Hoyerswerda, Mannheim-Schönau, Rostock-Lichtenhagen

Vor 20 Jahren bereitete eine rassistische Pogromwelle den Boden für die Abschaffung des Asylrechts in Deutschland

Von Dietmar Wolf
aus telegraph #125|126

Am 6. Dezember 1992 verabschiedete der Deutsche Bundestag, die als „Asylkompromiss“ bezeichnete, so genannte „Neureglung des Asylgesetzes“. Mit den Stimmen der Regierungskoalition CDU/ CSU/FDP und den Stimmen der SPD-Opposition wurde die Änderung des Grundgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes durchgesetzt. Weitere Bestandteile dieser Gesetzesänderung waren die Einführung eines Asylbewerberleistungsgesetzes so- wie die Schaffung eines eigenständigen Kriegsflüchtlingsstatus (§ 32a Ausländergesetz). Am 1.1.1992 wurde bereits ein neues Ausländerrecht und am 1.7.1992 ein neues Asylbeschleunigungsgesetz beschlossen. Es bedeutete faktisch die Abschaffung des Rechts auf Asyl in Deutschland.

Diesen Beschlüssen ging eine zweijährige Pogrom- und Hetzkampagne voraus. Mit einer fast beispiellosen Schärfe zettelten Politiker und Medien eine rassistische Asyldebatte an, wie sie seit der Nazi- zeit nicht mehr da gewesen war. Damit begünstigten und beförderten sie nicht nur den Ausbruch einer zügellosen Pogromwelle, sondern sie benutzten diese skrupellos zur Durchsetzung ihrer rassistischen Ziele.

In den Jahren 1991 und 1992 wurden rassistische Ausschreitungen in Deutschland zur medialen Alltäglichkeit und für zig tausende Betroffene zur schockierenden Realität. Kaum ein Tag verging ohne mindestens eine Zeitungsmeldung oder einen Fernsehbericht, in dem von neuen rassistischen Angriffen berichtet wurde. Städte wie Hoyerswerda, Mannheim-Schönau oder Rostock-Lichtenhagen stehen seitdem als Sinnbild für rassistische Gewalt und für Politiker, die vor nichts zurückschrecken um ihre Ziele durchzusetzen. Und sie sind Sinnbild, dass die normalen Bürger, auch aus der so genannten Mitte der Gesellschaft gerne bereit sind, den billigen, rassistischen Lügen und Sündenbockmodellen und dem Prinzip des „Nach oben buckeln und nach unten treten“ all zu gerne und untertänigst zu folgen. „… Auf einmal hatten wir es nicht nur mit Neonazis und der Polizei zu tun, sondern mit einer Bevölkerung, die in Teilen mit den rassistischen TäterInnen sympathisierte und in großen Teilen mit einer Großen Koalition, die eine unblutige und effektive Lösung des ‚Asylproblems‘ versprach. Rassismus und Nationalismus sind eben nicht nur Herrschaftsideologien, die ganz unten ̧falsches Bewusstsein’ produzieren. Sie konstituieren zugleich ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das ̧die da unten’ zu Subjekten einer privilegierten Teilhabe macht. …“1

Demgegenüber stand eine Linke und antifaschistisch-antirassistische Bewegung, für die die Jahre 1991/92 einen Scheideweg darstellten. Ein bedeutender Prüfstein ihrer bisherigen Politik. Besonders das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen hat noch heute für viele Linke eine herausragende Bedeutung. Es stellte eine Zäsur da und forderte im Ergebnis ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf ihre antifaschistische Politik. 
Als ein rassistischer Mob aus Neonazis, Hooligans und rechten Jugendlichen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) und das Wohnhaus der ehemaligen VertragsarbeiterInnen aus Vietnam über Tage angriffen und schlussendlich unter den Augen von Polizei und Tausenden jubelnder Nachbarn in Brand setzten, war das für große Teile der linken Bewegung in Deutschland eine völlig neue Dimension des kollektiven Gewalt-Exzesses. Dass organisierte Neonazis derartige Angriffe durchführten, war nicht neu. Dass aber Hunderte, bzw. Tausende von aggressiven Bürgern und Bürgerinnen Flüchtlingsheime belagern und die Straßen dem rassistischen Mob gehören, war ausgesprochen schockierend und kaum zu ertragen. Zustände, die an die dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte erinnerten und eigentlich nichts mit Deutschland der 1990er zu tun haben sollten.
 Monatelang hatten konservative Politiker der sogenannten politischen Mitte in Ost und West und bürgerliche Medien, unterstützt von der extremen Rechten, eine Hetzkampagne gegen Flüchtlinge geführt, um das Grundrecht auf Asyl zu kippen und Rassismus zum Normalzustand zu erheben. Sie schufen bewusst eine rassistische-nationalistische Stimmung und heizten diese gezielt an. Die katastrophalen Folgen, die daraus resultierenden bundesweiten rassistischen Angriffe und Pogrome und die damit direkt entstandene unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben von hunderten schutzsuchenden Flüchtlingen nahmen die geistigen Brandstifter zumindest billigend in Kauf.

Die Linke ist überfordert und entpuppt sich als handlungsunfähig

In den Tagen des Pogroms war das Rostocker Jugend Alternativ Zentrum (JAZ) zentraler Anlaufpunkt für Mitglieder der radikalen Linken, die aus anderen Städten anreisten, um zu helfen. Doch zu keiner Zeit befanden sich dort mehr als 200 Personen.

Sie standen einem, bis dahin nicht gekannten aggressiven und rassistisch-nationalistischen Treiben gegenüber. Die Situation in Rostock-Lichtenhagen war für viele anders als erwartet. Man sah sich nicht nur, wie sonst üblich, den Neonazis gegenüber, sondern einem rassistischen Mob. Hier war die „ganz normale Bevölkerung“ auf der Straße und machte das Pogrom erst zu einem „völkischen Massenevent“. Die Frage, was man so einem entfesselten, tausendfach Hass grölenden Mob entgegensetzen sollte, blieb für viele in dieser Situation unbeantwortet. Desorientiert und ratlos, beschränkten sich die meisten auswertigen Linken auf Herumsitzen und Warten. Gelegentliche Patrouillenfahrten durch die Innenstadt waren die einzige Beschäftigung. Die Rostocker Linken hingegen waren in erster Linie bemüht, das JAZ vor eventuellen Nazi-Angriffen zu schützen.

Nur eine Handvoll Rostocker AktivistInnen, unter Ihnen der Ausländerbeauftrag- te der Stadt Rostock und Mitglieder des JAZ, hatte den Mut in das Haus zu gehen und die VietnamesInnen über Tage praktisch zu unterstützen.

