Der Westen und die politischen Umbrüche in der muslimischen Welt.
Bereits in den ersten Wochen des Jahres 2013 gelangten 3.000 Tonnen panzerbrechende Waffen in die Hände islamistischer Kampfverbände wie der Al-Nusri-Front – gekauft in Kroatien, bezahlt von Saudi-Arabien, transportiert von Großbritannien und den USA, zwischengelagert in der Türkei und Jordanien.
Von Malte Daniljuk
aus telegraph #127|128
Nach einer kurzen Euphorie über die Aufstände in Tunesien und Ägypten bestimmt die Angst vor dem Islamismus erneut viele öffentliche Debatten in Europa. Die Rede ist vom islamistischen Herbst, der auf den arabischen Frühling folgte, und wie so oft, wenn die Ergebnisse demokratischer Wahlen den europäischen Erwartungen nicht entsprechen, bezweifeln die Erfinder der repräsentativen Demokratie schnell, dass die Bevölkerung der entsprechenden Länder überhaupt zur demokratischen Willensbildung in der Lage sei. Hinter solcherlei Befürchtungen steht implizit und quer durch alle politischen Lager immer die Annahme, dass der eigene Gesellschaftsentwurf natürlich der bestmögliche ist.
Menschen, die gelegentlich von außen auf Europa blicken, können derlei eurozentristisches Selbstbewusstsein schlecht nachvollziehen: Sie sehen, dass die Mutterländer der parlamentarischen Demokratie seit Jahren und Jahrzehnten verbrecherische Hampelmänner wie Berlusconi, gewissenlose Populisten à la Sarkozy oder komplett korruptes und unfähiges Personal, wie in Griechenland, zu ihren Repräsentanten bestimmen. Auch was selbstbewusste Vorgaben für wirtschaftspolitische Entscheidungen betrifft, erscheinen die europäischen Staaten und die USA zunehmend als wenig qualifizierte Ratgeber.
Unbeeindruckt von allerlei demokratischen Defiziten und anderen binnen-europäischen Problemen zum Trotz, scheint jedoch gerade die Krisenerfahrung viele Europäer in ihren konservativen und kulturalistischen Welterklärungen zu bestärken. Zweifellos sind die anti-muslimischen Vorbehalte bei Rechtsradikalen und Konservativen am stärksten ausgeprägt, welche neuerdings den Eindruck erwecken können, ihr rassistisches, oder zumindest traditionalistisch-patriarchales Weltbild sei in irgendeiner Form fortschrittlich und verteidigenswert. Aber auch die SPD kann eine starke Sarrazin-Buschkowsky-Fraktion vorweisen und selbst in einigen popkulturellen Sub-Subkulturen der radikalen Linken dominiert beim Blick auf die arabische Welt eine Sorge um den eigenen Lebensstil. Wie jeder dunkle Vorbehalt basiert auch die Islamophobie auf einem pauschal positiven Selbstbild und undifferenzierten Vereinfachungen des Fremden. Besonders anachronistisch wird die aktuelle Konjunktur des europäischen Ressentiments nicht nur dadurch, dass die muslimische Welt verglichen mit dem christlich-dominierten Abendland über viele Jahrhunderte offener, pluraler, friedfertiger und damit auch technisch fortschrittlicher war. Vielmehr ist es generell abwegig, irgendeine allgemein gültige Aussage über einen Kulturkreis zu treffen, der von Pakistan bis zur Sahara und vom Kaukasus bis zu den Philippinen gegenwärtig etwa 1,7 Milliarden Menschen vereinigt. Mit diesem Beitrag können dementsprechend auch nur kleine Schlaglichter auf die jüngere Geschichte zwischen dem Westen und der muslimischen Welt geworfen werden.
