Der vielleicht beste Beitrag zur Historisierung der „68er“ liegt inzwischen als Sammlung hochdifferenzierter Analysen zu fast allen Aspekten dieser antiautoritären Revolte vor. Deutlich wird vor allem die Fülle der auch aus heutiger Sicht uneingelösten Ziele dieses kurzen Einbruchs von Utopie in die Normalität von Herrschaft in Ost und West.
Von Thomas Klein
aus telegraph #127|128
befasste sich 2008 mit den europäischen Protestbewegungen der „1968er Jahre“. Der nun vorliegende Konferenzband dokumentiert nicht allein verschiedene Sichtweisen auf jene vergangene Strömung, sondern reflektiert ebenso mit Berufung auf eine schöne Denkfigur Walter Benjamins die Umrisse des zeitgenössischen „Bild[s] der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als mit ihm gemein erkannte.“ (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, V. These). Zeitgenössische Geschichtsbilder von den „68ern“ alternieren heute zwischen der Wiederaufnahme der schon überwunden geglaubten dämonisierenden These von der Revolte als politische Gewaltpsychose und dem Fortschreiben des eingebürgerten moderaten Begriffs von der (damals) „Neuen Linken“ als „kulturalistischer Hefe“ einer „zivilgesellschaftlichen Neugründung“ der BRD.. Sowohl die vehemente politische Ablehnung als auch die integrierend-entschärfende kulturalistische Anerkennung der „68er“ basieren auf einer zweifelhaften Trennung von Politik und Kultur, worauf die Herausgeber in ihrem Vorwort ebenso unmissverständlich wie kritisch hinweisen. Die Autoren der Beiträge des vorliegenden Tagungsbandes entwerfen dagegen ein Bild von den sozialen Kämpfen jener Zeit, die mögliche Alternativen zu den knechtenden Verhältnissen kapitalistischer und staatssozialistischer Vergesellschaftung aufscheinen ließen. Heute scheint die damals fast tagesaktuelle Hoffnung, dass eine andere Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung möglich sei, mit dem weltweiten Sieg eines sich immer zügelloser entfaltenden globalisierten Kapitalismus ferner denn je. Umso mehr überrascht die Vehemenz, mit der die Produzenten heute herrschender Geschichtsbilder diese „Erinnerung an die Zukunft“, diese vergangene Revolte gegen den Normalzustand, diese Respektlosigkeit gegenüber allen saturierten Autoritäten attackieren. In der Furcht der Herrschenden vor den Spuren vergangener Revolten im Jetzt spiegelt sich eben immer auch ihre Angst vor dem Heraufziehen neuer künftiger Revolten. So erweisen sich denunzierende Geschichtsbilder vergangener gescheiterter Aufstände als ideologische Prävention angesichts schon wieder anwachsender aktueller Empörung, damit diese nicht erneut in einen Aufstand übergeht.
Die Herausgeber verweisen auf ihre Absicht, mit den vorgelegten Arbeiten „Bodenproben auf dem … Terrain der Revolte“ zu nehmen, welche die Vielschichtigkeit der freigesetzten, halb verborgenen und undeutlich sichtbaren Widersprüche (S. 11 unter Hinweis auf Lutz Schulenburg) veranschaulichen sollen. Und der Leser darf sich tatsächlich auf „gute Geschichten“ inmitten dieses unübersichtlichen Terrains einer für die junge Generation mehr und mehr im Dunkel der Geschichte verschwindenden überaus spannenden Periode der „langen 60er Jahre“ freuen.
