Ein halbes Jahr ist mittlerweile vergangen, seitdem am 14. November 2011 auf eine dürre dpa- Meldung über einen missglückten Banküberfall und zwei tote mutmaßliche Bankräuber täglich neue Enthüllungen eines tödlichen Versagens von Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten folgten.
Von Heike Kleffner
aus telegraph 124
Mittlerweile gilt zumindest ein Teil der Fakten als gesichert: Im Jahr 1998 entzogen sich in Jena drei polizei- und gerichtsbekannte Neonazis – Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe – der Strafverfolgung für ein Sprengstoffdelikt durch Flucht. Die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste aus Sachsen, Brandenburg, Thüringen und das Bundesamt für Verfassungsschutz können ihre Aufenthaltsorte allerdings bis zum Jahr 2000 ziemlich genau nachvollziehen: Schließlich bewegen sich mindestens drei V-Leute des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz – die langjährigen Neonaziaktivisten aus dem Kontext von Thüringer Heimatschutz, Blood&Honour und NPD Thomas Dienel, Tino Brandt und Mike B., der brandenburgische Neonazi Carsten Szczepanski als V-Mann „Piato“ für das brandenburgische Landeskriminalamt und der sächsische Neonazimusikproduzent und Blood&Honour Aktivist Mirko Hesse für das Bundesamt für Verfassungsschutz – im unmittelbaren Umfeld des UnterstützerInnen-Netzwerks für das Neonazi-Trio.
(Also genau genommen sind es fünf V-Leute aus vier Diensten unmittelbar an den dreien: Tino Brandt und eine weitere Quelle des LfV Thüringen, ein V-Mann des MAD – Jürgen H. – einer des BfV und ein V-Mann einer weiteren Bundesbehörde, also wahrscheinlich des BKA)
Nach allem, was bisher öffentlich bekannt geworden ist, beginnt die Bankraubserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) – dem die Sicherheitsbehörden mittlerweile elf UnterstützerInnen zuordnen, von denen sich sechs in Untersuchungshaft befi nden – 1999 in Chemnitz zu einem Zeitpunkt, als Fahnder mehrfach die Möglichkeit zur Festnahme gehabt hätten. Just in dem Moment allerdings, als der Blumenhändler Enver Simsek am 9. September 2000 an einem seiner Blumenstände bei Nürnberg niedergeschossen wurde, scheinen die Behörden und Geheimdienste entweder aus grober Schlamperei, Fehleinschätzung und Ignoranz dem Netzwerk des NSU durch Wegsehen und Verharmlosung den Weg frei zu machen für eine mindestens sieben Jahre währende Mordserie. Enver Simsek, der 38-jährige Vater zweier Kinder, starb am 11. September 2000 an seinen schweren Schussverletzungen. „Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht,“ sagte Semiya Simsek in die Stille hinein, mit über tausend geladenen Gästen aus Politik und Zivilgesellschaft, die ihrer Rede im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt anlässlich des Staatsaktes zum Gedenken an die zehn Opfer des NSU im Februar 2012 folgten. Inzwischen ist bekannt, dass alle Familien der NSU-Opfer durch die rassistische Stereotypisierung der Ermittler über ein Jahrzehnt mit dem schrecklichen Verdacht verfolgt wurden, die Mörder seien entweder im familiären Umfeld oder aber „bei der Drogen-, Döner- oder Wett-Mafia“ zu suchen. Die Ermittler setzten die trauernden Angehörigen massiv unter Druck, einigen der Witwen wurde u.a. eine von der so genannten Sonderkommission Bosporus frei erfundene vermeintliche „Geliebte“ als mögliches Mordmotiv untergeschoben.
Die Folge: Die Familien der NSU-Opfer vereinsamten unter dem Stigma vermeintlicher krimineller Kontakte zunehmend, Kinder und junge Erwachsene waren nicht mehr in der Lage, ihre schulischen und universitären Ausbildung zu beenden, einige der erwachsenen Familienangehörigen erkrankten psychisch. Hinzu kam in vielen Fällen die materielle Existenznot nach dem Verlust des Familienernährers. In Köln, wo der NSU zwei Bombenattentate verübte – am 19. Januar 2001 in dem Geschäft eines iranisch-deutschen Ehepaares, dessen damals 19-jährige Tochter schwer verletzt wurde und am 9. Juni 2004 in der Keupstraße, als eine NSU-Nagelbombe zweiundzwanzig Menschen verletzte – wurden gar die BewohnerInnen eines ganzen, überwiegend von MigrantInnen bewohnten Straßenzuges unter den Generalverdacht „krimineller Machenschaften“ gestellt.
