Linke und Realsozialismus

Das Bild, das sich ehedem Linke im Westen von der DDR und dem nominalsozialistischen System in den sowjetisch dominierten Ostblockstaaten machten, war selten durch eigene Anschauung geprägt. Noch seltener war es durch dauerhafte Kontakte zur Opposition in diesen Ländern untersetzt. Wir dokumentieren hier eine bemerkenswerte Ausnahme aus dem damaligen Westberliner linksautonomen Spektrum. Dem hier veröffentlichten Text liegt ein Vortrag des Autors auf der Konferenz „Was tun mit Kommunismus“ Ende 2011 zugrunde. Er ist auch in dem jüngst erschienenen Konferenzband dieser Tagung enthalten und wurde in der vorliegenden Fassung für den „telegraph“ leicht bearbeitet.

Von Hauke Benner
aus telegraph #127|128

Die DDR war für mich als junger Student durchaus in meinem politischen Alltag präsent. Die Frage, ob es wirklich dort eine sozialistische Alternative zu dem von uns abgelehnten kapitalistischen Wirtschaftssystem gab, erregte meine politische Neugier. Den ersten Knacks hatte meine jugendliche Sympathie für das System jenseits der Mauer während der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 bekommen. Den zweiten Dämpfer bekam ich, als mir junge DKP‘lerInnen weismachen wollten, dass die AKW‘s in der DDR und der UdSSR sicher seien, weil sie sich in den Händen der Werktätigen befänden.
An der Bremer Uni habe ich in den 1970er Jahren in einer hochpolitischen Atmosphäre intensive Seminare und Forschungen über den realen Sozialismus mitgemacht. Insbesondere haben wir die Frage des Warencharakters der Produktionsverhältnisse in der DDR und in der UdSSR debattiert, aber auch, warum es zur Diktatur der Partei über die ArbeiterInnenklasse kam, weshalb die sozialistische Industrieproduktion sich gar nicht so sehr von der kapitalistischen unterschied und dass die Ohnmacht der Klasse mit immer mehr Konsumversprechungen kompensiert wurde.

Dabei hatte dort nach der Niederlage des Faschismus Vieles so verheißungsvoll angefangen. Die Verstaatlichung der Betriebe und die Enteignung der ostelbischen Junker waren auf eine sehr positive Resonanz in der ostdeutschen Bevölkerung gestoßen. Die Fähigkeiten der Selbstorganisation der ArbeiterInnen und BäuerInnen sorgten für die Behebung der unmittelbaren Versorgungsnot und die Wiederinbetriebnahme der Produktion in den ersten Jahren nach der Kapitulation.
Mit Beginn des Kalten Krieges 1947 und der Absicherung der Vorherrschaft der von Stalin eingesetzten KommunistInnen um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck wurden die in den beiden Jahren nach 1945 so wichtigen Betriebs- und Antifa-Komitees jedoch politisch entmachtet.

Die Masseninitiative zum Aufbau eines antifaschistischen und antikapitalistischen deutschen Staates wurde ersetzt durch die Parteiinitiative. Der Aufbau der staatlichen Bürokratie und staatlicher Kontroll- und Überwachungsorgane ging einher mit Vereinzelung und Entrechtung der Klasse auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Zwar wurde ein wesentliches stalinistisches Herrschaftsinstrument, die Arbeitslager, nur für wenige Jahre übernommen, doch verschwanden in den Lagern des russischen Geheimdienstes nicht nur Nazi-Schergen, sondern auch tausende Oppositionelle. Darunter waren aus dem westlichen Exil heimgekehrte KommunistInnen, die gegen die Diktatur der SED-Führung opponierten, vermeintliche TrotzkistInnen und TitoistInnen, aber auch viele jugendliche ArbeitsverweigererInnen, Hunderte von ArbeiterInnen, die sich gegen die Deportation von Industrieanlagen durch die sowjetische Militärverwaltung wehrten.