Angelika Ebbinghaus versucht mit ihrem einführenden Beitrag einen Blick auf „1968 als globales Ereignis“ zu eröffnen und dabei die Gesamtheit des historischen Inventars zu umreißen. Davon ausgehend findet sie inmitten der Vielgestaltigkeit und Uneinheitlichkeit des weltweiten Protests einige seiner strukturellen Ursachen: Ausgangs der weltweiten Prosperität in den industriellen westlichen Nachkriegsgesellschaften empörten sich vielerorts die ArbeiterInnen gemeinsam mit den Studierenden, Schülern und Intellektuellen gegen die kommandierenden Hierarchien in Fabrik und Universität. Hier korrespondierte die Bildungskrise unter den Bedingungen einer überkommenen konservativ verfassten Ordinarienuniversität mit dem Ende des wirtschaftlichen Nachkriegsaufschwungs. Die Folge war eine Politisierung von Streikkämpfen der Arbeiterschaft und Versuche der Studenten, in den Universitäten nicht bloß mitzubestimmen, sondern sie zu erobern. Angelika Ebbinghaus sieht in dem übergreifenden Anspruch der „68er“, mit der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch sich selbst zu verändern – also ihre individuelle Emanzipation als Element der angestrebten allgemeinen Selbstbefreiung zu begreifen – ein zentrales Charakteristikum dieser Strömung. Die „Neue Linke“ war damit wenigstens in ihrem Denken wirklich radikal. Sie unterschied sich so auch signifikant von dem bis dato bekannten traditionellen linken Strömungen und besonders von ihren parteikommunistischen Repräsentanten. Gleichzeitig sieht Ebbinghaus im (neuerlichen) Auseinanderfallen der Momente individueller und gesellschaftlicher Emanzipation auch die Ursache des Scheiterns der „68er“. Ihre Erben sind (in einem sehr eingeschränkten Sinne) die „Neuen Sozialen Bewegungen“ seit den 70er Jahren: Längst nicht mehr so radikal, universell und politisch wie die „68er“ ist in ihnen doch noch ihr rebellischer und antiautoritärer Geist lebendig.
Juliane Schumacher und Armin Kuhn verhelfen mit ihrem Blick auf das Mexiko des Jahres 1968 dem Leser nicht allein zum genaueren Verständnis der dortigen Revolte, sondern auch zur Einsicht in die besonderen Probleme einer Historisierung der mexikanischen Proteste. Und auch diese beiden Autoren wenden sich vehement gegen die „moderne“ entpolitisierende Vereinseitigung der Revolte als „kulturalistisches“ Ereignis.
Das staatliche Vorgehen gegen die jugoslawischen Studentenproteste vom Juni 1968 kontextualisiert Boris Kanzleiter mit der dortigen Wiederauferstehung eines neuen parteikommunistischen Autoritarismus ab Beginn der 70er Jahre, womit die jugoslawische Liberalisierung der 60er Jahre ihr Ende fand. Besonders aufschlussreich ist Kanzleiters Hinweis auf die angewandte Herrschaftstechnik des Parteiapparates, welcher hinter dem Nebelvorhang einer vermeintlichen Anerkennung der antibürokratischen und auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit zielenden Forderungen der Studenten deren polizeiliche Verfolgung intensivierte. Der Intellektuellenkreis um die Zeitschrift „Praxis“ hatte zuvor die Gewinn- und Marktorientierung der jugoslawischen Reformen kritisiert, welche einen geistigen Pauperismus und die soziale Ungleichheit kapitalistischer Prägung perpetuierten und auf solche Weise die parteibürokratische Herrschaft begünstigen würden.
Christian Frings stellt in seinem Aufsatz das Forschungsprojekt der „World Labor Research Group“ vor, welches einen Beitrag zur Präzisierung von „1968“ als globales Ereignis verspricht. Theoriegeschichtlich sind unter anderem die Hinweise des Projekts auf die in dieser Zeit beginnende „Wiederentdeckung der Dialektik“ bedeutsam, wodurch klar wird, wie wenig der in den staatssozialistischen Despotien installierte mechanistisch verkümmerte „Diamant“ mit der dialektischen Methode Marx´scher Ökonomiekritik zu tun hatte. Analytisch förderten die Untersuchungen des Forschungsprojekts zutage, dass die Jahre um 1968 im Weltmaßstab keineswegs Höhepunkte von „Arbeiterunruhen“ darstellten. Darauf aufsetzende Analysen zur Dynamik globaler Ungleichzeitigkeit und Ungleichheit bieten Lösungsansätze für die Antwort auf die Fragen, warum es trotz des „globalen ´68“ damals nicht zu einer systembedrohenden Gleichzeitigkeit kommen konnte.
