„Hitler kaputt.“ – im Mai 1945 hatte die Rote Armee die Schlacht um Berlin für sich entschieden. Neunundvierzig Jahre später, im Sommer 1994, verließen die letzten Soldaten der Sowjetischen Streitkräfte Ostdeutschland, vielfältige Erinnerungen an Freund- und Feindschaften hinterlassend.
Von Manja Präkels
aus telegraph #127|128
Anfrage an den Sender Jerewan:
Stimmt es, dass der Kapitalismus am Abgrund steht?
Antwort:
Im Prinzip ja, aber wir sind bereits einen Schritt weiter.
Als Victor Ivanovich Nikitin, gemeinsam mit dem Alexandrov-Ensemble beim Friedenskonzert im August 1948 am Berliner Gendarmenmarkt „Im schönsten Wiesengrunde“ anstimmte, weinte die zerstörte Stadt. „Unter jedem Dach ein Ach“ hieß es damals. Und dort, an diesem Sommertag im Schutt mag mancher still für sich gedacht haben, dass es nun endgültig vorbei sei mit dem Krieg. Für den Moment war „der Russe“ kein Feind mehr, sondern dieser großartige Sänger, der sich die Mühe machte, den Deutschen ein Lied vorzusingen, in ihrer Sprache. Das Konzert wurde im Radio übertragen und erreichte so Millionen Ohren. Meine Großmutter heulte, wenn sie nur daran dachte. Aber zum Heulen war ihr eigentlich immer zumute, wenn sie vom Krieg und seinen Folgen sprach.
An einem sonnigen Nachmittag war es auch, sie saß auf ihrer blauen Plüschcouch und strickte an einem Westover, dass sie mir von ihrer Freundin erzählte. „Die sind jede Nacht über sie drüber.“ Irgendwann sei die Freundin auf der Flucht zurückgeblieben. „Zum Sterben“, erklärte meine Oma, ohne dass ich danach gefragt hätte. „Mich haben sie verschont, ich hatte ja das Kind dabei. Die waren sehr kinderlieb.“ Ich war zwölf und verstand diese Geschichte als eines unserer vielen, kleinen Geheimnisse. Später, als sie meiner Schweigsamkeit gewiss war, erzählte sie mir von einem jungen Soldaten: „Ein Russe, noch Grün hinter den Ohren.“ Sie saß mit dem dreijährigen Jungen, der Mama zu ihr sagte, aber nicht ihr Sohn, sondern eine der vielen Kriegswaisen war, in einem Berliner Keller, versuchte Nahrung aufzutreiben, zu überleben und herauszufinden, wo ihre Familie geblieben war, ob und wo die Eltern und Geschwister noch lebten. „Da war eine Eckkneipe. Gab’s immer Freitag was zum Essen.“ Meine Oma hatte einen Verehrer unter den dort Beschäftigten. „Hinter der Theke war so eine Luke, da ging’s steil runter zu den Fässern.“ Sie lockten den Jungen mit Zigaretten. „Dann haben die ihn da runtergeschmissen und am nächsten Tag gab es Kaninchenfleisch.“ Die Oma strickte, heulte und ihre Tränen tropften auf die Wolle. Ich schwieg verwirrt und ging erst mal an die frische Luft.
In meiner Kindheit gab es jede Menge Russen. Riesige Waldareale waren abgesperrt und nicht nur Pilzsammler fluchten über die Zäune, Mauern und Verbote. Die militärische Nutzung großer Teile seiner Fläche hat in Brandenburg Tradition, was es nicht besser macht, im Gegenteil. Kasernenkomplexe und Truppenübungsplätze auf märkischem Sand, daran gewöhnt sich kein Bauer und wenn, dann nur, weil er davon profitiert. Der Unterschied zwischen der offiziellen DDR-Lesart und dem tatsächlichen Verhältnis zu den kasernierten „Russen“ konnte kaum größer sein. Nur wir Kinder bewunderten die Soldaten in ihren Parade-Uniformen, dem mehrstimmigen Gesang, ihren glänzenden Instrumenten und Waffen. Zum Tag der Befreiung gab es schulfrei, wir konnten die Zeremonie verfolgen und den Tag im Mai unter freiem Himmel verbringen, statt drinnen, beim Matheunterricht. Bei jedem Salutschuss freuten wir uns diebisch auf die anschließende Suche nach den leeren Patronenhülsen.
Am 7. Oktober 1974, ich befand mich schon im Anflug auf die Erde, meine Mutter kämpfte mit den ersten Wehen, war die Verfassung der DDR um Artikel 6, Absatz 2 ergänzt worden:
„Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr garantiert dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens.“
„Freundschaft!“, riefen die tiefen Stimmen der FDJ’ler beim Fahnenappell. Wir Pioniere piepsten: „Immer bereit!“ Das klang erhebend, so aus sechshundert Kehlen, doch es bedeutete nichts. Die deutsch-sowjetische Freundschaft in ein Gesetz zu gießen, hieß letztlich, sie aufzugeben. Das galt für beide Seiten.
