bevor sie nachweisen konnte, dass die sozialdemokratischen Organisationen sich 1903-1906 keineswegs Vorhut der russischen und polnischen Arbeiterschaft. Im Übrigen fielen auch dieser Linkssozialistin damals die Arbeiterräte als neue Organisationsform und alternative gesellschaftliche Koordinationszentren nicht weiter auf. Das bedeutet nicht, dass ich Generalsstreik für ein Allheilmittel halte – ich denke aber, dass es mehr als bisher darum gehen muss, emanzipatorische programmatische Ansprüche mit emanzipatorischen Praxisformen zur Kongruenz zu bringen. Ansätze in dieser Richtung finde ich lediglich beim Linkssozialisten Erich Gerlach, der sie aber Theorie und Praxis des britischen Gildensozialismus und des spanischen Anarchosyndikalismus entlehnt.

III.
Als bleibende linksozialistische Bestandteile eines sich neu orientierenden Feldes emanzipatorischer Theoriebildung bleiben damit aktuell meines Erachtens:

Das Phänomen des bürokratischen Kapitalismus: “Die Bürokratie galt…als die alles durchdringende Sozialform des modernen Kapitalismus…Die neue wesentliche Konfliktlinie des bürokratischen Kapitalismus sei die Trennung und der Gegensatz zwischen Leitenden und Ausführenden.“
Der Zusammenhang zwischen autoritärem und Sozialstaat:“…Agnoli (begann), den autoritären Notstandsstaat der Großen Koalition und die Strukturmerkmale des fordistischen Wohlfahrtsstaates zusammen zu denken…Das bedeutet aber schließlich, dass der Notstandsstaat den Verfassungsstaat keineswegs zerstört, sondern nur seine Transformation krönt.“ (Heigl)
Die unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der realen Arbeiter(emanzipations)bewegung. „Denn nirgends in der Welt haben im Marxschen Sinne die Arbeiterbewegung die Abschaffung des entfalteten Kapitalismus und die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung auf die Tagesordnung ihrer Politik gesetzt und einen authentischen Sozialismus angestrebt mit zwei kurzlebigen Ausnahmen: Im Spanischen Bürgerkrieg 1936/1937 und der Deutschen Revolution von 1918/1919.“ (Buckmiller)
Das Insistieren auf Selbstorganisation und Selbsttätigkeit der Arbeitenden, das Ablehnen von Stellvertreterpolitik und Elitenkonzeptionen: dass „das Vorwärtstreiben in die Selbsttätigkeit der abhängig gehaltenen Massen die einzige Chance in sich birgt, der Barbarei auf demokratischen Wege zu entgehen.“(Buckmiller)

IV.
Als Passepartout zu den aktuellen Problemen und Desiderata emanzipatorischer Theorie taugt der Linkssozialismus damit aber eben nicht. Mit dem Ende der Arbeiterbewegung im fordistischen Wohlfahrtsstaat sind zugleich eine Reihe von Anfragen und Problemstellungen entstanden, die mit diesem Instrumentarium nicht hinreichend erfasst werden können. Darunter fasse ich Fragen nach dem Erhalt der natürlichen Umwelt, nach der Emanzipation der Frauen, den neuen Formen des Wissens und der Wissensvermittlung, der Globalisierung des Elends, einer adäquaten Analyse der sozialen Kämpfe außerhalb der Metropolen. Dabei ist zuzugestehen, dass der Linkssozialismus das Verdienst hat, sich bei der Unterstützung der antikolonialen Bewegungen (beispielsweise Algerien) vom Eurozentrismus oder der dreist machtzentrierten Diffamierung des Kampfes in Vietnam und Algerien durch die KPF bzw. auch SPD abgegrenzt zu haben.

