aus telegraph #125|126
Zahlreiche Vorhersagen für einen großen Finanzkrisencrash sind bisher nicht eingetreten. Aber wir warten noch. Und wir warten nicht nur: „Es ist sinnlos zu sagen: Wir tun unser Bestes. Es muss dir gelingen, das zu tun, was erforderlich ist!“ soll Winston Churchill gesagt haben. Wir bringen deshalb auch eine neue Nummer des telegraph heraus.
Kurzfristig versuchen sich die Herrschenden durch Geldentwertung, sie nennen das „lockere Geldpolitik“, zu retten. Aber das Spiel mit der Inflation ist bekanntlich riskant. Bei zunehmender Krisenintensität nehmen nicht nur die Kämpfe zwischen den Euro-Staaten zu, auch wird, häufig gepaart mit einer Renaissance reaktionärer Gesellschaftsvorstellungen, der Konkurrenzkampf innerhalb der abschmelzenden Mittelschichten immer brutaler, ein Kampf ALLE GEGEN ALLE, meint unser Autor Tomasz Konicz.
Im Oktober 2012 hat es Deutschland geschafft, ein Denkmal für die in der NS-Zeit ermordeten 500.000 Sinti und Roma einzuweihen, nach über 65 Jahren. Scham scheint deutschen Politikern ein Fremdwort. Die heuchelnden Politiker-Worte zum 20. Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vom August 1992 sind noch nicht verhallt, da macht Bundesinnenminister Friedrich Stimmung gegen Roma aus Serbien und Mazedonien. Die rassistische Hetze ist geblieben: 1942, 1992, 2012.
Erinnern wollen wir hier an Silvio Meier. Wir kannten Silvio aus der linken DDR-Opposition, aus der Ostberliner Hausbesetzerbewegung und als Antifaschisten. Silvio wurde im November 1992, vor 20 Jahren, in Berlin von mehreren jungen Neonazis getötet. Jedes Jahr im November gibt es anlässlich seines Todestages eine Demonstration und seit Jahren kämpften verschiedene Initiativen für eine Berliner Silvio-Meier-Straße. Nachdem sich nun im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die Fraktionen von Linken, SPD, Grünen und Piraten in der Bezirksverordnetenversammlung darauf geeinigt haben, steht es jetzt fest: Berlin bekommt eine Silvio- Meier-Straße. Nur die CDU war dagegen. Der Berliner CDU-Abgeordnete Kurt Wansner hatte sich in der salonfaschistischen Postille JUNGE FREIHEIT gegen die Umbenennung einer Straße im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nach einem „erstochenem Punker“ ausgesprochen. „Ich glaube, der Bezirk hat sich nicht ausreichend mit der Vergangenheit dieses Mannes beschäftigt“, sagte Wansner der JUNGEN FREIHEIT. „Sonst hätte man nämlich gemerkt, dass Silvio Meier kein würdiger Namensgeber für eine öffentliche Straße sein kann.“
Wie der Staat mit seinen Repressionseinrichtungen offensichtlich eng verbandelt mit neofaschistischen Strukturen ist, können wir erneut seit nunmehr fast einem Jahr beobachten, seitdem der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) aufflog. Die Empörung war groß. Um diese zu überstehen werden gewöhnlich von Politeltikern Untersuchungsausschüsse eingerichtet. Was haben diese bisher gebracht? Das in den staatlichen Institutionen etwas grundlegend falsch läuft, darauf machte auch eine Aktion einer Gruppe aufmerksam, die das Nachkriegswort „Entnazifizieren“ auf das Bundeskanzleramt und das Bundesinnenministerium projizierte.
Die herrschende Klasse hat zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnung immer auch der Zuarbeit von Kopflangern und Weißwäschern bedurft. Uns fallen auch viele unserer ehemals in der DDR oppositionellen Freunde ein, die sich heute den Maßgaben staatsnaher Einrichtungen fügen, weil deren „Fördermittel“ winken und sie sonst keine Alternative für sich sehen. Eine derartige Unterwürfigkeit ging uns nicht nur damals in der DDR vollständig ab.
Kristina Schröder, CDU-Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, ist die Erfinderin der „Extremismusklausel“. Seit 2011 sollen zur Erlangung von staatlichen Fördergeldern antirassistische und antifaschistische NGOs ein Bekenntnis „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ ablegen und ihre Kooperationspartner auf extremistische Affinitäten untersuchen (also die Spitzelarbeit des Verfassungsschutzes übernehmen, der die rechtsextremistischen Strukturen hilft aufzubauen und zu unterstützen). Vom Verwaltungsgericht Dresden hat Frau Schröder in dem vom Alternativen Kulturund Bildungszentrums Akubiz angestrengten Prozess gerichtlich bescheinigt bekommen, daß diese Klausel rechtswidrig ist. Die Robert-Havemann-Gesellschaft, in der so einige unserer alten Freunde sitzen, hat dennoch als Präsentatorin ihrer letzten Ausstellung „Jugendopposition in der DDR“ im September 2012 Bundesministerin Schröder erwählt, die ihre „besondere Freude“ darüber mitteilte. So legitimiert man sich gegenseitig. Wir nennen das: eine konformistische Großleistung. Da es auch in der kommenden Zeit weitergeht mit dem „Krieg den Hütten, Friede den Palästen“, erhaltet Euch die „Unfähigkeit, Euch zu unterwerfen“! (frei nach Volker Braun)
No pasarán!
Eure telegraph-Redaktion
P.S. Wir bedanken uns bei Heidi Kruschwitz und Anke Werner für die Korrektur der Texte.
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