Zweierlei 8. Mai
Wie sehr Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander fallen können, lässt sich etwa an dem symbolstarken Datum 8. Mai 1945 verdeutlichen. In allen Ländern Ost- wie Westeuropas steht dieser Tag für die Kapitulation des faschistischen Deutschlands und das Ende des 2. Weltkriegs, was ihn gewissermaßen zu einer europäischen, einer westlichen Universalie macht. Er markiert den Anbruch eines Zeitalters von Frieden und Wohlstand, das im Bewusstsein der allermeisten Europäer bis heute, fast 70 Jahre später, anhält. Gerade erst, im Dezember 2012, vergab das norwegische Nobelkomitee den Friedensnobelpreis an die Europäische Union „für über sechs Jahrzehnte, die zur Entwicklung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beitrug“. In seiner Rede bei der Übergabe des Preises verwies Komiteechef Jagland insbesondere auf die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, seiner Meinung nach „das wohl dramatischste Beispiel der Geschichte“. Nordafrika verbindet den 8. Mai 1945 mit einer völlig anderen und ganz sicher nicht weniger dramatischen Geschichte: Französische Truppen begannen an diesem Tag in der algerischen Provinz Sétif massenhafte Proteste gegen die Kolonialmacht niederzuschlagen, welche von muslimischen Pfadfindern und Frauen angeführt wurden – die erwachsenen Männer befanden sich als Angehörige der französischen Armee oft noch in Europa. So kam es nur in einem Ort, in Ain-el-Kabira, zu ernsthaftem Widerstand. Nach Niederschlagung der Revolte erschossen die Franzosen dort sämtliche Muslime, die lesen und schreiben konnten. Nach unterschiedlichen Schätzungen massakrierten Armee und Siedler während des Aufstands bis zu 45.000 Algerier. Das Militär belegte komplette Dörfer mit Granatfeuer, Siedler ermordeten bei Massenerschießungen willkürlich Männer, Frauen und Kinder. Die Leichenberge wurden teilweise unter offenem Himmel, teils in den Industrieöfen der Kalkfabrik Héliopolis verbrannt. In dem Ort Bougie zwang das Militär anschließend die überlebenden 1.500 Frauen und Kinder, auf Knien die Siegerparade der Grande Nation abzunehmen und die französische Fahne zu küssen.
Zu den Algeriern, die im Mai 1945 aus Europa in ihre Heimat zurückkehrten, und die Berichte vom Massaker in Setíf hörten, gehörte der Hauptmann und spätere erste Präsident des unabhängigen Algerien, Ahmed Ben Bella. Wie viele seiner Landsleute hatte er eine militärische Laufbahn eingeschlagen, weil dies in den Kolonien die einzige Möglichkeit für Muslime darstellte, einen gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen. Von 1939 bis 1945 kämpfte er mit zehntausenden Arabern auf Seiten der Alliierten gegen den Faschismus. „Diese wiederum begannen sich zu überlegen, ob es gerecht sei, sich in Kriege zu verwickeln, die allein dem Ziel dienten, ihre eigenen Unterdrücker zu befreien“, beschrieb später Kwame Nkrumah diese folgenreichen Einsätze der Kolonisierten. Mit der militärischen Ausbildung für die einheimischen Eliten und der späteren Kampferfahrung im zweiten Weltkrieg sorgten rassistische Kolonialgesetzgebungen wie der Code de l’indigénat dafür, dass in Algerien, Ägypten und Syrien, im Iran und Pakistan, sowie später in Libyen junge Offiziere eine zentrale Rolle bei der antikolonialen Befreiung spielten.
Diese Sprecher des Unabhängigkeitskampfes teilten aber auch eine andere wesentliche Gemeinsamkeit: Sie alle kannten Europa oder waren zumindest an europäischen Lehranstalten ausgebildet worden. Die Traditionen ihrer eigenen, der kolonisierten Gesellschaften verachteten sie. Inspiriert von der europäischen
Moderne und den Idealen des Humanismus folgten die allermeisten säkularen und sogar sozialistischen Politikvorstellungen. Wichtige Wegbereiter der Unabhängigkeit wie Lamin Senghor oder Tiemoko Kouyaté, der im österreichischen KZ Mauthausen umkam, aber auch Frantz Fanon waren von der kommunistischen Bewegung beeinflusst.
Letzterer beschäftigte sich wie kein anderer mit dem ambivalenten, ja schizophrenen Verhältnis zwischen westlichen, das heißt kolonialen Werten und der Mentalität der Kolonisierten. Patrice Lumumba galt als ein „evolué, ein fortgeschrittener Neger1, der die belgische Zivilisation rückhaltlos bewunderte“, beschrieb Jean Ziegler 1978 die Anfänge der Befreiungsbewegung in Afrika. Gamal Abdel Nasser äußerte sich in verachtenswerter Weise über die ägyptischen Traditionen und Kwame Nkrumah zeigte in den Anfängen seiner politischen Laufbahn derartiges Unverständnis für die afrikanischen Kulturen, dass er sich weigerte, die Landessprache Fantí als Unterrichtsfach anzuerkennen. In dieser ersten Phase der Unabhängigkeit dominierten fast ausnahmslos europäische Vorstellungen von Modernisierung und ihr Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.