Als mit Beginn der 1950er Jahre der Aufbau des Sozialismus zum Staatsziel erklärt wurde, war paradoxerweise das LohnarbeiterInnenverhältnis auf der Produktionsebene fest zementiert. Unter Sozialismus wurde die Hebung der Produktivkräfte über das Niveau der kapitalistischen Konkurrenz hinaus verstanden. Der Staat und damit das Politbüro der SED bekam die alleinige Lenkungsfunktion, in den Betrieben herrschte die Einmannleitung, die einzelnen ArbeiterInnen hatten den Planvorgaben durch Handhebung zuzustimmen. Frühzeitig wurden die tayloristische Arbeitsorganisation und die Akkordarbeit zur Beherrschung der Klasse in den Betrieben eingeführt. Die Lohnabhängigen waren zur gesellschaftlichen Ohnmacht verdammt und entwickelten in diesen entfremdeten Arbeitsverhältnissen die aus dem Kapitalismus bekannte LohnarbeiterInnenmentalität mit den entsprechenden Folgen der Herausbildung eines kleinbürgerlichen Bewusstseins: Hinnahme, Unterwerfung unter die Befehle von Oben, konsumtive Haltung, Desinteresse an gesellschaftlichen Fragen, zu denen sie so oder so nicht gefragt wurden. Nur einmal, während des 17. Juni 1953 rebellierte die Klasse gegen diese Form von gesellschaftlicher Arbeitsteilung (der spätere polnische KP-Chef Gierek beschrieb sie 1970 so: „Ihr werdet gut arbeiten und wir werden gut regieren.“). Die Klasse entwickelte nach dieser gescheiterten Revolte ein listiges System des passiven Widerstands. Die von Oben initiierte Masseninitiative, wie die „Neuererbewegung“, konnte das Interesse der Klasse an einer Hebung der Arbeitsproduktivität nicht erwecken. Leistungsverweigerung und Absentismus kennzeichneten das Verhalten der IndustriearbeiterInnen. Das System der „organisierten Verantwortungslosigkeit“, wo keiner für nichts zuständig ist, wo alle alles auf den bürokratischen Plan abschieben können, machte das Chaos in der Produktion perfekt.

Der Warencharakter der Ware Arbeitskraft wurde später unter Honecker zugegeben. Mit dem Prinzip der „materiellen Interessiertheit“, der Orientierung auf die Ware Geld und den Konsum versuchte die Partei das Interesse am Arbeitsergebnis zu wecken. Letztlich war dies die Bankrotterklärung der SED. Sie gestand damit indirekt ein, dass entfremdete Arbeitsverhältnisse fortbestanden und eine Vergesellschaftung der Produktion in den Händen der Klasse ausgeblieben war. Um ihre Herrschaft in der Produktion zu vervollkommnen, versuchte die SED wie die KPdSU Wissenschaft und kapitalistische Technologie als Herrschaftsinstrument gegen die ArbeiterInnen in den Betrieben durchzusetzen.
Merkwürdigerweise wird die Kritik an der Übernahme kapitalistischer Technologien bei der Debatte – „Was war sozialistisch am realen Sozialismus?“ – zumeist ausgeblendet. Ich will das Problem zumindest kurz anreißen:

Lenins Leitsatz „Sozialismus ist undenkbar ohne großkapitalistische Technik“ wurde bald nach dem Ende des 2. Weltkrieges zum Grundpfeiler des realsozialistischen Entwicklungsmodells. Inspiriert von der erfolgreichen Zündung der ersten sowjetischen Atombombe rückte nach Stalins Tod die Notwendigkeit der Anwendung der (natur)-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Hebung der Produktivkräfte in den Mittelpunkt der Debatte. Auf einem ZK-Plenum der KPdSU 1955 hob der damalige sowjetische Regierungschef Bulganin hervor: „Wir stehen an der Schwelle einer neuen wissenschaftlich-technischen und industriellen Revolution, die ihrer Bedeutung nach jene industrielle Revolution, die mit der beginnenden Ausnutzung des Dampfes und der Elektrizität eintrat, weit übertrifft.“1

Demzufolge waren eine stärkere Anbindung und Einbeziehung der (Natur)-Wissenschaften in die Plandiskussion und -entscheidung sowie die Anhebung der fachlichen Kompetenz der Leitungskader die logische Schlussfolgerung der Partei, um durch das Studium „ausländischer Erfahrungen“ und „der in anderen Ländern erzielten Ergebnissen der Wissenschaft und Technik“ (so Bulganin; der hierbei ausdrücklich die „Errungenschaften“ der USA erwähnte), die sowjetische Technologie dem neuen Vorbild anzugleichen und neue Wachstumsimpulse zu initiieren.