Die Lehrerin versuchte uns zu überzeugen, dass die DDR genauso ein Land wäre wie unseres, nur ein bisschen Probleme mit Berlin-West hätte sie und eine schwierige Grammatik, dennoch sei das immer noch besser als zum Beispiel Ungarn, wo von Grammatik überhaupt nicht die Rede sein könne. Jedoch blieben all diese Versuche des sowjetischen Bildungssystems, uns das sozialistische Brudervolk in seiner ganzen natürlichen Attraktivität, mit seinen zwar zahlreichen, aber wenig störenden Schwächen zu zeigen, ohne großen Erfolg.
Das erzählt der ukrainische Dichter Sergij Zhadan, Jahrgang 1974, der, wie viele Kinder im Vielvölkerstaat Deutsch als Fremdsprache lernte, so, wie wir in Russisch unterrichtet wurden.
„Wie heißt du?“, spielten wir die Dialoge im Deutschunterricht nach.
„Ich heiße Hans“.
„Was ist dein Hobby?“
„Mein Hobby ist Sport. Und wie heißt du?“
„Ich heiße Marta“, antwortete die Klassenkameradin.
„Was ist dein Hobby?“
„Mein Hobby ist auch Sport.“
Ein Gespräch zwischen Menschen, die sich offenbar abgrundtief misstrauen.
Auch wir paukten die Vokabeln, bildeten sinnlose Sätze und imaginierten ein Gegenüber ohne Konturen. Der Sowjetbürger war ein unbekanntes Wesen, dem die Russisch-Lehrerin und der ein oder andere Vater schon mal an der „Trasse der Freundschaft“ begegnet waren, aber sonst? Wir spürten die Militärkolonnen regelmäßig vorbeifahren, hörten das Geschirr in den Anbauwänden tanzen und manchmal knallte es nachts, vom Wald her. „Die Russen“, hieß es dann und: „Das arme Schwein.“ Aber was das bedeuten sollte? „Das arme Schwein“, hörte ich die Leute auch rufen, nachdem ein Militärfahrzeug mitten am Tag in ein Wohnhaus hineingedonnert war. Gegenüber arbeitete damals meine Großmutter in einem Obst- und Gemüseladen der HO. Sie war als eine der ersten vor Ort und sorgte sich sehr um Frau Krüger, in deren Wohnzimmer nun das Russenfahrzeug stand. Frau Krüger war unverletzt geblieben. Sie würde nur nie wieder angstfrei Fernsehen können, der Fahrer aber, ein junger Kasache, war auf der Stelle tot.
Ein andermal hielt quietschend und hupend ein grüner Planwagen vor unserer Haustür. Sechs Soldaten saßen an Deck, gestikulierten und lachten mit ihren Steppengesichtern. Schließlich schmissen sie unseren Hund, einen Ausbrecherkönig, der seit Tagen vermisst wurde, in den Hof. Er winselte kurz und verkroch sich in seiner Hütte. Mein Vater, in deutsch-sowjetischen Geschäften erfahren, reichte dem Trupp eine Flasche Goldkrone auf die Ladefläche. Fröhliches Gejohle. Mit quietschenden Reifen fuhr die Mannschaft wieder zurück in ihre Kaserne. Druschba. Es dauerte volle drei Tage, bis sich der Hund wieder seiner eigentlichen Bestimmung besann und erneut davon rannte.
Beim Angeln konnte es passieren, dass die Fische morgens mit aufgeblähten, weißen Bäuchen am Ufer trieben. Dann hatten „die Russen“ wieder irgendwelchen Dreck in den See abgelassen. Wir Kinder zuckten mit den Achseln und bauten eben Buden am Waldrand, wo kyrillische Buchstaben, in Birkenborken eingeritzt, unsere Neugierde weckten, wie Grüße aus einer fremden Welt.
Jede der uns umgebenden Kasernenanlagen hatte ein Loch im Zaun, durch das unsere Väter, Onkels, die großen Brüder und Schwestern mit leeren Händen hinein- und gefüllten Taschen wieder herauskrabbelten. Der Handel blühte, mein geschäftstüchtiger Vater machte sich Freunde jenseits des Zauns und unversehens erreichte uns eine Einladung zum Essen, bei einer der Offiziersfamilien. Ungläubig durchschritten wir das Treiben in der Militärstadt, beobachteten marschierende Soldaten, Jungpioniere mit Schleifen im Haar, Offiziersgattinnen auf dem Weg zum Friseur. Da waren sie ja, die Sowjetbürger, direkt bei uns im Wald! Das Essen war eine Wucht. Irritierender noch als den allgegenwärtigen Geruch von Knoblauch empfand ich den verschwenderischen Umgang unserer Gastgeber mit Butter: Zerlassene Butter, geschlagene Butter, geschnittene Butter, Butter in, auf und um alle Gänge herum. Das Hüftgold der Gastgeberin, ihr glockenhelles Lachen bleibt mir unvergessen.