Doch am Sonntag wollte man nicht mehr passiv zuschauen. Nun wollte man dem Mob in Lichtenhagen entschlossen ent- gegentreten, die Lethargie durchbrechen. Eine Spontandemo mit 200 Antifaschisten zog vor die ZASt. Sie gingen jedoch nicht ins Haus, um die Vietnamesen vor dem rassistischen Mob zu schützen. So geriet diese zunächst mutige Entscheidung, nach Rostock-Lichtenhagen zu gehen und sich den Tausenden Rassisten, Neonazis und Schaulustigen entgegen- zustellen, letztendlich zur wirkungslosen Aktion. Schlimmer noch. Sie wurde zum Desaster. Denn die Demonstranten liefen einem Polizeiaufgebot in die Fänge, das prompt 60 Personen einkesselte und für viele Stunden festsetzte.

Die zentrale Frage ist aber: Wo war die deutsche Linke? Als alles vorbei war, kamen 20.000 Menschen zu einer Großdemonstration. Wo waren diese 20.000 Menschen, als es darauf ankam, aktiv Widerstand gegen die Pogromstimmung zu leisten und den schutzlosen MigrantInnen und Flüchtlingen zu helfen? Waren sie zu bequem, zu verängstigt, oder schlichtweg nicht bereit, persönliche Befindlichkeiten hinten an zu stellen? An den Tagen und Nächten der rassistischen Hatz waren nur ein paar hundert Menschen vor Ort. Ihre Möglichkeiten mussten begrenzt bleiben.

Zwischen Hoyerswerda und Rostock war aber auch Mannheim

Dass Hoyerswerda und Rostock nicht die einzigen Städte waren, in denen es Anfang der 1990er Jahre Pogrome gab, ist heute nur noch wenigen bekannt. Dass diese aber auch im Gebiet der alten BRD stattfanden, ist mittlerweile komplett in Vergessenheit geraten. Und das ist scheinbar auch so gewollt. Widerspricht es doch der offiziellen Geschichtsdeutung, dass das Naziproblem ausschließlich ein Problem des Ostens sei. Die Ursache wäre natürlich eine Folge einer fehlenden Zivilgesellschaft in den Bundesländern der ehemaligen DDR. Und somit kann das Naziproblem, wie schon so oft, der so genannten SED-Diktatur zugeschoben werden. Ein Pogrom, wie das von Mann- heim-Schönau, ist für derartige Argumentationsmuster äußerst unangenehm. Auch die rassistischen Brandanschläge von Mölln und Solingen, aus dem Jahre 1992 und 1993, sind da sehr hinderlich. Auch wird immer schnell verdrängt, dass der staatlich organisierte „Aufstand der Anständigen“ eine direkte Folge des faschistischen Bombenanschlags auf eine Synagoge in Dortmund war.
Erinnern wir uns also an Mannheim-Schönau. Im Mai 1992 entstand dort eine ähnliche Situation wie in Hoyerswerda und Rostock. Auch hier war die Einrichtung einer ZASt der Stein des Anstoßes.

1992 zählte Mannheim-Schönau zu den typischen Arbeitervororten, lauschig und etwas langweilig, mit etwas Grün drum herum und einem heimeligen Vereinsleben. Als traditionelle SPD-Hochburg, in der vor deren Verbot auch die KPD recht stark war, galt Mannheim-Schönau 1992 als so genannter sozialer Brennpunkt. Hohe Arbeitslosigkeit, viele Sozialhilfeempfänger, zunehmende Drogenprobleme und Kriminalität. Anfang der 1990er Jahre mauserte sich die Stadt zu einer wichtigen Hochburg der Republikaner. Die REPs erzielten bei den Bezirksbeiratswahlen, mit knapp siebzehn Prozent, ihr bestes Wahlergebnis von ganz Mannheim. Als eine leerstehende Gendarmeriekaserne, in der, nach dem Willen der Bürger, ein Jugendklub oder eine Autowerkstatt eingerichtet werden sollte, von den Verantwortlichen in Mannheim in eine Asylbewerberunterkunft umfunktioniert wurde, begann die lokale Volksseele zu kochen. Die kommunale Politik sowie die Einwohner von Mannheim-Schönau stellten sich sofort gegen diese Entscheidung. Reflexartig wurde ein realitätsfernes Bedrohungsszenario herbei geredet und es kursierten aberwitzige Gerüchte von Drogen, Diebstahl, Zerstörungen, Gewalt usw. …

Auslöser für den Beginn dieses Pogroms war der völlig haltlose Vorwurf ein dort wohnender Asylbewerber hätte ein 16- jähriges Mädchen vergewaltigt. Diese aus der Luft gegriffene Behauptung reichte aus, dass in der Nacht vom 26. 5. zum 27. 5. 1992 etwa 150 Menschen vor das Flüchtlingsheim zogen und Lynchjustiz-Stimmung verbreiteten. Die relativ schnell herbei geeilte Polizei verhinderte die Erstürmung des Flüchtlingslagers. Einen Tag später war Himmelfahrt. Im Anschluss an ein Vatertagsfest zogen Hunderte von Festbesuchern vor das Flüchtlingsheim. Die aufkommende Pogromstimmung sprach sich schnell herum und die Meute wuchs schnell auf über 500 Menschen an. Es wurden die üblichen Parolen, wie: „Asylantenschweine raus“, „Ausländer raus“ oder „Nur ein toter Neger ist ein guter Neger“ skandiert.

An diesem Tag war in Mannheim, im Gegensatz zu Rostock, sehr schnell ausreichend Polizei vor Ort und errichtete vor dem Asylbewerberheim eine Straßen- sperre. Sie machte dem erregten Bürgermob schnell deutlich, dass sie das Asylbewerberheim auf jeden Fall schützen würde. Aber eben nur so, wie man eine Telefonzelle schützt. Als Objektschutz und nicht zum Schutz der Menschen, die in diesem Objekt lebten. Und die Polizei duldete, dass sich über fünf Tage Hunderte von rassistischen Bürgern vor dem Objekt versammeln und völlig unbehelligt Drohungen, Beleidigungen und Pöbeleien gegen die Flüchtlinge vorbringen konnten. In diesen fünf Tagen sperrte die Polizei, immer pünktlich gegen 17 Uhr, die am Flüchtlingsheim vorbeiführende Lilienthalstraße. Die Belagerung des Flüchtlingsheims bekam somit ein geregeltes und institutionalisiertes Verfahren.