Erforderlich war somit die Aufgabe der Stalin’schen Selbstisolierungspolitik mit dem „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ und der Abschottung gegenüber westlicher Technologie und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Jetzt wurde auch in der Sowjetunion (SU) z .B. die Einstein‘sche Relativitätstheorie offiziell anerkannt, nachdem sie beim Bau der Atombombe noch hinter dem Rücken der Stalin’schen Tempelwächter bereits angewendet worden war.

Die Neuausrichtung in der Technologiepolitik wurde in der DDR sofort übernommen. Auf dem 24. Plenum des ZK der SED Anfang Juni 1955 warb SED-Chef Walter Ulbricht für den friedlichen Wettbewerb mit der BRD: „Die Einführung der neuesten Technik ist das ausschlaggebende Mittel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität“ – und ein Jahr später auf der 3. Parteikonferenz hieß es: „Man muss von Westdeutschland systematischer und aktiver als bisher alles Neue und Fortschrittliche auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Technik und Organisation der Produktion übernehmen und muss schneller das Fortschrittliche in die Praxis einführen.“2

Kurt Hager, der spätere langjährige Ideologie-Chef der SED, betonte auf dem nachfolgenden 25. Plenum die Notwendigkeit der „Förderung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts als die entscheidende Voraussetzung für den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung in der Deutschen Demokratischen Republik“.3

Doch dauerte dieser Prozess mehr als zwei Jahrzehnte und intensivierte sich erst Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre durch den Ausbau der Handelsbeziehungen mit dem kapitalistischen Ausland. In den 1980er Jahren wurden ganze Produktionsanlagen aus dem kapitalistischen Ausland importiert, um u. a. damit für den West-Export zu produzieren. Die Orientierung der „Technologien und Produkte, die internationalen Bestwerten“ entsprechen (so Honecker 1978) wurde zur Richtschnur der Entwicklung der sozialistischen Produktivkräfte.
Mit der Übernahme der kapitalistischen Technologie in Produktion und Produktionsorganisation musste die Arbeitsorganisation dieser Technologie angepasst werden. Die von allen hohen SED-Funktionären geforderte Orientierung an der ausländischen (sprich: westlichen) Konkurrenz erforderte eine stetige Anpassung der DDR-Produktionstechnologie an die kapitalistische Technologie, denn „verbrauchen wir mehr Arbeitszeit oder Material als es dem internationalen Stand entspricht, so muss das letzten Endes als Verlust abgebucht werden“, bekannte freimütig Honecker auf dem FDGB-Kongress 1977.

Ideologisch saß damit die DDR-Politökonomie aber in der Klemme: Da in der DDR-Management-Diskussion die Kritik kapitalistischer Produktionsverhältnisse weitgehend auf der Verteilungsebene und des dahinterstehenden Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital geführt wurde und eben das in die Produktionsweise eingehende Kapitalverhältnis auf eine Anwendungsfrage der Produktionsmittel „reduziert“ wurde, war es folgerichtig, dass der Frage der (technischen) Organisation der Produktion keine für den Sozialismus konstitutive Relevanz beigemessen wurde. So rettete man sich mit der angeblichen „Unschuld der Produktivkräfte“ aus dem ideologischen Dilemma, dass die ArbeiterInnen wie im Kapitalismus auch im Sozialismus den Gesetzmäßigkeiten einer ihnen feindlichen Sachgewalt, der Technologie, ausgeliefert waren. Denn auch im Sozialismus gehorchte die technologische Struktur der Produktion den von der (vergesellschafteten) toten Arbeit (dem Kapital) bestimmten Effizienz- und Optimalitätskriterien und erschien den ArbeiterInnen als Sachzwangrationalität.

