π – eine unberechenbare Konstante

Bericht aus dem Innenleben des ersten Freien Radios in Berlin

Von Jenz Steiner
aus telegraph #122/123

Die Formel-1-Mechaniker beim Boxenstopp können sich von meinem Techniker Paul noch ein Scheibchen abschneiden. Wenn ich dienstags in die Berliner Lottumstraße komme, muss es immer ganz schnell gehen. Innerhalb einer Minute baut Paul das schummrige Kellerstudio so um, wie ich es gerade brauche. Die Moderatoren der vorherigen Sendung klopfen mir noch auf die Schulter. Das Piradio-Jingle läuft schon. Mein Lampenfieber steigt mit jedem Ruck des Sekundenzeigers der Uhr auf dem Monitor. 22:29:40 Uhr.

Meine Handflächen sind nass. Noch 20 Sekunden, 19, 18. Ich kämpfe mich zwischen Klappstühlen und Kabelkisten zu meinem Moderatorenpult durch, setze mir die silbernen Kopfhörer mit der Nummer „2“ auf, atme nochmal tief aus, ziehe mir das Mikro „2“ mit dem gelben Schaumgummi-Poppschutz vor den Mund und gehe auf Sendung. „Funkhaus Prenzlauer Berg […] mit Ureinwohner Jenz Steiner […] auf Piradio […] 88,4 Megahertz in Berlin und Brandenburg“.

Regler runter. Jetzt bloß keine falschen Knöpfe drücken. Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn die Studiogäste zu spät oder zu betrunken ins Studio kommen. Ein voller Totenkopf-Aschenbecher und ein Plüschteddy ersetzen das unsichtbare Publikum. Die Einschaltquoten kenne ich nicht.

Rein technisch erreicht die Frequenz 88,4 MHz bis zu 2,5 Millionen Hörerinnen und Hörern. Das heißt nicht, dass die auch alle zuhören.

Könnten sie aber. Einige tun es auch und schreiben mir nach der Sendung mal ausführliche, mal knappe e-Mails oder melden sich per SMS. Mein Kumpel Sebastian ist vor einigen Jahren nach Wien gezogen und hört immer per Internet-Livestream oder später per Podcast zu. Postkarten und Briefe, wie sie damals Radio-Legende Hans Rosenthal beim RIAS-Sonntagsrätsel in Massen erreichten, habe ich noch nie bekommen. Schade! Geld gibt es auch keins und das ist auch gut so, denn Piradio ist ein nichtkommerzielles Freies Radio für Berlin.

Dabei steckt schon in der Vorbereitung einer 90minütigen Sendung sehr viel Zeit. Ich habe einen gewissen Anspruch an meine Sendung. Ich will die bunten Hunde der Stadt vors Mikrofon holen. Ich möchte denen eine Stimme geben, die viel bewegen und auf die Beine stellen, aber sonst nur selten oder nie Gehör finden – Musiker, Schauspieler, Fotografen und Kleinkünstler. Schließlich sind sie es, die Berlin zu Berlin machen. Ich spiele nur unveröffentlichte Musik aus Berlin, die auch noch cool ist und aus der Rolle fällt. Das nimmt im Vorfeld immer fünf bis sechs Stunden in Anspruch.

Für die Nachbereitung, also die Playlists erstellen, die Podcast-Version und Trailer auf meinen Blogs hochladen, auswerten der Sendung und der Interviews, brauche ich nochmal drei Stunden. Doch das Rumgewusel zwischen CD-Stapeln und Zettelwirtschaft macht mir Spaß.

Für mich ist ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen. Pi-Radio nahm Pfingsten 2010 als Freies Kulturradio für Berlin den Sendebetrieb auf der UKW-Frequenz 88,4 MHz auf. Ein dauerhaftes freies Community Radio – was in anderen Bundesländern längst Normalität ist, war in den letzten 20 Jahren eher eine Utopie, weltfremde Träumerei. Und das trotz der vielen temporären Radioprojekte wie Funkwelle, Herbstradio oder das Radio zur HipHop-Sommerschule in der Volksbühne 2001. Fast vergessen und längst verhallt waren die Klänge des linksalternativen Senders Radio 100, die holprige Dachboden-Atmosphäre des Prenzlauer Berger Piratensenders Radio P aus den frühen Neunzigern.