Und während die Polizei dem rassistischen Bürgermob „Gelassenheit und Besonnenheit“ entgegen brachte, machte ihre Pressestelle jeden Fahrraddiebstahl zu einer Pressemeldung. Und während die Polizei bemüht war, über die allabendliche Belagerung des Flüchtlingslagers „Stillschweigen zu bewahren“, riet sie den Flüchtlingen, das Lager nicht zu verlassen. Und sie errichtete gleichzeitig ein zweites, ins Innere des Heims gerichtete, zwei Meter hohes, Absperrgitter.
Der SPD-Oberbürgermeister der Stadt Mannheim äußerte derweil vor allem Verständnis für seine „aufgebrachten“ Bürger und versprach, wie der Mannheimer Morgen berichtete, „sich um die Probleme zu kümmern„.
Als Ehrengast auf einem CDU-Parteitag verkündete er, unter dem Jubel der An- wesenden, dass man „vor einer Grundgesetzänderung (des Asylrechtsartikels 16,2, d. Vf.) nicht zurückschrecken“ dürfe. In Bonn gäbe es zwar ständig Gesprächs- runden, „aber in Wirklichkeit geschieht nichts„. (Mannheimer Morgen (MM), 27.1.1992).

Die Honoratioren und Geschäftsleute von Mannheim-Schönau drohten, das Flüchtlingsheim eigenhändig zu räumen, wenn sich die demokratischen Parteien nicht endlich auf eine „Lösung des Asylproblems“ einigten. Oder mit den Worten von August Mehl, dem Ersten Vorsitzenden der Kultur- und Interessensgemeinschaft Mannheim-Schönau e. V., in der sich 26 ortsansässige Vereine und Geschäftsleute zusammengeschlossen hatten: „Der Bürger erwartet Lösungen“ und wenn nichts geschähe, „dann stehen vielleicht bald nur noch die Mauern der Gendarmeriekaserne“. (MM, 5. 6. 1992) 2

Die lokalen Mannheimer Medien entfesselten eine Hetzkampagne gegen die Flüchtlinge, die durchaus vergleichbar war mit der Berichterstattung in Rostock- Lichtenhagen:
„… Mannheim-Schönau hat auch ein Freizeitheim (Jugendzentrum) und Sozialarbeiter, die einfach wissen, dass Flüchtlinge Rauschgiftdealer sind. Das wissen sie aus Funk und Fernsehen, haben es also mit eigenen Augen gesehen. Als an das Freizeitheim (Jugendzentrum) und Sozialarbeiter von Mannheim-Schönau die Bitte herangetragen wurde, die Flüchtlinge die Sporthalle mitbenutzen zu lassen, lehnten sie ab. Vor ihren Augen taten sich nur noch Drogendepots und angefixte Jugendliche auf, sie sahen rot. Ihr Widerspruch hatte Erfolg: Inzwischen ist es den Betreuern des Jugendfreizeitheimes gelungen, diese Besuche der Asylbewerber abzustellen“, berichtete der Mannheimer Morgen am 9. 4. 1992.

Wenn ich morgens arbeiten geh, liegen die Asylanten schon faul in der Sonne, ene verkehrte Welt. Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zu tun, schreiben Sie das, die sollen sich nur anständig benehmen, uns reicht’s jetzt nämlich.“ (Anzeiger 3. 6. 1992)

Auf ein Wort. … Schaut her, die bösen Schönauer? Dummes Zeug! In ganz Deutschland werden die Proteste gegen die massenhafte Einwanderung von Asylbewerbern, darunter ein Großteil Wirtschaftsflüchtlinge, die den wirklich Hilfsbedürftigen schaden, zunehmen. Leider wird es auch vermehrt gewalttätige Aktionen geben. Das schadet unserem Ansehen im Ausland. Und wieder einmal sei es geschrieben: die Politiker sind ge- fordert. Nicht morgen oder übermorgen, sondern heute.“ (Joachim Faulhaber in: Anzeiger, 3. 6. 1992)

Mannheim-Schönau erfüllt alle Voraussetzungen für einen „berechtigten Protest“ …3

Am 3.6. erfolgte eine erste Mobilisierung aus dem Rhein/Main-Gebiet nach Mann- heim-Schönau. Etwa 150 Antifaschisten versuchten, den belagerten Flüchtlingen Unterstützung und Solidarität zu zeigen und, wenn möglich, die Konfrontation mit den Belagerern zu suchen. Das gelang je- doch nicht, da die Polizei dies konsequent verhinderte.

Eine für den 6. 6. angemeldete antifaschistische Demonstration in Mannheim- Schönau wurde verboten. Daraufhin verlegten die Organisatoren die Demo direkt

nach Mannheim. Doch diese wurde schon nach wenigen Minuten von Bereitschaftspolizei und SEK brutal zerschlagen. Die flüchtenden Demoteilnehmer wurden teil- weise quer durch die Stadt verfolgt. Es gab viele Verletzte und insgesamt 140 Festnahmen. Zur gleichen Zeit versammelten sich die Bürger von Mannheim- Schönau, wie schon in den Tagen davor, vor dem Flüchtlingsheim zu ihrem rassistisch-nationalistischen Massenevent.

Eine zweite bundesweite Demonstration, die am 13. 6. in zwei Demonstrations- zügen nach Mannheim-Schönau ziehen sollte, geriet ebenfalls zum Desaster. Nach einem neuerlichen Demonstrationsverbot für Mannheim-Schönau, versuchte es der erste Zug erst gar nicht, dorthin zu kommen. Der zweite Demonstrationszug, etwa 300-400 Menschen, gelangte, entlang brachliegender Felder, zum Nach- barortsteil Mannheim-Sandhofen. Dieser wurde dort aber von der Polizei gestoppt, eingekesselt und stundenlang festgehalten.

