Ein Interview mit Wolfgang Kaleck über Doppelstandards bei der Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen und juristische Bemühungen als Teil politischer und sozialer Kämpfe.
aus telegraph #125|126
telegraph: Wolfgang Kaleck, als Menschenrechtsanwalt sorgten sie in den vergangenen Jahren durch juristische Aktionen immer wieder für Aufsehen. Seit 1998 arbeiten sie daran, argentinische Militärs in Deutschland wegen der Ermordung und Folterung Deutscher Opfer der dortigen Militärdiktatur (1976–1983) strafverfolgen zu lassen und stellten Strafanzeige gegen Mercedes- Benz Argentina wegen Beihilfe zur Ermordung eines Gewerkschafters. 2006 zeigten sie u.a. den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den Ex-CIA-Chef George Tenet wegen Kriegsverbrechen und Folter in Abu Ghraib und Guantánamo an. Vor Kurzem reichten sie Strafanzeige gegen den Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé ein. Herr Kaleck, worum geht es in ihrem neuen Fall?
Wolfgang Kaleck: Wir wollen nicht nur staatliche Akteure, sondern auch Wirtschaftsunternehmen zur Verantwortung ziehen lassen, wenn diese von Diktaturen und Kriegen profitieren und in Straftaten wie Folter oder extralegale Tötungen involviert sind. Nestle hat viele Jahre über eine kolumbianische Tochter in einer von den Paramilitärs beherrschten Region Milch produzieren lassen und die Konzernzentrale hat trotz massiver Bedrohungen die Gewerkschafter nicht ausreichend geschützt. Dies ist nach unserer Auffassung ein strafbares Unterlassen – wer sich in Kriegsregionen mit Menschenrechtsverletzern verbündet, trägt Verantwortung für die eigenen Arbeiter und erst recht für die Gewerkschafter.
telegraph: Sie kämpfen seit Jahren mit Hilfe des Völkerstrafrechts für Menschenrechte, versuchen mutmaßliche Menschenrechtsverletzter aus der ganzen Welt für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen, überwiegend vor westlichen, auch vor deutschen Gerichten. Wie funktioniert so etwas konkret?
Wolfgang Kaleck: Wir arbeiten weltweit mit Anwältinnen und Anwälten, Menschenrechtorganisationen und sozialen Bewegungen zusammen. In den Fällen, in denen wir als deutsche und europäische Organisation etwas zu den jeweiligen Kämpfen um Gerechtigkeit beitragen können, in denen unser Tätigwerden gerade aus Sicht der Betroffenen Sinn ergibt und unsere Ressourcen ausreichen, werden wir aktiv. Übrigens geht es nicht nur um Strafrecht, wir nutzen die unterschiedlichsten juristischen Mittel wie Zivilrecht, Verbraucherschutzrecht oder UN-Mechanismen.
telegraph: In ihrem neuen Buch „Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht“ beklagen sie Doppelstandards bei der Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen, das Völkerstrafrecht sei politisch selektiv. Können sie uns das näher erklären?
Wolfgang Kaleck: Eine Bestandsaufnahme des internationalen Strafrechts fällt derzeit ambivalent aus: Einerseits stehen Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen wesentlich mehr Mittel zur Verfügung als noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Allerdings stoßen wir und andere immer wieder auf massive politische Hindernisse. Gerade dort, wo es um Mächtige geht, wo wirtschaftliche und politische Interessen gefährdet werden können, machen Strafverfolgungsbehörden Rückzieher. Aber das haben juristische wie politische Kämpfe eben an sich: sie dauern und geschenkt bekommt man nichts.
telegraph: War nicht bereits mit Beginn der Geschichte des Völkerstrafrechts in Nürnberg eine gewisse politische Selektivität zu verzeichnen? Kurz nach den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi-Kriegsverbrecher begann ja der Kalten Krieg. Viele durch die Alliierten verurteilte Verbrecher kamen damals in Westdeutschland schnell wieder aus der Haft, da man sie, als bewehrte Antikommunisten, gut in Armee, Polizei, Geheimdiensten, Justiz oder Wirtschaft gebrauchen konnte.