Geleitet von rassistischen Stereotypen und begleitet von den vollständigen Fehleinschätzungen der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste über die Neonaziszene der 1990er Jahre, verfolgen die Fahnder der so genannten Sonderkommission Bosporus zehn Jahre lang das engste Umfeld der betroffenen Angehörigen. Und das auch noch, nachdem eine Reihe von Angehörigen von NSU-Ermordeten anlässlich des bislang letzten bekannten rassistischen Mordes an Halit Yozgat, dem 21-jährigen Betreiber eines Internetcafés in der Kasseler Nordstadt am 6. April 2006 mit mehreren tausend MigrantInnen unter dem Motto „Kein zehntes Opfer“ im Mai 2007 in Kassel auf die Straße gingen. Zum zehnten Opfer wird dann die thüringische Polizistin Michele Kiesewetter, die am 25. April 2007 in Heilbronn vom NSU in ihrem Streifenwagen erschossen wurde. Auch hier nehmen die Fahnder wieder einmal „die Anderen“ ins Visier: Wochenlang geraten Sinti und Roma in der Region in Tatverdacht, die Fahnder vermuteten die Tatwaffe im „Zigeunermilieu“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel entschuldigte sich öffentlich während des Staatsakts Ende Februar 2012 für das Leid, das den Familien durch staatliche Institutionen beigefügt worden war. Doch viele der Anwesenden konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Gedenkveranstaltung am Gendarmenmarkt auch einen Schlussstrich ziehen sollte unter die Auseinandersetzung der politisch Verantwortlichen mit dem Schicksal der Angehörigen und der Verletzten der beiden NSU-Bombenanschläge in Köln. Dies wird u. a. daran deutlich, dass Barbara John, die als von der Bundesregierung eingesetzte Ombudsfrau mehr als 80 Familienangehörige unterstützen soll, seit Monaten alleine und ohne eine angemessene materielle und personelle Ausstattung arbeiten muss. Und nicht zuletzt wird das mangelnde staatliche Interesse an einer langfristigen Unterstützung und Begleitung für diese große und sehr heterogene Gruppe von Betroffenen auch daran deutlich, dass der Aufbau von unabhängigen, spezialisierten Opferberatungsstellen für Opfer rechter und rassistischer Gewalt in den westlichen Bundesländern, in denen die Betroffenen leben, noch immer entweder nicht angemessen fi nanziert wird oder aber gar nicht stattfi ndet. Denn damit einhergehen müsste auch ein tatsächlicher Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt als gesamtdeutsches Problem – dem sich alle westdeutschen Bundesländer bislang erfolgreich verweigert haben. Wie belastend diese Jahre der Verdächtigungen und der aktuelle Umgang mit der NSU-Täterschaft für die Angehörigen und Verletzten sein muss, lässt sich nur ansatzweise erahnen. Deutlich wird vor allem, dass die Botschaft der TäterInnen durch das Verhalten der Sicherheitsbehörden, die von analogen rassistischen Stereotypen beherrschte Berichterstattung über die „Döner-Mord-Serie“ und das jahrelange gesellschaftliche Schweigen und Desinteresse dazu geführt haben, dass den Angehörigen und Verletzten das Gefühl von Zugehörigkeit in Deutschland genommen wurde.
Umfassende Aufklärung?!
Mittlerweile gibt es drei parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die das Versagen der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste aufklären sollen – im Bundestag sowie im thüringischen und sächsischen Landtag. Hinzu kommt noch eine so genannte Bund- Länder-Kommission, die die Pannen in der Zusammenarbeit der jeweiligen Sicherheitsbehörden und Geheimdienste aufklären und Handlungsempfehlungen aussprechen soll, sowie ein von Bund und Ländern gemeinsam beschlossenes, im Sinne des Trennungsgebots von Polizei und Geheimdiensten mehr als bedenkliches „Terrorabwehrzentrum Rechts“ sowie die gemeinsame Verbunddatei für „Gewalttäter Rechts“, in der alle verfügbaren Daten über gewaltbereite Neonazis gespeichert werden sollen. Letztere sind – neben der altbekannten Debatte um ein NPD-Verbot – die absurdesten Antworten auf das Versagen der Sicherheits- und Geheimdienste. Noch vor jeglicher Aufarbeitung, Auseinandersetzung und Evaluierung struktureller Fehler und des Fehlverhaltens einzelner Beamter, erhalten ausgerechnet diese Behörden mehr Mitarbeiter, mehr Befugnisse und mehr Geld.