Einen Tag vor der Demonstration wandte sich der Mannheimer SPD-OB Widder in einem offenen Brief an seine „Liebe[n] Mitbürgerinnen und Mitbürger auf der Schönau … Nachdem in unserer Stadt … längst wieder Ruhe eingekehrt ist, berei- ten uns aus dem gesamten Bundesgebiet zureisende militante Kräfte erhebliche Sor- gen … Ungeachtet des von mir verfügten Verbots … ist damit zu rechnen, dass versucht wird, die Demonstration durch- zuführen. Die Polizei ist darauf vorbereitet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich bitte Sie deshalb erneut sehr eindringlich, jeglichen Ansammlungen und Aktionen fernzubleiben, womit Sie die Arbeit der Polizei erheblich unterstützen …“.4

Schon unmittelbar vor der Demonstration am 6.6. hatte sich der OB an seine „Liebe[n] Mitbürgerinnen und liebe[n] Mitbürger aus Schönau“ gewandt: „Die Ansammlungen vor der Landesunterkunft für Asylbewerber in der Lilienthalstraße haben … eine neue Qualität erreicht, indem … sie zum Anziehungspunkt auswärtiger militanter Kräfte werden. Ich bitte Sie …, Konfrontationen mit diesen Kräften zu meiden.“5

Nach den Demonstrationen in Mannheim- Sandhofen und in der Mannheimer Innenstadt brach das städteübergreifende Bündnis auseinander. Zwar war noch ein Fest zusammen mit den Flüchtlingen ge- plant, doch weder die Kraft noch die dafür notwendige Ausdauer waren vorhanden. Letztendlich konnte sich der rassistische Bürgermob von Mannheim-Schönau durchsetzen. Innerhalb von sechs Wochen wurden über 90 Prozent der in Mannheim-Schönau untergebrachten Flüchtlinge abgeschoben. In der Stadt kehrte wieder „Ruhe“ ein. Man ging wie eh und je „beim Türken einkaufen, beim Griechen essen und [lässt sich] beim Italiener [die] Haare schneiden.“ (August Mehl) Man hat ja nichts gegen Ausländer …6

Fast zwei Jahre nach den Angriffen auf das Flüchtlingsheim zog die Mannheimer Polizei und Staatsanwaltschaft Bilanz. Das Ergebnis: Nicht eine der 500 am Pogrom beteiligten Personen wurde juristisch belangt, geschweige denn verurteilt. Schlimmer noch. Die Polizei erstattete keinerlei Anzeigen und die Staatsanwaltschaft zeigte keinerlei Veranlassung, auch nur gegen einen der beteiligten Personen Ermittlungen einzuleiten.

Dieser „staatliche Flankenschutz“ war aller Bonheurs und die Begründung der Mannheimer Polizeisprecher war beeindruckend: „… Es war nicht die Absicht, betrunkene, aber nicht kriminelle Bürger mit Strafverfahren zu überziehen. ...“7 Somit lag der Unterschied zwischen den rassistischen Bürgern, „… die die ̧Asylfrage selbst in die Hand nehmen …“ und jenen, die dafür vom Staat für zuständig

erklärt wurden, darin, dass die Bürger sich erst einmal Mut ansaufen mussten und die anderen dieses ganz nüchtern klärten. Was hingegen als wirklich kriminell erklärt wurde und was die Staatsdiener „im öffentlichen Interesse“ konsequent verfolgten, füllte im nach hinein ganze Aktenberge: Gegen über 150 Antifaschisten und Antirassisten wurden in Mannheim Strafverfahren eingeleitet. Und 1994 meldete die Frankfurter Rundschau: „Die Daten der an den fremdenfeindlichen Ausschreitungen Beteiligten [sind] nicht mehr vorhanden.“ (FR vom 26. 3. 1994)8

Erst die Pogrome, dann Lichterketten und zum Schluss der parteipolitische Todesstoß gegen den Artikel 16.2 des Grundgesetzes

Die Kampagne zur Abschaffung des Rechts auf Asyl dauerte gerade mal zwei Jahre. Sie begann mit dem Pogrom in Hoyerswerda und endete unmittelbar nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Dazwischen brannten unzählige weitere Asylbewerberheime und Zentrale Aufnahmenstellen für Asylbewerber, lebte ein scham- und hemmungslos entfesselter, gesamtdeutscher Bürgermob, aus der Mitte der Gesellschaft kommend, angefeuert durch Medien und Politik jeglicher Couleur, angeleitet und angeführt von Neonaziaktivisten, seine rassistischen Triebe aus. Hinzu kam, dass sich die so genannten Sicherheitsbehörden und Polizeikräfte zwei Jahre nicht in der Lage sahen, diese Heime zu schützen. Sie waren nicht in der Lage die Täter und Hintermänner zu ermitteln und, wie man es eigentlich von einem vernünftigen, so genannten Rechtsstaat vermuten würde, einer gerechten Strafe zuzuführen. Statt gegen den rassistischen Mob vorzugehen und die Flüchtlinge zu schützen, griff die Polizei selbst Flüchtlingsheime an, „… wie in Dresden (FR, 13. 6. 92) oder in Schwäbisch-Gmünd (FR, 4. 8. 92) oder in Augsburg (FR, 12. 11. 92) …“.9

Vielerorts attackierte die Polizei jene Menschen, die gekommen waren, um sich schützend und solidarisch vor die betroffenen Asylbewerber und Vertragsarbeiter zu stellen oder sich durch Demonstrationen zumindest mit ihnen zu solidarisieren. Das geschah so in Hoyerswerda, als ein Konvoi mit Antifaschisten von der Polizei stundenlang vor der Stadt aufgehalten und peinlichst genau durchsucht wurde. Das geschah dann später auch in der Stadt, als die Demonstranten von der Polizei mit Gewalt daran gehindert wurden, in die Nähe des Asylbewerberheims zu gelangen. Das war am 6. 6. 1992 in Mannheim so, als die Polizei mit unglaublicher Brutalität gegen eine genehmigte Demonstration von Antifaschisten vorging, die Teilnehmer durch die Stadt jagte und verprügelte, während vor dem Asylbewerberheim in Mannheim-Schönau ein rassistischer Bürgermob den 4. Tag in Folge sein Unwesen treiben durfte, unbehelligt und schön bewacht von der Polizei.

Und so geschah es auch in Rostock. Tagelang war es angeblich nicht möglich, mehr als 50 Polizisten in die Nähe des Sonnenblumenhauses zu bringen. Und als das Haus dann brannte, war sogar gar kein Polizist vor Ort. Anstatt aber mit ausreichenden Kräften dem Pogrom ein schnelles Ende zu setzen, kesselte die Polizei die Teilnehmer einer antifaschistischen Spontandemo ein, die zum Sonnenblumenhaus gezogen waren um sich schützend vor das Haus zu stellen, oder zumindest ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu bekunden. Und als eine Woche nach dem Pogrom in Rostock zu einer bundesweiten Demonstration 20.000 linke Aktivisten und Antifaschisten nach Rostock kamen, um Ihre Solidarität mit den Asylbewerbern und den vietnamesischen Vertragsarbeitern zu bekunden und dem

Lichtenhagener Rassistenmob ihre Ablehnung und Abscheu zu zeigen, brachten die Stadt Rostock und das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern Tausende Polizisten, Sondereinsatzkräfte, Hubschrauber, Wasserwerfer und Räumpanzer in Stellung. Ein Bus-Konvoi aus Berlin wurde stundenlang auf der Autobahn festgehalten und ein Bus-Konvoi aus Hamburg wurde sogar so lange vor der Stadt fest- gehalten, bis die Demonstration zu Ende war. Schon während der Tage des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen wurde ein Konvoi in Kiel auf dem Weg nach Rostock gestoppt und daran gehindert nach Rostock zu gelangen. Wer hier nicht Absicht und System erkennen kann, muss wahrlich mit Blindheit geschlagen sein. Wenn das dann so ist, und wir hier kei- ne unglückliche Verkettung von Zufällen, Pannen und menschlichem Versagen haben, sondern eben kalt kalkuliertes System, dann stellt sich aber die Frage: Wozu das alles?