Peter Birke verweist auf die Revolte als „suburbaner Aufstand“ gegen das Elend einer industriellen Modernisierung, die sich auch in einer Universität spiegelte, wo AkademikerInnen für das Management der Massenarbeit in der Fabrik oder dem Dienstleistungssektor programmiert werden sollten. So waren die Bewohner der studentischen Wohnheime im Banlieu von Nantierre bei Paris, in denen die Revolte bereits im April 1968 begann, Rebellen gegen eine fordistische Vergesellschaftungsform, die sich auch in den Verhältnissen ihrer Wohn- und Lernmaschine vergegenständlichte. Dieser Aufsatz bietet überdies hochinteressante Einblicke in die Topologie der Streikbewegung während der 60er Jahre, ihre Formveränderung und die Sonderrolle zunehmend wilder Streiks.
Knud Andresen erinnert in seinem Beitrag an die bundesdeutsche Lehrlingsbewegung 1968-1972, in der sich die Politisierung der Arbeiterjugend dieser Zeit eindrucksvoll abbildete. Diese Bewegung ging weit über den Versuch hinaus, „die Ausbildung zu verbessern, um die eigene Arbeitskraft angemessen zu Markte tragen zu können“ (Birke, S. 84). Nun kollidierte die überkommene autoritär-patriarchalische Ausbildungsstruktur mit dem jugendkulturell geprägten Aufbruch einer bis dato eher konservativ veranlagten berufstätigen Arbeiterjugend.
Raquel Varena verknüpft am Beispiel einer Analyse der Politik der „alten Linken“ in der portugiesischen Nelkenrevolution das Ende stalinistischer Dominanz in den meisten westlichen kommunistischen Parteien (hier: der portugiesischen KP) mit dem Auftrieb einer antistalinistischen „Neuen Linken“ und der neuen sozialen Bewegungen in Europa. Zudem waren die frühen 70er Jahre der Anfang vom Ende der rechten Diktaturen auch in Griechenland und Spanien.. Wie die PCF in Frankreich im Sommer 1968 versuchte auch die portugiesische KP im Mai 1974, die sich ihrer Kontrolle entziehenden und sich radikalisierenden sozialen Kämpfe einzudämmen – hier sogar als Mitglied der provisorischen Regierung.
Das Zusammenspiel der westeuropäischen sozialen Bewegungen untersucht Marcel van der Linden, wobei die die von ihm betrachteten ArbeiterInnen-, Jugend- und Frauenbewegungen trotz qualitativ neuer Momente eher den „alten“ sozialen Bewegungen zuzurechnen sind. Zu van der Lindens Instrumentarium zählen die Konjunkturanalyse der westeuropäischen Nachkriegs-Nationalökonomien und die soziokulturellen und strukturellen gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit. In seiner Darstellung des damit verknüpften bewegungspolitischen Wandels kommt der Autor zu dem Schluss, dass eine an Stärke zunehmende und in ihren Bestandteilen interagierende neue radikale Bewegungslinke der „68er“ ihre Antriebskräfte in sich selbst fand, jedoch zu schwach war, mit nachlassender Dynamik des von ihnen angestoßenen Prozesses neue Momente der Nachhaltigkeit ihrer politischen Bestrebungen zu entwickeln. Van der Linden verweist abschließend auf Defizite des Ansatzes der Ressourcenmobilisierung innerhalb der Theorie „Neuer Sozialer Bewegungen“ der 70er Jahre, welcher der belastenden „Doppelaktivität“ etwa von in den 60er Jahren politisierten Aktivisten in diesen Bewegungen und in politischen Parteien zu wenig Beachtung schenkt.