Ganz so frei ist Piradio doch nicht. Mit über fünfzig eigenständigen Redaktionen hätte der Sender zwar das Zeug dazu, ein ganztägiges Vollprogramm zu fahren, doch die UKW-Frequenz muss sich Piradio mit anderen Radioprojekten teilen – ein schlechter Kompromiss, der dazu führt, dass die einzelnen Redaktionen nur alle vier bis acht Wochen auf Sendung gehen können.

Die Medienanstalt Berlin Brandenburg (mabb), Betreiberin des Offenen Kanals, übernimmt die Aufteilung der Sendefenster. Sie bestimmt das Profil der Frequenz und drückt ihren eigenen Stempel in Form von Jingles auf.

„Sie hören 88vier – kreatives Radio für Berlin“ sagt eine glatte Profisprecherinnen-Stimme aus der Konserve bei jedem Senderwechsel im Schaltprogramm. Da vergeht mir immer schon die Kreativität.

Die mabb bestimmt, welche Radioinitiative wann senden darf. Zurzeit sind das neben Piradio noch ALEX Radio vom Offenen Kanal, das Kulturradio reboot.fm, die Klubradios BLN.FM und TwenFM, multicult.fm – ein unabhängiges Nachfolgeprojekt des 2009 eingestampften rbb-Minderheitenprogramms Radio Multikulti, das Blindenradio Ohrfunk und Infothek 88vier, das Ausbildungsradio des Vereins Medien Konkret.

Technisch funktioniert das so: Alle Radios haben ihr eigenes, meist recht provisorisches Studio. Twen FM sendet aus dem Wohnzimmer seines Gründers Sascha Benedetti. Die Infothek 88vier produziert ihr Programm im Vereinssitz des Medien Konkret e.V. im Tempelhofer Haus der Buchdrucker.

Piradio sendet aus einem Kellerladen in Prenzlauer Berg. Der ist eher mit dem Charme der Wohnungseinrichtung der Charlotte von Mahlsdorf behaftet hat als mit dem High-Tech-Flair eines BBC-Hörfunkstudios im Bush-House London.

Die einzelnen Radioprojekte produzieren ihr Programm im vorgesehenen Zeitfenster live oder im voraus. Das schicken sie live über eine IP-Verbindung auf einen Server der mabb im Mediaport Berlin in der Voltastraße, seit 1985 Sitz des der Offenen Kanals Berlin. Aus dem OKB-Technikraum wird das Hörfunksignal via Datenverbindung an eine private Firma für Sendetechnik in Berlin Friedrichshain weitergeleitet. Die schickt das Signal zu den eigentlichen Sendemasten auf dem Postbankgebäude in der Kreuzberger Skalitzer Straße und auf den Schäferberg am Berliner Wannsee. Neben der 88,4 MHz wird von dort aus Potsdam und der Südwesten Berlins über die Frequenz 90,7 MHz abgedeckt.

Alles schön und gut, doch die Zukunft der einzelnen Projekte und der Frequenznutzung steht trotzdem noch in den Sternen. Die „88vier“ in der jetzigen Form ist vorerst auf ein Jahr befristet. Die Ausschreibungsfrist für die nächste Runde endete am 02. März 2011. Bis 28. April werden die Karten neu gemischt. Dann tagt die Landesmedienanstalt erneut und entscheidet, welche Anbieter in Zukunft mit dabei sind. Piradio hat sich wieder beworben.

Der Bewerbung lag ein offener Brief bei, in dem die Radiomacherinnen und Macher drei Vorschläge für die Zukunft eines Berliner Community Radios unterbreiten.

Der erste Vorschlag betrifft die auf die unattraktive Kabelfrequenz abgeschobenen Radiomacherinnen und Macher beim Offenen Kanal Berlin: „Die Programmzeiten von ALEX werden ausgeweitet, damit alle Gruppen, die momentan ALEX-Programm produzieren, dort Platz finden.“ Der zweite Vorschlag: Die Frequenz 99,1 MHz wird als auf ein Jahr angelegtes Pilotprojekt zur selbstverwalteten Communinty-Radio-Frequenz.