Spätestens seit dem 6. 12. 1992 wurde diese Frage von den herrschenden deutschen Eliten, den Parteien und den so genannten Volksvertretern eindeutig beantwortet. Es ging einzig und allein um die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland.

Ein Grundrecht, das – in der alten Bundesrepublik Deutschland geschaffen – wie kein anderes die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit wach hal- ten sollte, an die Einzigartigkeit deutscher Verbrechen erinnern sollte und daraus, für viele jedoch nur widerwillig, eine Verpflichtung gemacht werden sollte. Über Jahrzehnte hinweg wurde dieses Grundrecht dann, ganz demokratisch, so lange eingeschränkt und ausgehöhlt, bis es nur noch als grobe Hülle dastand. 10

Und als dann, im neuen „vereinigten“ Deutschland das neue Ausländerrecht am 1.1.1992 und das neue Asylbeschleunigungsgesetzt ab 1. 7. 1992 in Kraft traten, waren von den Volksvertretern administrative sowie juristische Werkzeuge geschaffen worden, um dieses neue Deutschland de facto von ungewollten Flüchtlingen zu bereinigen. Denn 90 Prozent der bis dahin in Deutschland gemeldeten Flüchtlinge wurden dadurch nicht mehr als Asylsuchende anerkannt und der juristisch/administrative Grundstein für den so genannten Scheinasylanten war gelegt.11 Doch die Herrschenden und die Damen und Herren Volksvertreter wollten viel mehr. Sie wollten die völlige Abschaf- fung des Grundrechts auf Asyl und sie wollten dies ein für alle mal. Und sie woll- ten es so unumstößlich wie möglich und somit im Grundgesetz verankert wissen. Das Problem war jedoch, dass die dazu notwendige 2/3-Mehrheit nicht bestand. Das Problem hier war die SPD, die ihre Einwilligung bis dato verweigerte.

Was war also zu tun. Man entschied sich wieder einmal, an der deutschen Volksseele zu zündeln. Das Pogrom in Hoyerswerda war der Startschuss für eine zweijährige Propaganda-Kampagne, quer durch die Medien- und Parteienlandschaft. Und um so mehr Asylbewerberheime in den Fokus des rassistischen Bürgermobs und in das Visier von faschistischen Brandstiftern gerieten, um so mehr drängelten sich vermeidlich wichtige und unwichtige Politiker vor den Fenster der medial verwursteten und veröffentlichten Meinung. Und sie präsentierten völlig schamlos und ohne jedes Schuldbewusstsein ihre rassistischen Ergüsse. Was bundesdeutschen Politikern im Zusammenhang mit dem Thema Asylrecht einfiel, lies jeden humanistisch und antirassistisch eingestellten Menschen die Haare zu Berge stehen: Im September 1991 gab der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe ein Rundschreiben an alle Kommunalpolitiker

seiner Partei in Auftrag, die Asylpolitik zum Thema zu machen. Dazu verschickte er standardisierte Argumentationsleitfäden, Parlamentsanträge, Musteranfragen und Presseerklärungen. Unter anderem sollten Fälle herausgestellt werden, „… in denen Asylbewerber staatliche Leistungen unberechtigterweise mehrfach in Anspruch genommen haben …“.12 „… Das Asylrecht lebt davon, dass es nicht in Anspruch genommen wird …“ (ehemaliger Berliner Senatsdirektors Conen in der Frankfurter Rundschau) „… Am Ende fürchte ich, wenn die Bevölkerung sieht, dass wir das Gesamtprob- lem Zuwanderung auf diesem Kontinent nicht lösen, dann wird unser Volk auf die Idee kommen können, andere mit dieser Aufgabe zu betrauen. …“ (Björn Engholm, SPD in der Frankfurter Rundschau vom 24. 10. 1992 )13

„… Freiheit bedeutet doch nicht, dass 600 Millionen Menschen frei entscheiden können, wo sie leben wollen … wir können … nicht das ganze christliche Prinzip anwenden: macht hoch die Tür, die Tür macht weit, für alle dieser Welt. Das geht nicht …“ (Björn Engholm, SPD)

„… Der Zustrom von Menschen aus den Entwicklungsländern muss im Interesse der Ausländer selbst wie auch des sozialen Friedens eingedämmt werden… Lassen Sie die Arbeitslosenzahlen noch etwas steigen: das gibt Klassenhass. …“ (Lothar Späth, Süddeutsche Zeitung)14

„… Bei den einreisenden Ghanesen überwiegen nach Meinung von Fachleuten Zu- hälter mit ihren Dirnen...“ (Gerhard Bloehmecke, CDU)15

„… Wir haben ein Asylrecht, da kann die ganze Rote Armee kommen und das KGB dazu. Wenn die an unserer Grenze nur das Wort ̧Asyl‘ sagen, können wir sie nicht zurückschicken! …“ (Heinrich Lummer, CDU)16

„… Der Unmut bei den Menschen ist riesig. Glauben Sie denn, dass die ruhig hin- nehmen werden, wenn Millionen Ausländer ungeordnet in unser Land fluten? …“ (Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter, SPD, Der Spiegel, 7. 9. 1992) Wenige Tage nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zog der damals amtierende Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) folgenden Schluss: „… Die Ereignisse der letzten Tage machen deutlich, dass eine Grundgesetzänderung dringend notwendig ist. …“

Bundeskanzler Helmut Kohl warnte im Oktober 1992 gar vor einem Staatsnot- stand. 17
„… Kein Volk kann aber eine drohende Überfremdung widerstandslos hinnehmen, will es sich nicht selbst aufgeben …“, (Manfred Kanther CDU, drei Tage nach den Morden von Solingen. Kurze Zeit später wird Kanther zum Bundesinnenminister ernannt, Frankfurter Rundschau, 2. 6. 1993).