Der persische Knoten
Ein typischer Vertreter dieser Protagonisten der Unabhängigkeit ist Mohammad Mossadegh. Sein Sturz durch die CIA im August 1953 jährt sich in diesem Jahr zum sechzigsten Mal. Gleichzeitig sind die Vorgänge im Iran bis heute modellbildend für das instrumentelle Verhältnis der europäischen Mächte und der USA zum Islam.
Nach einer Ausbildung zum Steuerbeamten musste Mossadegh als Mitglied der konstitutionellen Opposition im Jahr 1908 seine Heimat verlassen und studierte Jura in Frankreich und der Schweiz. Der Schah hatte das Parlament geschlossen, weil eine solche Einrichtung „grundsätzlich gegen islamisches Recht“ verstoße.
Das Königshaus sah sich mit Widerstand aus allen Teilen der Gesellschaft konfrontiert, die sich in ihrem Verhältnis zur europäischen Moderne in drei Gruppen einteilen lassen, welche in ähnlicher Form bis heute die Auseinandersetzungen in der gesamten muslimischen Welt bestimmen: dem konservativ geprägten Kleinbürgertum, den Großgrundbesitzern und der traditionellen ländlichen Armut – für welche die religiösen Autoritäten wichtige Orientierungspunkte darstellen –, einem jungen städtischen Bürgertum, das kulturell auf Europa und die USA orientiert ist und eine bürgerliche, teilweise säkulare Opposition stellt, sowie schließlich ein junges Proletariat, das in den industriellen Ballungsgebieten die Weltmarktproduktion aufrecht erhält und bis heute stark von Organisationen in der Tradition der europäischen Arbeiterbewegung beeinflusst ist.
Mohammad Mossadegh gelang es bis 1953, die Repräsentanten dieser Bevölkerungsgruppen – die schiitische Geistlichkeit mit ihrer Terror-Organisation „Fedajin-e Islam“, die bürgerlich konstitutionellen Parteien, welche er selber vertrat, sowie die kommunistische Tudeh-Partei – in einem erfolgreichen Bündnis gegen die Feudalherrschaft und den Kolonialismus zu integrieren.
Die zentrale Auseinandersetzung, um die sich die Opposition gegen Reza Schah Pahlavi organisierte, war die Verstaatlichung des Erdöls. Die „Anglo-Persian Oil Company (APOC)“, das Ursprungsunternehmen von „British Petroleum (BP)“, hatte 1933 eine Konzession ausgehandelt, nach der sie auf das gesamte im Iran geförderte Öl vier Prozent Steuern zahlte. Der Iran erhielt außerdem einen Anteil von 22 Cent pro Fass, was zu diesem
Zeitpunkt zwischen acht und 24 Prozent der Gewinne ausmachte – gelten sollte dieser Vertrag bis 1993. Als die staatliche Ölkommission und das Parlament, angetrieben durch Mohammad Mossadegh, im Jahr 1951 entschieden, das iranische Erdöl zu verstaatlichen, blockierte Großbritannien die Förderung und verhinderte weltweit die Auslieferung von iranischem Öl.