Der dritte Vorschlag betrifft Senderprojete, die kostbare Sendezeit nur mit endlosen DJ-Sets oder Playlists füllen: Die Auswahlkriterien für die einzelnen Radioprojekte sollen offengelegt werden. Live-Sendungen, Wort-Magazine und Eigenproduktionen sollen bei der Auswahl stärker berücksichtigt werden. Das sind eindeutig die Stärken von Piradio und die Schwachpunkte einiger Anbieter, die die Sendezeit oft mit dem Runterleiern von Playlists und Wiederholungen füllen.

Piradio selbst bietet nicht immer nur leichte Kost für herkömmliche Radio-Ohren. Das Pi im Namen ist Programm – die unberechenbare Konstante.

Piradio hören ist manchmal anstrengend und komisch zugleich.Ich höre es aber gerne. Schließlich kann man so an den Türen in der Stadt lauschen, die einem sonst verschlossen bleiben.

Wer sich auf die Piradio-Macherinnen und Macher einlässt, lernt Berlin neu kennen. Der „verkackteste und scheißeste DJ der Welt Nordpolzigeuner“, ein Russe mit Palituch, Basecap und dunklem Sechstagebart, redet und redet in seiner Sendung „Kaputtes Feuerzeug“ mit überdehnt leiernder Stimme und rollendem „r“ geschlagene 20 Minuten über seine UdSSR-Melodia-Lizenz-Schallplattenpressungen, ehe er sie dann auch spielt.

In der „Bipolantenne“, der Sendung des „Klubs der polnischen Versager“, werden Mielke-Zitate wie „Ich liebe doch alle Menschen“ mal kurz Rilke untergejubelt.

In der Sendung „Lauschrausch“ begleitete ich neulich am Lautsprecher drei junge Leute in einem gemieteten Robben & Wientjes-Pritschenwagen beim Umzug von Berlin nach Koblenz. Ich konnte ihnen beim Autokennzeichen-Spiel zuhören. Das war lustig. Surfpoet Ahne lädt seine Hörerschaft in seiner Show „Diskofiewa – Tanzmusik zum Träumen“ dazu ein, Salzstangen und Gewürzgurken auf den Tisch zu stellen, um den Hörgenuss zu steigern. Zwei bis dreimal pro Woche kommen Musiker ins Studio zur „Berliner Runde“ und spielen live im Radio. Sowas kannte ich bisher nur von hörerfinanzierten Community Radios in den USA, wie etwa WFMU in New Jersey oder die New Yorker Station WBAI.

Piradio ist seit 30. Oktober 2010 Mitglied im Bundesverband Freier Radios (BFR). Ich habe letztens meinen Techniker Paul, der auch Koordinator und Sprecher von Piradio ist, gefragt, warum all die anderen Radioinitiativen, die auf der „88vier“ senden, bislang nicht versucht haben, Teil des Bundesverbandes zu werden. Seine Antwort war kurz und deutlich.

„Zugangsoffenheit ist für die Anderen weder relevant noch wichtig“, meinte er. „Freie Radios sind basisdemokratisch und offen. Da kann jeder mitmachen.“ Bei anderen Radioprojekten ist das nicht unbedingt der Fall.

Ich bin ganz glücklich darüber, dass nun das Engagement der Berliner Radio-Aktivistinnen und Aktivisten der letzten drei Jahrzehnte mit Piradio langsam Wurzeln schlägt. Radio ist kein totes, sondern ein sehr lebendiges und authentisches Medium, wenn man es dementsprechend nutzen kann. Freies Radio schafft Nähe, bringt Menschen zusammen und bietet Platz für Experimentelles.

Freies Radio, das wird immer wieder betont, schafft eine Gegenöffentlichkeit. Das klingt in meinen Ohren so aggressiv. Es muss nicht immer investigativer Bürgerjournalismus sein. Von Freien Radios in Deutschland wird ganz sicher keine Revolution ausgehen. Dennoch kann man im Kleinen viel in Bewegung setzen, wenn der Zugriff auf so alte elektronische Medien so leicht und selbstverständlich ist wie das Aufschrauben eines Wasserhahns. Ich werde auch weiterhin meinen kleinen Beitrag dazu leisten und hoffentlich noch lange dienstags meine Kopfhörer zurecht rücken, wenn es wieder heißt: „Funkhaus Prenzlauer Berg – auf Piradio, auf 88,4 Megahertz in Berlin und Brandenburg.“

www.piradio.de

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