Die Rolle der Medien

Die Medien, vor allem die Springer-Zeitungen Bild und Welt am Sonntag, unterstützten die Kampagne der Union. Sie verbreiteten eine panikartige Stimmung und trugen maßgeblich zu der Schärfe und der Polemik der Asyldebatte bei. Bei- de Zeitungen vertraten die grundsätzliche These, bei den Asylbewerbern handelte es sich überwiegend um Schwindler und Betrüger, die in der Bundesrepublik vor allem in den Genuss von Sozialleistun- gen kommen wollten. So schrieb Ulrich Reitz in der Welt, bei Asylbewerbern in Deutschland handelte es sich zu „mehr als 90 Prozent um Schwindler“. Mit reißerisch aufgemachten Serien berichtete die Bild-Zeitung von angeblichen Fällen von Asylbetrug. Asylbewerber, die aus Furcht vor rassistischen Angriffen aus Ost- nach Westdeutschland flüchteten, denunzierte die Bild-Zeitung als Wirtschaftsflüchtlinge, die es sich in Westdeutschland bequem machen wollten. „…Für wie dumm hält man die Deutschen eigentlich? …“ Und Bild wurde nicht müde hervorzuheben, dass „… die als Asylbewerber ‚verkleideten‘ Wirtschaftsflüchtlinge …“ den Steuerzahler pro Jahr mehr als drei Milliarden Mark kosten würden.

Zwischen Juni 1991 und Juli 1993 wurde das Thema Asyl und Ausländer in Umfragen als das dringendste Problem ange- geben. Im September 1991 veranstaltet die Bild-Zeitung eine Umfrage unter ihren Lesern: „… Sensationelle Umfrage. Asyl: Grundgesetz ändern! 98 % dafür …“. Tatsächlich ergaben in dieser Zeit durch- geführte repräsentative Umfragen, dass 55 Prozent der Deutschen das Asylrecht einschränken wollten, aber auch 41 Prozent dagegen waren.

Immer häufiger ließ die Springer-Presse Intellektuelle zu Wort kommen, die offen Stimmung für die Änderung des Asylgesetzes machten. Zum Beispiel erklärte der Historiker Golo Mann in einem Interview mit der Welt im Oktober 1991, also kurz nach dem Pogrom in Hoyerswerda: „Bei weitem das beste wäre es, die Grenzen derart zu schützen, dass sie gar nicht erst kommen können. Die Grenzen dicht- machen, das wäre die beste Lösung. Man sollte den Abgewiesenen ein Paket für den Rückweg mitgeben. So würden beiden Seiten Gewalttätigkeiten erspart bleiben … Deshalb wäre es das Beste, diese unglücklichen Leute so bald und so freundlich wie möglich hinauszubefördern, dorthin, wo sie hergekommen sind.“ Der bekannte Publizist und Politikwissenschaftler Arnulf Baring forderte in der Bild- Zeitung die sofortige Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Und er begründete dies damit, „dass unsere gutmütige Sozialgesetzgebung zum Magneten geworden ist, der die Armen des ganzen Erdballs anzieht“, deshalb dürfte „… selbst die Asylgewährung nicht das Recht auf eine Sozialhilfe einschließen, wie sie Deutschen zusteht …“.18

Und so wurde zwei Jahre lang politisch und medial Handlungsbedarf eingefordert, sowie staatliche Handlungsunfähigkeit suggeriert. Als einziger „humanitärer Aus- weg“ aus der „rassistischen Handlung von Unten“, wurde der Öffentlichkeit ein von oben gelenktes Gesetzverfahren vorgegaukelt. Zwei Jahre wurde so getan als sei die Polizei überfordert, gegen einen entfesselten rassistischen Bürger-Nazi-Mob vorzugehen. Etwas, dass ihr in all den Jahrzehnten der Bundesrepublik stets blendend gelang, wenn es darum ging Widerstand zu zerschlagen, der von Links kam. Ob in Brokdorf, Wackersdorf, Gorleben, der Hamburger Hafenstraße oder wie im November 1990 in der Ostberliner Mainzer Straße, wo eben mal in zwei Tagen aus ganz Deutschland 4.000 kampferprobte Polizisten und diverses schweres Gerät zusammen gezogen wurden, um 500 Verteidiger der 14 besetzten Häuser in die Knie zu zwingen.

Am 8.11.1992 rief die deutsche Herrschaftselite ihr Volk nach Berlin. Unter dem Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ findet eine mit großem Auf- wand inszenierte und medial durchorganisierte Lichterketten-Scharade statt. Das herbeigerufene Wahlvolk demonstrierte dann, gemeinsam mit den Politikern, dass so etwas wie Hoyerswerda und Rostock nie wieder geschehen dürfe, und dass es deshalb nun endlich ein rechtsstaatlich geordnetes Asylverfahren geben müsse. Weitere Lichterketten in anderen Städten des Landes folgten.

Zu diesem Zeitpunkt war der letzte Widerstand der SPD schon längst gebrochen. Denn auf ihrem Petersberger Parteitag hatten die Delegierten der SPD mehrheitlich beschlossen, der Änderung des Grundgesetzes und damit der de facto

Abschaffung des Artikels 16.2 des Grundgesetzes zuzustimmen. Und als die mediale PR-Show in Form von Lichterketten begann, war die Abschaffung des Rechts auf Asyl in Deutschland bereits beschlossene Sache.

Der Esel hat seine Schuldigkeit getan, der Esel wird zum Schlachthaus geführt!

Am 22. 11. 1992 wurde ein Brandanschlag auf ein Haus in Mölln verübt. Bei diesem Anschlag starben drei Türkinnen. Einer extra eingerichteten Sonderkommission gelang in kürzester Zeit das, was vorher jahrzehntelang als nicht möglich hingestellt wurde. Sie ermittelte sofort und ausschließlich in Richtung Rechtsextremismus. Und schon nach wenigen Tagen machte sie Mitglieder einer rechtsextremen Gruppe für den Anschlag verantwortlich. Es folgte eine Welle von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen im rechten Lager. Bereits fünf Tage nach dem Brandanschlag wurden die faschistischen Organisationen Nationalistische Front, Deutsche Alternative und Nationale Offen- sive, medial gut aufbereitet, verboten.

Und somit konnte der Rechtsstaat den Schein wahren und die Demokratie wieder einmal ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis stellen. Das Signal kam an. Die Geister die ich rief, brauch ich nun nicht mehr. Ich bin der wahre Zauberer und kein Lehrling. Ich werd sie nun auch wieder los. Besen, Besen, seis gewesen, hex hex. Ab 1993 fanden deutlich weniger Übergriffe auf Asylbewerberheime statt. Pogrome gab es keine mehr. Mit Änderung des Artikels 16,2 des Grundgesetzes konnte der deutsche Staat Flüchtlinge in so genannte sichere Drittstaaten und Nichtverfolgungs- länder abschieben. Die Selektion erfolgte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wer wirtschaftlich verwertbar war, konnte kommen und bleiben. Die Hunderttausenden, die das nicht waren und sind, wurden und werden kurzerhand aus dem Land geworfen.