Ob die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und das Strafverfahren unter der Regie der Bundesanwaltschaft befriedigende Antworten auf die alles entscheidende Frage produzieren werden, wieso die Sicherheitsbehörden und ein halbes Dutzend Geheimdienste nicht nur das Kern-Trio des NSU bis zum Jahr 2001 im Visier hatten und es dann scheinbar spurlos aus den Augen verloren, erscheint vielen Beobachtern inzwischen eher unwahrscheinlich. Im besten Fall, so scheint es, können die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bundestag die notwendige faktische Untermauerung für die Forderungen von AntifaschistInnen und zivilgesellschaftlichen Initiativen nach einer Auflösung des V-Leute-Systems und einer vollständigen Neugestaltung polizeilichen Umgangs mit Neonazis und rassistischer Gewalt liefern.
Theoretisch haben parlamentarische Untersuchungsausschüsse ähnliche Rechte bei der Zeugenbefragung und Aktenbeiordnung wie Gerichte: ZeugInnen müssen auf Ladung erscheinen – haben aber das Recht auf Aussageverweigerung. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) im Bundestag eine umfassende Aufarbeitung nicht erwartet werden sollte: Dem Ausschuss bleibt kaum noch ein Jahr bis zum Ende der Legislaturperiode und damit der Auflösung des derzeitigen Bundestags, um mehr als 2.000 Bände Akten und unzählige ZeugInnen zu befragen. Hinzu kommt die schon in den ersten Sitzungen des Innenausschusses sichtbare deutliche Weigerung der Länder – insbesondere Sachsens, Thüringens und Niedersachsens – all zu tiefe Einblicke hinter die Kulissen der jeweiligen Dienste und Behörden zu gewähren. Auch der Verweis auf laufende Ermittlungen des Generalbundesanwalts könnte weiteren Zeugen als Begründung für Aussageverweigerungen dienen.
Und nicht zuletzt machen die Erfahrungen aus dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum BND-Skandal deutlich, dass die Grenzen parlamentarischer Untersuchungsausschüsse noch immer durch die Parteiräson und Wahlkämpfe gesteckt werden – unabhängig davon, ob einzelne PolitikerInnen durchaus glaubwürdig versichern, dass „alles auf den Tisch kommt“. Dies gilt umso mehr für die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Sachsen. Zumal die seit zwanzig Jahren in Sachsen regierende CDU alles daran setzt, die konstituierende Sitzung des Untersuchungsausschusses im sächsischen Landtag so lange wie möglich hinaus zu zögern. Dabei muss man den Verweis auf die Tatsache, dass auch die NPD im Ausschuss vertreten sein wird – NPD-Abgeordnete sind im Übrigen im sächsischen Landtag auch im Innen- und Justizausschuss vertreten – als reine Verzögerungstaktik bewerten. Schließlich wissen NPD-Funktionäre wie der langjährige thüringische NPD-Landesvorsitzende und derzeit stellvertretende NPD-Bundesvorsitzende Frank Schwerdt vermutlich mehr über die enge personelle Nähe von NPD und NSU als medial und aus den Behörden zu erfahren ist. Deutlich wurde dies, als Frank Schwerdt im Februar in einem Interview mit ARD-Journalisten einräumte, gemeinsam mit Beate Zschäpe zehn Tage vor dem Abtauchen des NSU-Trios an einer neonazistischen Demonstration in Erfurt teilgenommen zu haben, mindestens einmal von Uwe Mundlos gefahren und nach dem Abtauchen des Trios durch den langjährigen thüringischen Neonazikader André K. um Unterstützung gebeten worden zu sein.
