Israel: Die Protestbewegung artikuliert noch nicht genügend, was in ihr an Potential steckt

Ein Interview mit Prof. Moshe Zuckermann (Tel-Aviv) zu den sozialen Protesten in Israel

aus telegraph #124


Nach den jüngsten Protesten in der arabischen Welt, gingen im Sommer 2011 auch in Israel sehr viele junge Menschen auf die Straße, um gegen die neoliberale Politik ihrer Regierung zu protestieren. Herr Zuckermann, wie haben Sie die Protestbewegung in ihrer Heimat Israel erlebt?

Sosehr ich mich über die schiere Tatsache der Protestbewegung gefreut habe und freue, war mir auch von Anbeginn klar, daß es sich um eine Empörung des Mittelstands handelt, nicht um die der verarmten unteren Schichten der israelischen Gesellschaft. Das ist auch der Grund, warum man zwar die Auswüchse der neoliberalen Politik der Regierung bekämpft, da man sich in der Erfüllung der eigenen mittelständischen Ansprüche gehindert sieht, nicht aber den Kapitalismus, in dessen immanenten Logik ja die Gründe der Misere liegen, hinterfragt und reflektiert. Es handelt sich, so besehen, um eine Protestbewegung, die sich von selbst ihre Schranken auferlegt und die Fesseln angelegt hat.


Können Sie uns etwas über die Beweggründe, die Zusammensetzung und die Ziele der Protestbewegung sagen?

Die Bewegung ist sehr heterogen zusammengesetzt. Will man aber einen gemeinsamen Nenner der verschiedenen zentralen Gruppen anzeigen, so handelt es sich, wie gesagt, um den Protest des israelischen Mittelstands. Dieser verdient zwar nicht schlecht, sieht sich aber zunehmend außerstande, den Standard der Lebenshaltungskosten, was Lebensmittel, Kinderbetreuung, Erziehung, Gesundheit etc. anbelangt, zu wahren. D.h., die Ansprüche des hohen Lebensstandards können nicht nur nicht mehr erfüllt werden, sondern in manchen Bereichen sieht man sich des Minimums dieses Lebensstandards beraubt. Dies sticht umso mehr ins Auge, als die israelische Wirtschaft in den letzten Jahren auf der Makroebene blüht. Was also die verschiedenen Gruppen – Studenten, freie Berufe, Eltern, Ärzte und viele mehr, die hervorgetreten sind – wollen, ist eine reformerische Umverteilung des Bestehenden, Erweiterung des Staatsbudgets und die Setzung neuer „nationaler“ Prioritäten.

In Interviews mit Aktivisten konnte man lesen, daß unter den Protestierenden eine großartige Stimmung war. Es war davon die Rede, daß die Protestierenden „eine neue Sprache gefunden“ hätten, die „kein links und rechts, Ost und West oder Jude und Araber“ kenne. Es ginge nur noch um „den Menschen und seine Bedürfnisse zum Leben“. Hat bei den sozialen Protesten auch ein oben und unten, oder sagen wir mal so etwas wie die Frage nach Klassenunterschieden eine Rolle gespielt?

Das ist ja das Problem: Wenn man „alle“ proklamierterweise egalisiert, hat man ja noch keine objektive Gleichheit hergestellt. Die „neue Sprache“ kann sich da sehr leicht als Ideologie erweisen, denn es wird ja etwas verkündet, das keinen Realitätsbezug aufweist. Die romantische Verbrüderung im Protest schafft noch nicht die eklatanten Klassendiskrepanzen der israelischen Gesellschaft ab. Es ist auch illusorisch anzunehmen, daß die Klüfte zwischen Juden und Arabern in Israel nunmehr überbrückt würden. Die „Bedürfnisse des Lebens“ nach Maßgabe des Mittelstandes sind ein Abstraktum. Daher ist auch die Aufhebung von „links und rechts“ eher ein Wunschdenken derer, die sich aus Klasseninteresse immer schon ins Abstrakte, ins Allgemeine zu flüchten wußten, als die Schaffung einer Realität wirklicher Gleichheit.

Würden Sie soweit gehen und von einer Legitimationskrise oder einer Krise der Repräsentation auch in Israel sprechen, einem Land mit dem sich, schon aus historischen Gründen, die meisten der dort lebenden Menschen zurecht stark identifizieren?

Nein, es gibt keine Legitimationskrise, auch keine Krise der Repräsentation. Hier hat keine Revolution stattgefunden, auch keine wirkliche Rebellion gegen bestehende Strukturen. Man will ja nicht das System, das die Krise hervorgebracht hat, umkippen, sondern sich lediglich im legitimen System unter Beibehaltung der traditionellen parlamentarischen Repräsentation so arrangieren, daß durch Neuverteilung besagte Ansprüche und Interessen erfüllt werden, ohne sich aber klarzumachen, daß das bestehende System, welches man, wie gesagt, nicht verändern will, in immer neue Krisen geraten muß.

Am 26. Juli 2011 sympathisierten 87 Prozent der Bevölkerung mit der Protestbewegung, zwei Jahre vorher gewann die Rechte (Kadima, Likud, Jisra’el Beitenu, Schas) mehr als 63 Prozent. Ist das kein Widerspruch? Was ist in den vergangenen zwei Jahren passiert?

Nein, das ist keinesfalls ein Widerspruch. Die Protestbewegung hütet sich ja davor, das Problem der Besatzung und des Siedlungswerks anzurühren. Damit können die rechten Parteien, die sich wie Schas sozial geben, oder wie Israel Beitenu sektoral gerieren, gut leben. Aber selbst im Hinblick aufs Soziale ist vermutlich Hauptgewinner aus der Protestbewegung die bereits totgeglaubte Arbeitspartei, welche zwar eine Neubelebung der Sozialdemokratie propagiert, ihren Wählerzuwachs aber von Kadima abschöpft, nicht etwa von der Likud-Partei oder von Israel Beitenu. Die nächsten Wahlen werden voraussichtlich wieder Netanjahu und Lieberman gewinnen.

Was glauben Sie, werden die Proteste Auswirkungen auf die Politik haben? Was sind Ihre Prognosen über die weitere Entwicklung der Protestbewegung?

Das kann man nicht genau sagen. Es wird, wie gesagt, eine Erstarkung der Arbeitspartei geben, vielleicht diesen oder jenen Ruck innerhalb der etablierten Parteien, aber keine gravierende Veränderung. Vor allem aber kann es diese Veränderung nicht geben, solange die soziale Protestbewegung den Konnex zwischen ihrem Anliegen und dem Okkupationsregime außer acht läßt. Eine Gesellschaft, welche die jahrzehntelange Besatzung eines anderen Kollektivs hinnimmt, kann gar nicht „soziale Gerechtigkeit“ beanspruchen, zumal die Besatzung nicht nur ein völkerrechtliches und moralisches Problem darstellt, sondern auch ein gravierend ökonomisches. Ich hoffe allerdings, daß man sich dessen noch besinnt – die Protestbewegung artikuliert noch nicht voll, was in ihr an Potential steckt.

Das Interview führte Andreas Schreier

Moshe Zuckermann, 1949 in Tel Aviv geboren, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv.

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