Autonome Antifa vs. Antifaschistisches Bündnis

Spätestens nach Rostock-Lichtenhagen stand die Antifa zunächst hilf- und konzeptlos an den Brandstellen der neuen deutschen Geschichte. All die antifaschistische Feuerwehrpolitik, die Mahnwachen, Demonstrationen, Protestaktionen, all die direkten Auseinandersetzungen mit Neonazis hatten wenig bewirkt, denn die Flüchtlingsheime brannten weiter. Und nicht nur im Osten.

Die klassische Herangehensweise antifaschistischer Politik stieß in Rostock mit voller Wucht an ihre Grenzen. Der Glaube an die Rolle der Antifa als alleiniges Boll- werk gegen die faschistische Gefahr in Deutschland war zutiefst erschüttert. Rings um das Pogrom waren zwar diverse antifaschistische „Sport-Combos“ unterwegs und versuchten im Umfeld des Pogroms Nazis auszuschalten. Doch diese militanten Aktionen konnten die Pogrome nicht be- bzw. verhindern. Sie dienten lediglich zur Befriedigung einer eigenen, ganz persönlichen, und doch ausgesprochen hilflosen Wut. Sie waren letztendlich nur Ausdruck der unglaublichen Ohnmacht.

Als Schlussfolgerung aus der Welle rassistischer Pogrome und Mordanschläge war ein politisches Umdenken erforderlich. Nach einer Phase der politischen Lähmung begannen erste Versuche, die bisherigen politischen Nischen bewusst zu verlassen. Um politisch wirkungsvoller agieren zu können wurden in den Folge- jahren neue Ansätze probiert. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern wurde zunehmend auf eine breite Bündnisarbeit und eine bessere Zusammenarbeit, vor allem mit antirassistischen Gruppen, gesetzt. Antirassistische Überfalltelefone gab es in Großstädten wie Berlin bereits.

In anderen Orten wurden Telefonketten eingerichtet und Schutz für ein örtliches Flüchtlingsheim organisiert. Gemeinsam mit Kirchengemeinden wurden Veranstaltungen durchgeführt. Als Reaktion auf die Welle rechter Gewalt gründeten sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erste Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt.

Dass erfolgreiche Antifa-Arbeit eine gute Bündnis-Arbeit beinhaltet, ist jedoch keine Erkenntnis, die erst durch Rostock-Lichtenhagen entstand. Bereits 1988 bildete sich in Westberlin ein Bündnis aus Antifa-Gruppen, Gewerkschaftern von IG Metall und IG Druck & Papier, Jusos und Falken sowie Parteien, wie der „Sozialistische Einheitspartei Westberlin“ (SEW)19 und der „Alternative Liste“ (AL)20. Gemeinsames erklärtes Ziel war die Bekämpfung der Berliner Neonazistrukturen sowie die Verhinderung eines Wahlerfolgs der Republikaner (REP)21, bei den Berliner Abgeordnetenhaus-Wahlen 1989.

Interessanterweise zogen sie sich damit sehr schnell das Misstrauen und die Ablehnung der Westberliner Autonomen zu. Diese unterstellten der Antifa, neben dem Vorwurf des Macker-Gehabes, dass sie sich revisionistisch verhalte und, in Bezug auf Gewerkschaft und AL, mit Trägern der herrschenden Verhältnisse paktiere. Was die SEW betraf, bestand hier der allerdings nicht ganz ungerechtfertigte Vorwurf, dass man eine Partei unterstütze, die am Futtertrog und politischen Gängelband der DDR hinge und ausschließlich zur Rechtfertigung der Machtverhältnisse in der DDR agiere. Zuletzt bestand in den Kreisen der Autonomen, genährt durch die vermeintlichen Erfolge in den 1. Mai-Tagen 1987 und 1988 sowie durch Anti-IWF-Aktionen im Herbst 1988, eine extrem überhöhte Selbstüberschätzung der eigenen Stärke und der Möglichkeiten, den BRD-Staat tatsächlich entscheidend angreifen zu können. Aus diesem Fehlurteil resultierte dann auch, dass zum Beispiel das Problem des Neofaschismus und des staatlich sanktionierten und geförderten Rassismus in der Bevölkerung als Nebenwiderspruch abgetan wurde, der mit dem erfolgreichen Sieg der kommenden Revolution und der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse in der BRD quasi von selbst beseitigt werde.

Das Westberliner Antifa-Bündnis brach schon 1989 wieder auseinander. Zu groß war das Misstrauen untereinander, zu gegensätzlich die jeweiligen Interessen, zu groß war auch das Bedürfnis, das Bündnis für eigenen Interessen zu nutzen. Zu gering war hingegen die Bereitschaft aller, die eigenen politischen Ziele hinten an zu stellen und sich vorrangig der gemeinsamen Sache zu widmen. Zuletzt war die Enttäuschung darüber, dass der Einzug faschistischer Republikaner in den Berliner Senat nicht verhindert werden konnte, bei vielen zu groß.

In den späten 1990er Jahren, auch genährt durch die Erfahrungen der Pogrome von Hoyerswerda, Mannheim und Rostock-Lichtenhagen, griffen ostdeutsche Antifa-Aktivisten die Idee der gesamtgesellschaftlichen, organisationsübergreifenden Antifa-Arbeit erneut auf. Dass sich heute immer mehr Menschen offen und entschlossen Aufmärschen der extremen Rechten entgegenstellen, ist vielleicht ein Ergebnis dieses Lernprozesses. Das lässt hoffen. Eine Hoffnung, von der vor 20 Jahren, in Rostock-Lichtenhagen niemand zu träumen gewagt hätte.

Ist Rostock-Lichtenhagen heute noch denkbar?


Leider ist das nicht nur denkbar, sondern auch sehr wahrscheinlich. Nur weil die Herrschenden aktuell kein Bedarf an Pogromen haben, ist das Potential nach wie vor vorhanden. Das zeigen auch die jüngsten unguten Nachrichten aus Wolgast (Mecklenburg-Vorpommern) ganz deutlich22.