Wolfgang Kaleck: Die Nürnberger Prozesse waren – übrigens anders als die Tokioter – eine vergleichsweise faire Angelegenheit, auch wenn die Siegermächte gegen Angehörige der Besiegten urteilten. Zudem richteten sich der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die zwölf Nachfolgeverfahren gegen einen wichtigen Teil der deutschen Eliten in Staat, Partei, SS, Wehrmacht, Juristenschaft und Wirtschaft. Leider wurde dieses ambitionierte Strafverfolgungsprogramm abgebrochen, als Westdeutschland als Frontstaat im Kalten Krieg benötigt wurde und die Deutschen haben wieder einmal nachgewiesen, dass man die Verfolgung von Systemunrecht nicht alleine den Täterstaaten überlassen darf.
telegraph: Im Kampf um Demokratie und Menschenrechte trifft man häufig auf Akteure, die ganz eigene, spezielle Interessen verfolgen. Angefangen vom kleinen Antisemiten, der die verletzten Menschenrechte der Palästinenser beklagt, bis zu menschenrechtlichen „Musterstaaten“ wie die Türkei, Saudi-Arabien und Katar, die syrische Rebellen im Kampf für „Demokratie und Menschenrechte“ unterstützen. Regierungsfinanzierte westliche Stiftungen wie zum Beispiel die National Endowment for Democracy (NED) und so genannte NGO’s unterstützen oppositionelle Gruppen in osteuropäischen Ländern, aber auch kubanische oder venezuelanische Oppositionsgruppen. Von linken Kritikern wird daher oft die Instrumentalisierung der Menschenrechte beklagt. Menschenrechtspolitik wäre heutzutage Geopolitik und trete häufig im Verbund geostrategischer Interessen und humanitärer Intervention in Erscheinung. Hat man im Kampf um Menschenrechte nicht auch leicht die falschen Freunde? Wie Finanziert sich heute Menschenrechtsarbeit?
Wolfgang Kaleck: Naja, so ist das halt im politischen Kampf, dass sich die Vertreter verschiedenster Interessen aller möglichen Mittel bedienen, so eben auch der rechtlichen und der diskursiven. Aber geben wir deshalb den Gebrauch von Begriffen wie Freiheit oder Demokratie auf, weil sie heute jeder intelligente Diktator verwendet? Nein, wir versuchen, auch im Kampf um Begriffe unsere Positionen durchzusetzen. Deswegen gilt es sowohl um den Begriff als auch um den progressiven und subversiven Gehalt der Menschenrechte zu kämpfen – und nicht zu lamentieren, dass sie wie andere gekapert werden. Natürlich muss man aufpassen, dass die eigenen Bemühungen nicht instrumentalisiert werden und diejenigen zu entlarven, die mit einer versteckten Agenda arbeiten. Ich freue mich immer, wenn unsympathische Zeitgenossen mit rechtlichen Regeln wie dem Folterverbot argumentieren – damit stärken sie diese Regel und die Aussicht darauf, dass es sie irgendwann einmal selber trifft.
telegraph: Von 1051 Strafanzeigen wegen Völkerstraftaten in sechs westeuropäischen Ländern mündeten gerade 32 in Gerichtsverhandlungen. In den 10 Jahren seiner Existenz hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag erst einen einzigen Angeklagten verurteilt, wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten im Kongo. Pinochet starb, bevor er wegen der Verbrechen während der Militärdiktatur verurteilt werden konnte, Rumsfeld und Tenet laufen immer noch frei herum, Haftbefehle gegen einige in das weltweite CIAEntführungsprogramm von Terrorismusverdächtigen verwickelte Agenten wurden zwar ausgestellt, aber keine Regierung beantragt ihre Auslieferung. Ist das eine gute Zwischenbilanz?
Wolfgang Kaleck: Natürlich keine gute Zwischenbilanz, aber wo auf der Welt sieht es denn gerade gut aus? Das ist doch kein Grund, alle Aktivitäten einzustellen und die Schlechtigkeit der Welt zu beklagen. Seit der Pinochet-Verhaftung in London 1998 haben viele Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen das Recht gerade im globalen Süden als eine wichtige Ebene der Auseinandersetzung erkannt. Und es hat seitdem signifikante Fortschritte gegeben, auch wenn das alles nicht ausreicht und nicht schnell genug geht – aber auch das unterscheidet die rechtlichen kaum von anderen Aktivitäten. Es gilt allerdings die Beschränkungen des Rechts zu beachten, die juristischen Bemühungen als einen Teil wesentlicher umfassenderer politischer und sozialer Kämpfe zu verstehen.
telegraph: Vielen Dank für das Gespräch. Wolfgang Kaleck ist Strafverteidiger und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. Sein Buch „Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht Politik.“ ist 2012 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen.
Das Interview für den telegraph führte Andreas Schreier.
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