Ein paar Wochen später donnerte ein Jagdflugzeug der „Russen“ gegen den denkmalgeschützten Wasserturm am Ortseingang. Pilot tot, Turm kaputt. Der Anfang vom Ende.
Am Nachmittag des 19. November 1988 begann Silke Hasselmann, Moderatorin beim Jugendradio DT 64, ihre Sendung mit der Bemerkung: „Ein Sputnik ist heute abgestürzt.“
Für einen kurzen Moment schien es noch einmal, als wehe ein frisches Lüftchen über die Äcker, als gäbe es doch einen Tropfen Blut in der ollen Mumie der deutsch-sowjetischen Freundschaft: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“. In Schwerin konterten aufmerksame Zeitgenossen das Verbot der Sputnik-Ausgabe, die unter anderem den Hitler-Stalin-Pakt zum Thema hatte, indem sie einen zur Erinnerung an den Sieg der Roten Armee umfunktionierten T-34-Panzer bepinselten: „Befreit uns noch mal!“ und „Perestroik(a)“.
Friedensmessen. Montagsdemos. Mauerfall. Jubel. Die Welt lag nun im Westen. Noch im April 1989 war der Kosmonaut Krikaljow als Held der Sowjetunion dekoriert worden. Er flog erneut ins All und erfuhr dort vom Zusammenbruch seines Landes. Die Turbulenzen auf der Erde sorgten dafür, dass er unfreiwillig länger bleiben musste. „Unsere hauptsächliche Sorge war, unser Programm abzuarbeiten. Wir haben zwar ab und zu Nachrichten bekommen, aber wir wollten einfach nur ordentliche Arbeit abliefern.“ So klang er, der letzte Sowjetmensch.
Am 6. Juli 1990 sah sich DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann erstmals gezwungen, von Gewalttaten gegen sowjetische Militärs zu berichten. Die Zusammenstöße seien nur darum glimpflich verlaufen, weil Offiziere ihren Soldaten vorher die Waffen weggenommen hatten.
Die Illustrationen in den Schulbüchern zeigten die Bürger der DDR als sorglose Männer in geckenhaften karierten Sakkos oder aber als lächelnde Fräuleins mit gewagter Frisur. Außerdem waren in den Fibeln eine Unzahl von Schülern abgebildet, kaum aber ältere Menschen, aus dem einfachen Grunde, weil die Menschen in der DDR nicht alterten, sondern sich auf lange Zeit ihren frischen Geist und biegsamen Körper bewahrten. Wie Elfen. Oder Zombies.
Die Rote Armee war besiegt und die Nazis zurückgekehrt. Sie stiegen nicht aus Gräbern, vielmehr schienen sich ihre Geister der Körper und Köpfe ihrer Enkel und Urenkel bemächtigt zu haben. Sie schmissen Molotow-Cocktails über Kasernentore, jagten uniformierte und zivile „Russen“ in rasender Wut aus Gaststätten und Diskotheken, verprügelten sie, zündeten sie an, warfen Leute aus Fenstern. Ihre Omis und Opis sangen derweil heulend „Im schönsten Wiesengrunde“ bei den Treffen der neu gegründeten Landsmannschaften, wo überhaupt viel geweint wurde. Meine Großmutter fand, dass sich das nicht gehörte, so in der Öffentlichkeit. Sie starb in der Anonymität eines Krankenhauses. Wenigstens war es ein kleines Krankenhaus am Waldrand. Ich bilde mir ein, sie hat die Piepmätze noch singen hören, und die singen bekanntermaßen überall gleich.
Am 31. August 1994 schien wieder die Sonne überm Gendarmenmarkt, strahlend. Schön. Es hieß, Genosse Jelzin sei nicht ganz nüchtern gewesen. Wollte man ihm das verübeln? Nach 49 Jahren verließen die letzten der einst etwa 550.000 Personen umfassenden Streitmacht auf deutschem Boden das Land. Manöverdonner und illegaler Müllverkippung zum Trotze hinterließen sie gigantische Areale vollkommen unberührter Natur, mit in Europa als ausgestorben geltenden Arten. Im schönsten Wiesengrunde leben nun Wiedehopf und Wolf, Rotbauchunke und Fischotter, Heidschnucke und Ziegenmelker, Italienische Schönschrecke, Dünen-Springspinne, Erdeule, Bläuling und Widderchen fröhlich vor sich hin.
Zum Abschied trug die Ehrenformation der russischen Streitkräfte ein neues, ein anderes Lied vor: „Deutschland, wir reichen Dir die Hand / Und kehren zurück ins Vaterland / Die Heimat ist empfangsbereit, / Wir bleiben Freunde allezeit.“
Schlimmer, kann man es nicht beschreiben.
Quellen:
– Verfassung der DDR.
– Serhij Zhadan in einer Rede vom 15. Februar 2010.
http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/ueber_uns/aktuelles/Zhadan_DEformatiert.pdf
Manja Präkels, 1974 in Zehdenick/Mark geboren, lebt als freischaffende Autorin und Musikerin in Berlin.
www.gedankenmanufaktur.net
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