Das breite gesellschaftliche Bündnis brach, als der Schah ins Ausland floh und die Regierung Mossadegh, unterstützt durch die Tudeh-Partei, im Juli 1953 die Republik ausrief. In diesem Augenblick entschieden die USA, die sich bisher als Vermittler zwischen Mossadegh und Großbritannien im Hintergrund gehalten hatten, den iranischen Premierminister mit der CIA-Operation AJAX zu stürzen. Sie setzten darauf, dass das Militär und die schiitische Geistlichkeit antikommunistisch eingestellt und in der Lage waren, die Massen zu mobilisieren. Die massiven Pro-Schah-Demonstrationen im August 1953, die zum Sturz Mossadeghs und zur Rückkehr von Schah Pahlavi führten, wurden durch Großayatollah Hossein Borudscherdi veranlasst, von dem der entscheidende Satz überliefert ist: „Das Land braucht einen Schah.“ Der organisatorische Verantwortliche, Ayatollah Borudscherdi, schrieb Schah Pahlavi: „Ich hoffe, dass die wohlbehaltene Rückkehr Ihrer Majestät dem Übel hier ein Ende setzen, dem Islam Ruhm und Ehre und den Muslimen Wohlergehen bringen wird.“
Ziemlich beste Freunde
Mit Blick auf das Verhältnis zwischen dem Westen und den muslimischen Ländern sind drei Merkmale bis heute relevant: Erstens sind die bevorzugten Kooperationspartner der westlichen Industrieländer in der muslimischen Welt autokratische Feudalregime, die Königshäuser. Dieses auffällige Beuteschema liegt vor allem darin begründet, dass einzelne Familien sich günstiger einkaufen lassen als demografisch größere, demokratisch legitimierte Eliten. Von Marokko über die Golf-Staaten auf der arabischen Halbinsel, allen voran Saudi-Arabien und Bahrain, bis nach Jordanien halten sich diese Alliierten mittels brutaler Repression an der Macht und dadurch, dass sie der Bevölkerung systematisch jede Form von sozialstaatlicher Entwicklung und moderner Bildung verweigern. All diese vom Westen hofierten feudalen Regime beziehen ihre Legitimität wesentlich aus der Unterstützung durch die religiösen Autoritäten.
Zweitens sind die vielfältigen religiösen Strömungen des Islam ambivalent hinsichtlich ihrer Herrscherhäuser, aber noch stärker in Bezug auf post-koloniale Abhängigkeiten. Besonders innerhalb der Minderheitenströmungen, namentlich unter den Schiiten, existiert bis heute eine starke, egalitär ausgerichtete Volksreligiosität, in welcher soziale Verantwortung und regionale Mandate eine wichtige Rolle spielen. Ruhollah Chomeini etwa stellte ab 1963 die Revolte und den Kampf gegen Ungerechtigkeit als zentrales Merkmal des schiitischen Islam heraus. Bei der Volksrevolution im Iran 1978 führte diese Form des Islamismus schließlich zum Sturz der Monarchie.
Drittens jedoch hinderte das Wissen um diese Ambivalenz die westlichen Mächte zu keinem Zeitpunkt daran, Strömungen des politischen Islam – bevorzugt sunnitische Extremisten – als Alliierte gegen geopolitische Gegner einzusetzen. In den vergangenen Jahrzehnten entstand aus diesem Milieu die größte Groteske der Neuzeit: Anfang der 1980er Jahre begann die CIA mithilfe Saudi-Arabiens die Mudschahedin in Afghanistan auszubilden. Zehn Jahre nach dem Sieg gegen die Sowjetunion griffen von den USA ausgebildete Mitglieder aus deren Veteranennetzwerk Al-Quaida die USA an, womit sie öffentlich zum Feindbild Nummer 1 avancierten, und nun, wiederum zehn Jahre später, unterstützen die USA, Großbritannien und Frankreich erneut die gleichen Personen, wieder über die historisch bewährte Saudi-Connection, diesmal für die Kriege gegen den Irak, Libyen und Syrien, also gegen Regierungen, die in der Vergangenheit den Islamismus am stärksten bekämpften.
Krise der säkularen Entwicklungsmodelle
In der ersten Phase der Unabhängigkeit entstanden in der Region zahlreiche säkular geprägte Regime, die unterschiedlich stark von europäischen Sozialismuskonzeptionen beeinflusst waren und damit unmittelbar in Konflikte mit den USA und den europäischen Kolonialmächten gerieten. Unter großer Zustimmung der Bevölkerung wurden in Algerien, Tunesien, Ägypten, Äthopien, im Sudan, im Irak und in Syrien sowie später in Libyen die Monarchien abgeschafft. Bei der Gründung der jungen Republiken dominierten sozialistische sowie bürgerlich-nationalistische Parteien, die Islamisten traten in allen Ländern für lange Zeit in den Hintergrund, wobei sie als dauerhafte Opposition, in unterschiedlichen Formen vom Westen unterstützt, organisatorische Kontinuität bewahren konnten.