Und das ist ja nur logisch. Die Menschen, die sich damals in Hoyerswerda, Mann- heim-Schönau und in Rostock-Lichtenhagen rassistisch ausgetobt haben, sind ja nicht plötzlich verschwunden. Und westdeutsche Vorstädte wie Mannheim-Schönau zeigen beispielhaft, dass Rassismus und Ausländerfeindlichkeit auch kein Privileg von bildungsfernen, demokratiefeind- lichen Unterschichten in ostdeutschen Neubaughettos ist.

Eine der schlimmsten und aggressivsten Neonaziszene agiert aktuell in Dortmund. Bei der Bundestagswahl 2009 stimmten, abgesehen von Sachsen und Sachsen- Anhalt, in allen anderen Bundesländern durchschnittlich genau so viele Menschen für die NPD. Und aktuelle Studien belegen, dass der Antisemitismus im Westen heute genau so groß ist wie im Osten. Dass sich Rassismus zu jeder Zeit politisch nutzbar machen lässt, bewies seinerzeit auch der CDU-Politiker Roland Koch. Im hessischen Landtagswahlkampf 1999 witterten Roland Koch und die hessische CDU ihre Chance und brachten eine rassistische Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vom Zaun. Das gemeine Stimmvolk unterschrieb massenhaft und machte Roland Koch zum neuen Ministerpräsidenten von Hessen.

Wenn die Herrschenden in diesem Land erneut der Meinung sind, dass das rassistische, ausländerfeindliche Potential des Volkes für die Durchsetzung von konkreten Zielen hilfreich und notwendig ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie dieses Potential erneut nutzen werden. Allerdings bleibt zu hoffen, dass die Zahl derer, die sich dem dann entschlossen entgegenstellen, deutlich höher sein wird als in den Jahren 1991/92. Das wäre dann tatsächlich ein „Aufstand der Anständigen“.

1 Wolf Wetzel: Die Abschaffung des Asylrechts 1993 – ein Rückblick, in: wolfwetzel.wordpress.com.
2 Lichterketten und andere Irrlichter – Texte gegen finstere Zeiten, autonome l.u.p.u.s. Gruppe, Edition ID-Archiv, Berlin/Amsterdam 1994, Ein ganz gewöhnlicher Fahrplan Richtung Pogrom, S. 86-102; http://wolfwetzel.wordpress.com/2007/08/01/fahrplan-richtung-pogrom-zum-beispiel- mannheim-schonau-1992/.

3 Ebenda
4 Ebenda
5 Ebenda
6 Ebenda
7 Ebenda
8 Ebenda
9 Lichterketten und andere Irrlichter, Texte gegen finstere Zeiten, in: Edition ID-Archiv, S. 22.

10 Dem Sinn nach aus „Lichterketten und andere Irrlichter, Texte gegen finstere Zeiten“, Edition ID-Archiv, S. 16.
11 Ebenda
12 Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. München 2001, S. 300.

13 Björn Engholm war von 1981 bis 1982 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1982 auch Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forst. In der Zeit von 1988 bis 1993 amtierte er als Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein . Von 1991 bis 1993 war er Bundesvorsitzender der SPD und bis zu seinem Rücktritt von allen Ämtern der designierte Kanzlerkandidat der SPD. Quelle: Wikipedia.

14 Lothar Späth, von 1978 bis 1991 war er Ministerpräsident von Baden-Würtemberg. 1991 bis 2003 Geschäftsführer der Jenoptik GmbH in Jena; Quelle: Wikipedia.
15 Gerhard Bloemecke, von 1971 bis 1984 sowie von 1994 bis 1996 gehörte er dem Gemeinderat von Mannheim an. Bei der zweiten Periode war er auch Vorsitzender der CDU- Fraktion. 1984 wurde er in den Landtag von Baden-Württemberg gewählt, dem er vier Legislaturperioden bis 2001 angehörte. Quelle: Wikipedia.

16 Heinrich Lummer war von 1981 bis 1986 Senator des Innern und Bürgermeister (Stellvertreter des Regierenden Bürgermeister) von Westberlin; Quelle: Wikipedia.
17 Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. München 2001, S. 316.

18 Abschnitt zur Rolle der Medien, zitiert nach: Wikipedia: Asyldebatte, http://de.wikipedia.org/wiki/Asyldebatte#cite_ref-46.
19 Die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) war eine mit der DKP und SEW eng verbundene und von der SED angeleitete kommunistische Partei in Westberlin. Sie ging aus den Kreisorganisationen der SED in den zwölf westlichen Bezirken Berlins hervor, die 1959 eine eigene einheitliche Leitung erhielten. Im Herbst 1989 benannte sich die SEW in Sozialistische Initiative um und löste sich 1991 ganz auf.

20 Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) wurde am 5. Oktober 1978 in Westberlin gegründet. Sie war eine selbstständige Partei, die ab 1980 die Aufgaben eines Landesverbandes der Grünen wahrnahm. Sie schloss sich am 14. Mai 1993 mit der Ostberliner Verband von Bündnis 90 zum Landesverband Bündnis90/Die Grünen zusammen. Der Kreisverband Spandau heißt allerdings weiter Alternative Liste Spandau.

21 Die Republikaner (REP), die 1983 gegründet wurden, rückten ab 1985 – angeführt von Franz Schönhuber – nach dem Vorbild des „Front National“ weiter nach rechts. Durch ihre Kernthemen, wie z. B. das Festhalten und offene Propa- gieren der Einheit Deutschlands und die ausländerfeindliche Forderung, nach einem konsequenten Einwanderungsstopp, erzielte die Partei erste Wahlerfolge und zog in einzelne Stadt- uns Landesparlamente, wie z. B. Köln, Berlin, sowie ins Europaparlament ein. Allerdings konnte sie diese Erfolge dort nicht wiederholen. Von 1992 bis 2001 waren die REP im Landtag von Baden-Württemberg vertreten. Durch den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten 1990 und die gesetzliche Abschaffung des Rechts auf Asyl in Deutschland, gelang es den regierenden Parteien CDU/CSU/FDP, wichtige Kernthemen der REPs in die eigene Politik zu integrieren und damit Stammwählerschaft von den Republikanern zurück zu gewinnen. Die REPs gerieten, Anfang der 1990er Jahre, thematisch zunehmend ins Hintertreffen und verschwanden politisch in die Bedeutungslosigkeit.

22 Das NDR-Magazin »Panorama 3« berichtete im September über die Zustände in und um ein Flüchtlingsheim in der Plattenbausiedlung Wolgast-Nord (Mecklenburg-Vorpommern). Vor laufender Kamera äußerten sich Anwohner extrem rassistisch und drohten, das Flüchtlingsheim zu stürmen und anzuzünden.

Dietmar Wolf ist Redakteur der Zeitschrift telegraph.

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