Die Debatte um Sexualität und Geschlechterbeziehungen in der bundesdeutschen „Neuen Linken“ rekapituliert Kristina Schulz aus ideen- und aneignungsgeschichtlicher Perspektive. Dabei erinnert sie an die Wiederentdeckung der Schriften des Psychoanalytikers Wilhelm Reich aus den 30er Jahren durch die Neue Linke. Dessen zu seinen Lebzeiten sowohl in der parteikommunistischen wie in der psychoanalytischen Bewegung verfemter Ansatz der Verbindung marxistischer und psychoanalytischer Methoden zur Funktionsanalyse der Sexualmoral in der kapitalistischen Klassengesellschaft wurde in der antiautoritären Bewegung nicht einfach nur rehabilitiert, sondern unter den veränderten Bedingungen weiterführend kritisch rezipiert. So verband Reimut Reiches 1968 erschienene Schrift „Sexualität und Klassenkampf“ die Untersuchungen Wilhelm Reichs zur unterdrückten Sexualität und ihrer bürgerlichen Normierung zu Zeiten der Weimarer Republik mit den Analysen Herbert Marcuses zur „repressiven Entsublimierung“ in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, welche die partielle Liberalisierung der Sexualität mit ihrer kontrollierten und kanalisierten Einbindung in die kapitalistische Konsumsphäre verband. Gerade die radikalisiert wiedererstehende Frauenbewegung machte rasch klar, wie wenig die vermeintliche „sexuelle Befreiung“ mit einer wirklichen Emanzipation von Frau und Mann einherging und die „68er“ Bewegung keinen Wandel der repressiven Geschlechterbeziehungen herbeiführte, sondern sie in einem linken Jargon reproduzierte.
Gerhard Hanloser wagt den Versuch, das innovatorische Potential der „68er“ zur Bestimmung der „sozialen Frage“ gegenüber der „alten Linken“ innerhalb der linken Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus auf den Begriff zu bringen. Dabei betont er die enorme Bedeutung der Rezeption von Marx „Grundrissen“ in den 60er Jahren. Hier fanden sich einige Fingerzeige für die Suche nach Charakteristika einer postkapitalistischen Gesellschaft. Sie lenkten die Aufmerksamkeit vieler Aktivisten der „Neuen Linken“ auf die Tatsache, dass bereits heute die materiellen Voraussetzungen für die „Abschaffung der repressiven Arbeit“ (Dutschke) existieren und somit die von der „alten Linken“ propagierte Nachrangigkeit der individuellen Bedürfnisse gegenüber den von Staatsbürokraten zu regulierenden „gesellschaftlichen Erfordernissen/Bedürfnissen“ aufzulösen sei. Solcherart Bruch der „Neuen Linken“ mit der Staatsfixiertheit parteikommunistischer und sozialdemokratischer Politik- und Gesellschaftsbilder bedeutete nicht allein die Rehabilitierung einer Gesellschaftskritik aus der (bislang als Phantasterei denunzierten) Perspektive des „Reichs der Freiheit“, gesetzt gegen die Funktionärsgebetsmühle einer Rücksichtnahme auf das „Reich der Notwendigkeit“. Er war auch eine Kampfansage sowohl an die Wirtschafts- und Sozialpolitik der in der BRD erstmals mitregierenden Sozialdemokratie, als auch an die Politbürokratien, welche in den nominalsozialistischen ost- und südosteuropäischen Ländern herrschten. Auf letzteres zu verweisen, vergisst Hanloser bedauerlicherweise, obwohl er zweifellos diese Auffassung teilen dürfte. Das Wiederaufleben des Rätegedankens der dissidenten Arbeiterbewegung und der Aufschwung von Konzepten zur Selbstorganisation und Selbstverwaltung war dem sozialdemokratischen Parteiapparat ein Gräuel und für die bürgerlichen Parteien des Westens sowie die parteibürokratischen Diktaturen des Ostens eine letale Provokation. Hanloser referiert nun komprimiert das Scheitern der Versuche der „68er“, die institutionalisierte (gewerkschaftlich organisierte) Arbeiterbewegung auf ihre Seite zu ziehen (gescheiterter Kampf gegen die Notstandsgesetze). Gleichfalls umreißt er die Kampagnenpraxis der politisierten Studenten gegen die persische Diktatur, den Vietnamkrieg und den Springer-Konzern sowie gegen das Beschweigen der Nazivergangenheit und deren Gegenwärtigkeit in der BRD. Ebenso erinnert er an die Lehrlings- und Schülerbewegung und deren Musik-Subkultur sowie an die vergeblichen operaistischen Versuche von linksradikalen Betriebsgruppen, in den Fabriken Boden zu gewinnen. Mit dem Ende der APO mitsamt ihres antiautoritären Impetus und nach der Formierung autoritärer, überwiegend maoistisch orientierter Kader-Kleinparteien in den frühen 70er Jahren wurde „die Revolte zum Kostümball“ (so Hanloser, S. 156). Abschließend glossiert Hanloser kurz den Ausgang der Sponti- und der Autonomen-Bewegung seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre als „neues Sozialrebellentum“.