Die Gemeinsamkeit der jungen arabischen Republiken während der 1950er und 1960er bestand in der Gründung moderner Zentralstaaten mit fortschrittlichen Verfassungen, welche erstmals historisch benachteiligte Gruppen anerkannten und schützten, seien es Frauen oder ethnische und religiöse Minderheiten. Die meisten vom Baathismus beeinflussten Projekte, etwa in Syrien und dem Irak, anfangs auch in Ägypten, gründeten sich unter der Parole „Einheit, Freiheit, Sozialismus“ ausdrücklich als laizistische Staaten neu. Aber selbst in Libyen, wo Muammar al-Gaddafi ab 1969 eine Sonderform des islamischen Sozialismus etablierte, stand die landesweite politische Integration aller Bevölkerungsgruppen unabhängig von sexuellen, ethnischen oder religiösen Merkmalen im Mittelpunkt der Politik.
Diese politische Neuausrichtung ging einher mit Formen der nationalstaatlichen Entwicklungspolitik: Erstmals wurden öffentliche und kostenlose Bildungs- und Gesundheitssysteme aufgebaut. Strategische Ressourcen vom Suez-Kanal bis zu Rohstoffvorkommen wurden verstaatlicht und landesweite Infrastrukturen in Form von Wasser-, Telekommunikations- und Verkehrsnetzen ausgebaut. In allen Ländern wurden Landreformen begonnen, die unterschiedlich weitreichend und erfolgreich verliefen. In der Folge stieg das Bildungsniveau in sämtlichen Ländern der Region, die traditionelle, ländliche Armut und die Einkommensunterschiede gingen zurück.
Dieses zunächst erfolgreiche Entwicklungsmodell geriet in den 1970er Jahren an seine Grenzen. Ausschlaggebend dafür waren zuvorderst außenwirtschaftliche Veränderungen: Infolge der ersten Ölkrise und der Ablösung des Währungssystems von Bretton Woods stiegen die flexibel festgelegten Tilgungs- und Zinsraten für ausländische Kredite, mit denen die Entwicklungsländer den größten Teil der Industrialisierung vorfinanziert hatten. Insbesondere in den nicht-erdölfördernden Staaten wie Tunesien und Ägypten führte diese Entwicklung zu massiven Liquiditätsengpässen, in deren Folge eine eigenständige Entwicklungspolitik zum Erliegen kam und auf Druck des Westens Figuren wie Husni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali eingesetzt wurden, welche die strukturalistischen Vorgaben von IWF und Weltbank repressiv gegen die Bevölkerung durchsetzten. Aber auch die OPEC-Staaten Iran, Irak sowie Algerien, und selbst Libyen, mussten ihre Sozial- und Entwicklungspolitik – bedingt durch den niedrigen Ölpreis bis Ende der 1990er Jahre – schrittweise einschränken, was auch in diesen Ländern autoritäre Tendenzen verstärkte. Verschärfend kommt hinzu, dass große Teile der neuen Eliten dieser jungen Nationalstaaten durchaus anfällig für klientelistische und nepotistische Praxen waren, was langfristig zu einer erneuten gesellschaftlichen Desintegration entlang ethnischer bzw. religiöser Grenzen führte, da die Elitenbildung stark entlang familiärer Bindungen erfolgte.
Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Westen und muslimischer Welt muss diese Phase, die nicht in allen Ländern gleichzeitig erfolgte, als die erste historische Enttäuschung über westlich geprägte Entwicklungsmodelle anerkannt werden. Diese Desillusionierung setzte sich fließend fort mit den stärker neoliberal ausgerichteten Nachfolgeregimen, etwa in Ägypten und Tunesien, welche die sozialen Ungleichheiten wieder verschärften.
Komische Kreuzritter
Eine weitere beachtliche Negativ-Erfahrung mit dem Westen liegt darin, dass fast alle Kriege der USA und ihrer Verbündeten in den letzten 20 Jahren gegen muslimische Länder geführt wurden: Irak, Somalia, Sudan, Afghanistan, noch einmal Irak, Libyen und Syrien. Hinzu kommen regelmäßige Militärschläge, zumeist durch das CIA-Drohnenprogramm, im Jemen und in Pakistan. Vonseiten der EU zählen dazu vor allem die Einsätze französischer Truppen in Äthiopien, Liberia, an der Elfenbeinküste, dem Sudan und aktuell in Mali, sowie die Militärmission der EU am Horn von Afrika. Aus der Perspektive der muslimischen Welt führt der Westen seit 20 Jahren einen permanenten Krieg gegen sie.