Und zu guter letzt: Die „neuartigen Integrationsprozesse spätbürgerlicher (?? – d.Verf.) Klassengesellschaft „, die zu nichts weniger als „einem seit den fünfziger Jahren veränderten Verhältnis von Konsens und Zwang in der spätbürgerlichen Gesellschaftsform“ geführt haben und führen, dürften mit dem Instrumentarium von Bourdieu, Castoriadis, Foucault und Debord besser, weil adäquater zu analysieren sein als mit den linkssozialistischen Ansätzen der 50er und 60er Jahre. An die zentrale Frage, welche Selbstblockierungen die beherrschten Klassen zu überwinden haben, um zu einer fundamental demokratischen, selbstregierten Gesellschaft durchstoßen zu können, müssen wir heute wohl anders herangehen. Wahrscheinlich müssen wir „ganz neu anfangen“ – indem wir zum Beispiel anfangen, eine der Zürcher Thesen von Karl Korsch aus dem Jahre 1950 (!!) Ernst zu nehmen. Darin forderte er, Marx heute nur als einen unter vielen Vorläufern, Begründern und Weiterentwicklern der sozialistischen Bewegung zu sehen und das utopische, nicht-marxistische und libertäre Erbe des sozialistischen Denkens für wichtig zu nehmen.

V.
Soweit sich das Interesse am Linkssozialismus auf den Versuch der Parteiführung einer linkssozialdemokratischen Partei zurückführen lässt, neben sehr einfachen, bestenfalls reformistischen Ansätzen ostdeutscher Berufspolitiker und der Kumpanei von ex-stalinistischen und ex-trotzkistischen Leninisten in einer „Antikapitalistischen Linken“ ein theoretisches Gegengewicht, ein Parteizentrum auch theoretisch aufzubauen, mag dies legitim sein. Schließlich ist die Not einer autochthonen programmatischen Orientierung in der Partei „Die Linke“ groß. Mein Eindruck ist: soweit die politisch programmatischen Ansätze mehrheitsfähig sind, sind sie steril, soweit sie nicht steril sind – wie die der „Emanzipatorischen Linken“ – sind sie in der Partei minoritär. Aber dieses taktische Kalkül sollte nicht über die materiellen Schwächen dieses Ansatzes hinwegtäuschen. Und es ist wohl auch nicht zu viel gefragt, ob die Fragestellungen des Linkssozialismus in der Partei eine wirkliche Heimat finden können. Diese Formationen ist viel zu sehr an der Retrospektive einer fehlgeschlagenen Emanzipationsbewegung orientiert, als dass sie wirklich einen Boden für die bleibenden linkssozialistische Fragestellungen abgeben könnten. Insoweit bleibt das ernüchternde Resultat: der Linkssozialismus ist nur insoweit „zukunftsfähig“, soweit er sich aus den traditionellen marxistisch-sozialistischen Traditionen herausbewegt, soweit er das tut, ist er für die Partei „Die Linke“ programmatisch wirklich nicht zu gebrauchen.

1) Bisky, Wir haben die Entdeckungen noch vor uns; Standpunkte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Nr. 06/2010, S. 3. Im folgenden beziehe ich mich auf folgende Publikationen: Christoph Jünke (Hrsg.), Linkssozialismus in Deutschland, Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus; VSA-Verlag Hamburg 2010; 261 Seiten (Abk.: LS); Klaus Kinner (Hrsg.), DIE LINKE – Erbe und Tradition, Teil 2: Wurzeln des Linkssozialimus; in der Reihe „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“, Band XII; Karl Dietz Verlag Berlin 2010; 320 Seiten (Abk.: EuT)
2) Lothar Bisky, Vorwort zu EuT, S. 15
3) Christoph Jünke, Begriffliches, Historisches und Aktuelles zur Einleitung, LS S. 7
4) Gregor Kritidis, Zu den Charakteristika des „Linkssozialis- mus“ in der Ära Adenauer, EuT, S. 97-112
5) ChristophJünke,TheorieinpraktischerAbsicht:LeoKoflers Linkssozialismus, EuT, S. 223, 236
6) Gabler, Fn. 2, S. 140
7) Richard Heigl, Das Unbehagen am Staat: Staatskritik bei Abendroth und Agnoli; LS, S. 171, 174
8) Michael Buckmiller; Peter von Oertzen – Marxist und demokratischer Rätesozialist; EuT, S. 241, 252f.
9) Ha.a.O., S. 269
10) Christoph Jünke; Ha.a.O., S. 232 f
11) Karl Korsch, Zehn Thesen über Marxismus heute, in: Poli- tische Texte, Wiener Neustadt o. J. (Raubdruck); S. 385ff.

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