Eine umfassende Aufklärung müsste auch bedeuten, dass von Seiten der Behörden und politisch Verantwortlichen eingestanden würde, dass man zwei Jahrzehnte lang – aus parteipolitischem Kalkül und tiefsitzendem Ressentiment gegenüber der radikalen Linken – zu- bzw. weggeschaut und verharmlost hat, dass und wie gemeinsam mit den AktivistInnen der NSU und ihrem breit gefächerten UnterstützerInnen-Netzwerk mehrere hundert Neonazis in Ost- und Westdeutschland sich gezielt auf den „bewaffneten Widerstand“ vorbereiteten: in den 1990er Jahren im Rahmen der militanten Netzwerke „Blood&Honour“ und „Combat 18“; seit dem Verbot von „Blood&Honour“ in gewachsenen politischen und sozialen Netzwerken. Und anders als von Generalbundesanwalt Range behauptet, hat der NSU eben gerade nicht als isolierte kleine Zelle agiert, sondern quasi als „homegrown“ Terrornetzwerk, das sich aus in den 1990er Jahren gewachsenen persönlichen und politischen Bezügen der bundesweit vernetzten Neonazibewegung zusammensetzt. Anders als der oberste Strafverfolger der Republik gehen auch die Sicherheitsbehörden inzwischen davon aus, dass der NSU über mindestens drei Dutzend HelferInnen – darunter auch bundesweit prominente Neonazis aus NPD und Autonomen Kameradschaften verfügte. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass das Netzwerk von Aktivisten aus langjährigen, bundesweit vernetzten Blood&Honour-Strukturen, Thüringer Heimatschutz, Anti-Antifa-AktivistInnen sowie NPD und JN-AktivistInnen, auf das sich der NSU-Kern stützen konnte, noch keineswegs ausermittelt ist.
Noch ist offen, ob zu den bislang bekannten Morden und Anschlägen des NSU weitere Taten hinzukommen werden. Als sicher muss allerdings schon jetzt gelten, dass es neben dem NSU weitere neonazistische Terrorgruppen und Netzwerke gegeben haben muss bzw. gibt, die der mörderischen Ideologie der „Weißen Vorherrschaft“ und den strategischen Debatten um einen „bewaffneten, führerlosen Widerstand“ verbunden sind. Dafür steht auch eine Serie bislang unaufgeklärter neonazistischer Sprengstoffanschläge in Saarbrücken, Düsseldorf und Berlin rings um die Jahrtausendwende.
Mehr als beunruhigend ist zudem, dass inzwischen durch die zunehmende Verbreiterung der Bewegung der so genannten Autonomen Nationalisten bewaffnete Aktionen insbesondere gegen erklärte politische GegnerInnen in Ost- und Westdeutschland zum Alltag gehören: sei es in Dortmund, Nürnberg oder Sachsen-Anhalt oder Brandenburg, wo der zuständige Innenminister gerade einräumen musste, dass im Vorzeigeland zivilgesellschaftlichen Engagements eine neue Generation aktionsorientierter Neonazis herangewachsen sei, die offensichtlich immer mehr Zulauf erleben.
Eine Gesellschaft schweigt
Unmittelbar nach Bekanntwerden der NSUMordserie zeigte sich ein erschreckender Gap zwischen der Brutalität der Taten und der medialen Berichterstattung einerseits und dem beklemmenden Schweigen, mit dem weite Teile der Gesellschaft darauf reagierten. Die vereinzelten Menschenketten wie im Raum Nürnberg können nicht darüber hinweg täuschen, dass es keine angemessene gesellschaftliche Reaktion auf diese neue Dimension neonazistischer Gewalt und Bedrohung gegeben hat. Hier offenbaren sich eine tiefsitzende Distanz und Empathielosigkeit, mit der auch die allermeisten anderen Opfer rechter und rassistischer Gewalt tagtäglich konfrontiert sind. Und die letztendlich auch deutlich machen, wohin sich das Land seit den Lichterketten nach den ersten Wellen von Pogromen und mörderischen rassistischen Brandanschlägen der frühen 1990er Jahre bewegt hat: Hin zu einer entlang rassistischer Kriterien gespaltenen Gesellschaft, in der Solidarität offenbar ein Fremdwort geworden ist.
Heike Kleffner ist Journalistin und beschäftigt sich seit den frühen 1990er Jahren mit der extremen Rechten in Deutschland.
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