Die alles beherrschende Erfahrung macht dabei der zweite Irak-Krieg aus. Vor genau zehn Jahren marschierte eine 240.000 Personen starke alliierte Truppe unter fadenscheinigen Vorwänden in das Land ein, das zu diesem Zeitpunkt nach mehr als 13 Jahren Embargo wirtschaftlich ohnehin am Boden lag. Sechs Wochen später erklärte George W. Bush mit erhobenem Daumen „Mission Accomplished“. Bis dahin waren bei den Kampfhandlungen etwa 2.300 irakische und 170 alliierte Soldaten sowie 7.000 Zivilisten getötet worden. Heute, zehn Jahre später, beträgt die Bilanz der Toten durch unmittelbare Kampfhandlungen etwa 170.000 Männer, Frauen und Kinder, weniger als ein Drittel davon gelten als tote Aufständische.
Unmittelbar nach dem offiziellen Ende der Kämpfe entwickelte sich der Widerstand gegen die Besatzer zum allgemeinen Volkssport. Bis Frühjahr 2004 wurden mehrere Regionen bis hin zu ganzen Städten wie Falludscha durch Aufständische kontrolliert. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Alliierten bereits mehr Soldaten durch den Widerstand als durch den offiziell beendeten Krieg verloren – Bush verlangte einen Strategiewechsel im Irak. Ab Juni 2004 war der frisch ernannte General David Petraeus für die Aufstandsbekämpfung und die Ausbildung der irakischen Sicherheitskräfte zuständig. Er schuf ein Netz aus militärischen Sondereinheiten wie die Wolf-Brigade, die vorzugsweise mit sunnitischen Militärs besetzt wurden.
Außerdem begannen Militär und CIA im gesamten Land paramilitärische Verbände zu gründen, die als „Awakening Councils“ oder auch „Sons of Iraq (SOI)“ regional polizeiliche Aufgaben übernahmen und vom US-Militär und den Geheimdiensten mit Geld und Informationen versorgt wurden. Auch bei den „Awakening Councils“ stützte sich Petraeus hauptsächlich auf die sunnitische Bevölkerungsgruppe, während die eigentliche irakische Regierung in Bagdad von Schiiten dominiert wurde. Nach offizieller Lesart handelte es sich bei den „Councils“ um eine Struktur für die Bekämpfung von „Al-Quaida“ im Irak. Tatsächlich jedoch errichteten diese Paramilitärs lokale Gewalt- und Willkürherrschaften, die stark konfessionell geprägt waren. Anhand der von Wikileaks veröffentlichten „Iraq-War-Logs“ lässt sich ein deutlicher zeitlicher und regionaler Zusammenhang zwischen der Ausbreitung der „Awakening Councils“ – Ende 2008 handelte es sich um 54.000 Milizionäre – und anderer „Concerned Local Citizens (CLC)“ mit dem eskalierenden Bürgerkrieg zwischen den Irakern erkennen.
Unter Anleitung von US-Militärs bauten die Spezialeinheiten im gesamten Land Folterlager auf. Eine aktuelle Dokumentation der BBC benennt die beiden engen Vertrauten von David Petraeus, James H. Coffman und James Steele, als die Hauptverantwortlichen für das irakische Folterprogramm. Letzterer hatte seine Erfahrungen in den 1980er Jahren in El Salvador als persönlicher Berater von Diktator José Napoleón Duarte gesammelt, wo er bereits mit dem Aufbau von Todesschwadronen beschäftigt war. „Die zahllosen Brutalitäten der Einheiten gelten als eine der Ursachen für den Bürgerkrieg, der den Irak jahrelang erschütterte“, wertet „Der Spiegel“ die Vorgänge zurückhaltend. Die Autoren der BBC-Dokumentation werden deutlicher: „Ziel der Operation war es, die sektiererische und interkonfessionelle Gewalt im Irak zu schüren, um so den Aufstand gegen die Besatzungsmacht einzudämmen.“
Die Stunde der Brüder
Neben diesen andauernden und dramatischen Negativerfahrungen mit dem Westen und seinen Initiativen in der arabischen Welt können schließlich die Stärken einiger islamistischer Strömungen nicht unbeachtet bleiben, wenn die Ursachen für die aktuelle konservative Renaissance in den muslimischen Ländern diskutiert wird. Vor allem in Ägypten konnte die Muslimbruderschaft die soziale und politische Krise des Regimes durch eine hervorragende Organisationsarbeit für sich nutzen. Die Brüder hatten den antikolonialen Widerstand gegen die Briten unterstützt, widersetzten sich dann jedoch der starken laizistischen Ausrichtung des Baathismus. Nach dem Tod Nassers blieb die Organisation zwar verboten, aber Anwar as-Sadat, selber ein ehemaliger Bruder, duldete ihre Aktivitäten und führte sogar die Scharia wieder in das ägyptische Rechtssystem ein.