Viel Spaß dürfte den meisten Lesern Marcus Mohr´s Performance-Text-Reprise zur „68´er-Erbfolgefrage“ machen, die er gestützt auf einen alten Song der „Jungarbeiter-Rockband“ Ton-Steine-Scherben ebenso ironisch wie scharfsinnig herunterschmettert und auch die Veranstalter und Unterstützer der erwähnten Konferenz nicht ohne Spott entlässt. Mohrs Hang zu den Autonomen und seine ihm eigene Respektlosigkeit ertüchtigen ihn zu schönen Geschichten über bürgerlich gewendete Revoluzzer und die wahren Erben der Scherben der „68er“: Nämlich über die, „die auch heute noch praktisch wie theoretisch beanspruchen, anders leben zu wollen“ (S. 172).
Arndt Neumann geht (anders als gewöhnlich) nicht den gesellschaftskulturellen Folgen der „68er Alternativkultur“ nach, sondern den ökonomischen Folgen deren kultureller Praxen. Wie das wirtschaftliche Modell des Fordismus auch die Kulturindustrie prägte und seinen Niederschlag in der ökonomischen Vormachtstellung von Hollywoods „Filmindustrie“ auch im Nachkriegseuropa fand, ist für Neumann Anlass, die Erosion solcherart ästhetischer Prägung der Passivität, Unterordnung und moralinsaurer Normierung seit den 60er Jahren zu beschreiben. Dies geschah durch das Kino der Nouvelle Vague (Jean-Luc Godard), die politisierten JungregisseurInnen der Film- und Fernsehakademie Berlin (Helke Sander) sowie die postfordistische Videokultur.
Die „Medienpolitik der Revolte“ untersuchen Bernd Hüttner und Gottfried Oy. Das Alternieren des Kampfes der Akteure um Zugang zu den ihnen selbst zumeist versperrten etablierten Medien, ihrem spielerischen Umgang mit ihrer damals ebenso häufigen Objekt-Präsenz in ebendiesen Medien und den veritablen Bemühungen um die Selbstgestaltung einer subversiven Gegenöffentlichkeit wird von beiden Autoren ebenso umrissen, wie ihr Ausgang: So ist die Kernszene der ehedem weitgefächerten „Alternativpresse“ (etwa die linken Stadtteilzeitungen der 70er und z. T. noch der 80er Jahre) heute tot. Hüttner und Oy diskutieren die andauernde Krise der alternativen Printmedien vor dem Hintergrund des Funktionsspektrums neuer Medien (Internet) und des Formwandels der etablierten Medien. Überdies problematisieren sie den heutigen Gebrauchswert „klassischer“ Essentials gegenöffentlicher Strukturen (Demokratisierung der Öffentlichkeit, Zweiwege-Kommunikation und Kritik der Massengesellschaft) angesichts zunehmender Zusammenhangs- und Folgenlosigkeit kritischer Äußerungen. Die heutige Verstetigung der (wenn auch
prekären) Existenz alternativer Medien konnte nichts ändern an der Dominanz manipulativer herrschaftsdienender inszenierter „Massenöffentlichkeit“, die „alles erklärt, nichts versteht und niemanden verändert“ (S. 188).
Gisela Notz diskutiert die Fernwirkungen von Frauenbewegung und Alternativprojekten als Gegenkulturen, deren Wiedererstehung in neuer Form sie im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung konstatiert. Sie erinnert an Wohngemeinschaften, Kinderläden und Kommunen als alternative soziale Gemeinschaften zur Veränderung der repressiv geprägten überkommenen Geschlechterrollen und an die Suche nach Formen herrschaftsfreier Erziehung. Die gleichfalls erprobten alternativen Gemeinschaftsprojekte (selbstbestimmte humane Betriebsorganisationsformen in Kollektiven gleichberechtigter Mitglieder) existieren ebenso wie die anderen alternativen Gemeinschaften teilweise heute noch bzw. entstehen wieder, haben jedoch weitgehend ihre rebellischen Antriebe und ihr integral-politisches Selbstverständnis eingebüßt.
Hartmut Rübner untersucht die zeitgenössische kulturindustrielle und wissenschaftsbasierte Produktion von Reminiszenzen an „1968“. Dabei erreichen die zweifelhaften Reflektionen heute konservativ gewendeter ehemals revoltierender 68er-Protagonisten unfreiwillig den höchsten Unterhaltungswert (etwa Götz Aly), wenngleich deren Mitteilungen über ihren „Kompost abgelegter Überzeugungen“ wenig aufklärerischen Wert besitzen. Bedeutsam scheint hier lediglich die Technik, mit der die „zur Besinnung und Vernunft“ gekommenen Ex-Radikalen das „kulturelle Kapital der zuvor nützlichen Sozialstrukturen“ der Revolte nutzen, um mit diesem Erfahrungswissen den „Einstieg in den allmählichen Ausstieg“ einzuleiten und heute besonders rabiat die einstige „moralische Verwirrung“ abzutragen (S. 208f).
Gerd-Rainer Horn konfrontiert die Bedeutung von „1968“ mit den Wirkungen der „Welt-Revolution“ von 1989: Dem Ende der von bürokratischen Eliten kontrollierten poststalinistischen Diktaturen folgte der neoliberale globale Exzess des „freien Unternehmertums“. Mit dem „Geist von 1989“ dagegen waren durchaus andere Ziele emanzipatorischen Charakters verbunden – wenn auch nicht mit so radikalen wie bei den „68ern“. Statt einer von oben die „östlichen“ Gesellschaften durchherrschenden stalinistischen Nomenklatura regieren heute weltweit die Kommandostrukturen des internationalen Finanzkapitals. Besser könnte man auch das Scheitern von „1968“ nicht ausdrücken: Nichts war weiter vom Geist des „Prager Frühlings“ und des „Pariser Mai“ entfernt als dies, wenn auch damals des Ende der drei „westlichen“ Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien besiegelt wurde. Auch Horn problematisiert in diesem Zusammenhang die heute gängige Lesart, das politische Scheitern der 68er Revolte enthülle diese im Nachhinein als überflüssig bzw. beschränke von vorn herein ihre Bedeutung auf ihre „kulturalistische“ Komponente. Begünstigt wurde diese Fehlwahrnehmung durch einen Trend der jüngsten Sozialgeschichtsschreibung (namentlich der „neuen Kulturgeschichte“), welche angereichert durch diverse postmoderne Theoreme keine Verbindung zu den sozialen Kämpfen mehr herstellte. Horn besteht jedoch darauf, dass die „68er“ in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der „langen 60er Jahre“ enorme kreative Energien für den Kampf um partizipative Demokratie freisetzten, welche auch in den Protestbewegungen von 1989 und deren Suche nach Möglichkeiten einer anderen Organisation des gesellschaftlichen Lebens wirkten.
Resümierend kommt der Rezensent zu dem Schluss, dass der vorliegende Konferenzband zum Besten gehört, was zum Thema „Neue Linke“ von 1968 und deren Fernwirkungen derzeit zu finden ist. Er sei allen Interessenten dringendst zur Lektüre anempfohlen.
Peter Birke, Bernd Hüttner, Gottfried Oy (Hrsg.): Alte Linke – Neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion (Texte 57 der RLS), Karl Dietz Verlag, Berlin 2009, 241 S.
Eine Kurzfassung dieser Rezension ist im JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung erschienen.
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