Ab den 1980er Jahren stellte die Bruderschaft zunehmend erfolgreich „unabhängige“ Kandidaten für die Wahlen auf, weil sie nicht als Organisation antreten durfte. Das Verbot gewerkschaftlicher Organisierung umging sie, indem berufsständische Organisationen, etwa für Lehrer, Mediziner und Rechtsanwälte, gegründet wurden. Neben der Ausbreitung von Moscheen entwickelten die Brüder im gesamten Land karitative Strukturen im Gesundheits- und Bildungsbereich sowie eigene Finanz- und Kleinkreditinstitutionen, welche konkrete Hilfen für die Alltagsprobleme in den städtischen Armenvierteln und in den ländlichen Gebieten anbieten. Insbesondere dieser letzte Aspekt sorgte langfristig dafür, dass die Muslimbrüder bei Beginn der Revolution im Januar 2011 als einzige Organisation der Opposition auf landesweite Strukturen zurückgreifen konnten, während etwa die linken Organisationen in ihrer politischen Reichweite auf die Großstädte und die wenigen industriellen Ballungsgebiete beschränkt blieben. Die Mitglieder sind der Organisation zudem nicht einfach durch ihre politische Einstellung allgemein verbunden, sondern durch vielfältige sozial-ökonomische Zusammenhänge lebensweltlich eng in die Bruderschaft eingebunden.
Wie stark der aktuelle Erfolg von dieser konkreten Organisationsarbeit abhängt, lässt sich auch daran ermessen, dass der Islamismus in keinem anderen Land der Region so erfolgreich ist wie in Ägypten. In Libyen gewann das nationalistische Bündnis „Nationale Allianz“ die Wahlen und in Tunesien konnte die Schwesterpartei der Muslimbrüder, „Ennahda“, nur mit Unterstützung zweier säkularer Parteien eine Regierung bilden. In beiden Ländern stellen Islamisten trotz vielfältiger Unterstützung aus dem Ausland nicht die Mehrheit.
Selbst in Syrien, wo die sunnitische Bevölkerungsmehrheit sich mit gutem Recht stark benachteiligt sieht, gelang es den Islamisten nur durch massivste Unterstützung aus den Golfstaaten, durch die USA, Frankreich und Großbritannien, das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Die Mehrheit der Bevölkerung zieht weiterhin eine säkulare, durch Alewiten dominierte Diktatur einem Bürgerkrieg bzw. einer sunnitischen Diktatur vor.
Ein konservatives Regionalprojekt
Ein schneller Überblick über die jüngere Geschichte zwischen Westen und muslimischer Welt macht vor allem eins deutlich: Die USA und die europäischen Mächte haben in den vergangenen 60 Jahren alles unternommen, um eine eigenständige Modernisierung dieser Gesellschaften zu verhindern. Die obsessive Zerstörungswut gegenüber dem Irak, aber auch die anhaltende Kampagne gegen Iran lässt sich, jenseits vollkommen lächerlicher und durchsichtiger Vorwände, nur dadurch erklären, dass Staaten, die sich aufgrund ihrer sozial-geographischen Konfiguration – ihrer Ausdehnung, ihrer vielfältigen Kulturen, ihrer Rohstoffquellen – zu integrativen Regionalmächten eignen würden, mit allen Mitteln zerstört werden sollen.
Die öffentliche Fixierung auf den politischen Islam oder sonstige Menschenrechtsargumente kann dabei als nichts anderes als eine durchsichtige propagandistische Kreation für die Heimatfront gelten: Nicht nur, dass insbesondere der US-Außenpolitik ohnehin kein Verbrechen zu ungeheuerlich war, um es nicht selber zu begehen oder begehen zu lassen – seit nunmehr 60 Jahren werden Islamisten und islamistische Feudalregime immer wieder für die eigenen Ziele instrumentalisiert, ausgebildet, ausgerüstet und bewaffnet, gerade auch wenn es darum geht, säkulare Modernisierungsansätze zu blockieren.
Aktuell scheint dieser Politikansatz sehr erfolgreich zu sein. Saudi-Arabien und Katar finanzieren in der gesamten arabischen Welt salafistische Extremistengruppen, auch die Türkei und die Muslimbrüder betreiben intensiv die Ausdehnung ihrer regionalen Interessen, indem sie eher moderate Bewegungen unterstützen, die einen konservativen Modernisierungsansatz mit einem neoliberalen Wirtschaftsprogramm kombinieren. In Ägypten und Tunesien, aber auch in Libyen und Syrien verdichten sich die Hinweise, dass diese beiden – religiös nicht unbedingt zu vereinbarenden – Strömungen immer stärker zusammenarbeiten, um bürgerliche und linke Politikansätze bei der politischen Neugestaltung nach einem Systemwechsel auszuschalten.
Aus der Perspektive der US-Außenpolitik bietet dieser Vorschlag für ein neues konservatives Regionalprojekt, eine theokratische sunnitische Staatenallianz von Nordafrika bis an die iranische Grenze, kaum Nachteile. Aufgrund ihrer beschützten Lage jenseits des Atlantik können sie sich relativ sicher gegenüber etwaigen Kollateralschäden durch ihre Zauberlehrlinge fühlen. Die Risiken lassen sich bisher durch ihre Militärbasen, ihre Geheimdienst- und Drohnenprogramme erfolgreich minimieren.
Ganz anders stellt sich die Lage langfristig jedoch für Europa dar: Die EU ist mit dem größten Teil der muslimischen Welt auf dem Landweg verbunden und auch nach Nordafrika ist es nur ein Katzensprung. Die explosive Ausweitung des Dschihad, welche allein durch die Bewaffnung von Aufständischen und den Staatszerfall in Libyen verursacht wurde, hat binnen eines Jahres bereits den nächsten Militäreinsatz in Mali zur Folge gehabt. Sobald ab Mai das UNO-Waffenembargo gegen Syrien ausläuft, werden die USA, Großbritannien und Frankreich die Dschihadisten in Syrien derartig aufrüsten, dass ihnen ein militärischer Erfolg gegen die syrischen Streitkräfte ermöglicht wird. Bereits in den ersten Wochen des Jahres 2013 gelangten 3.000 Tonnen panzerbrechende Waffen in die Hände islamistischer Kampfverbände wie der Al-Nusri-Front – gekauft in Kroatien, bezahlt von Saudi-Arabien, transportiert von Großbritannien und den USA, zwischengelagert in der Türkei und Jordanien.
Wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen dem Westen und der muslimischen Welt zu bewerten, ist der erste Ausgangspunkt, immer wieder festzustellen, dass eine Trennung in Wir und Sie nicht möglich ist. Zum einen sind die Eliten der westlichen Industrienationen und der feudalistischen arabischen Regime seit Jahrzehnten auf das Engste miteinander verbunden, zum anderen übt die Alltagskultur des Westens einen derartig großen Einfluss auf die meisten arabischen Länder aus, dass trotz der brutalen Unterdrückungserfahrungen unzählige Elemente des westlichen Lebensstils als Leitbild für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gelten. Die Versprechen von bürgerlichen Freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz und sozialer Gerechtigkeit, die der Westen nicht nur in der muslimischen Welt immer mit Füßen getreten hat, sind der Motor für die aktuellen Umbrüche in der Region.
Dazu gehört auch wahrzunehmen, dass die von Saudi-Arabien geförderten salafistischen Extremisten in diesen Gesellschaften winzige Minderheiten darstellen, und selbst die moderaten Islamisten fast nirgendwo eine gesellschaftliche Mehrheit aufweisen können. Besonders für den Islamismus gilt, dass er durch westliche Strategen immer wieder gefördert und instrumentalisiert wird. Wer gegen reaktionäre Strömungen in der arabischen Welt auftreten will, muss zuerst die Komplizenschaft des Westens mit den reaktionären Golf-Regimen, mit dem jordanischen und dem marokkanischen Königshaus angreifen. An wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen, die es in diesem Zusammenhang auch in Europa zu thematisieren gilt, besteht kein Mangel, sie sind der persische Knoten, den es zu lösen gilt.
1 évolué – frz./belg. Begriff aus der Kolonialzeit – wörtl. übersetzt: „ein Entwickelter“ – ein durch Bildung oder Assimilation „entwickelter“ Afrikaner, der auch europäische Werte und Verhaltensmuster übernommen hat..
Malte Daniljuk ist Publizist und arbeitet für das Portal amerika21.
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