In den 1960er Jahren entstand ein ganz neuer Wissenschaftszweig in der DDR, die sogenannte „wissenschaftliche Arbeitsorganisation“, WAO. Mithilfe der Kybernetik und der Computerindustrie versuchte das Management in den Volkseigenen Betrieben (VEB) die Erkenntnisse aus den Rationalisierungstechniken des kapitalistischen Auslandes auf den sozialistischen Betriebsalltag zu übertragen. Computer, Prozessrechner und NC-Maschinen ermöglichen, dass die Organisationstechnik sich den disziplinären Zwang aus dem Bereich der eingesetzten Maschinerie holt. Der „Zwang zur Logik“ technischer Produktion geht einher mit der Logik des Zwanges, die herrschende Arbeitsteilung zu untermauern. Bereits im Kapitalismus hört die einzelne Arbeit auf, produktiv zu sein, nur die im Kapital repräsentierte, konzentrierte Gemeinsamkeit abstrakter Arbeit ist produktiv, Mehrwert erzeugend für das Kapital. Diese Strukturen ließen sich ganz offensichtlich wiederfinden in der Arbeitsorganisation in der DDR.

Das passive, mehr und mehr durch materielle Stimuli anstelle weltanschaulicher, moralischer Kriterien gelenkte Verhalten der ArbeiterInnen ist dabei erwünscht. Die Beibehaltung der überkommenen Arbeitsteilung und die herausragende Stellung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und der Ingenieure4 schließen die Produktionsarbeiter aus der Forschung, Entwicklung und Leitung der Produktion aus. NeuererInnenkollektive und Ständige Produktionsberatung haben in diesem Sinne eher eine Ventilfunktion.
Die von Friedrich Engels getroffene Feststellung, dass die Abschaffung jeder Autorität in der kooperativen Produktion eine „reaktionäre“ Illusion sei, wurde in der DDR auf die „disziplinierte Einhaltung technologischer Arbeitsbedingungen“ in den Betrieben und Kombinaten angewendet. Die unbedingte „Unterordnung“ belegt die These von Bahro, dass die Arbeiterklasse (gerade auch im Betrieb) „regiert wird“, allerdings weniger über Karrierebeamte oder Parteikader als mehr durch die wissenschaftlich und technologisch begründete Arbeitsorganisation und Arbeitsklassifizierung. Im DDR-Lexikon der Wirtschaft, Bd. 6 „Arbeit“ heißt es unter Arbeitsdisziplin: „Die Arbeitsdisziplin erfordert Einordnung, bzw. Unterordnung des Willens und Handelns der am Arbeitsprozess Teilnehmenden, auftragsgemäße und exakte Erfüllung der jeweiligen Teilfunktion im Arbeitsprozess und die strikte Ausführung aller diesbezüglichen Weisungen des Leiters.“5

20 Jahre nach dem Mauerfall schreibt das FDGB-Lexikon in zu recht kritischem Ton über die Beteiligung der ArbeiterInnen an der wissenschaftlichen Produktionsorganisation:

„Doch das gelang nur sehr bedingt, denn den Beschäftigten war trotz anders lautender Überzeugungsversuche von Betriebs-, Partei- und Gewerkschaftsfunktionären klar, dass die Maßnahmen der WAO in erster Linie auf die Intensivierung und Rationalisierung der Produktions- und Arbeitsabläufe zielten und erst in zweiter Linie auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.“ Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und die daraus sich herleitende Rationalität und Objektivität der Herrschaft der Manager und Techniker über die Produktion verdammte die ArbeiterInnen somit auch in der sozialistischen Produktion zum bloßen Anhängsel der Maschinerie, zu verdummender, repetetiver Arbeit.
Die Durchsetzung der Automatisierung verlief jedoch nicht ohne Widerstand. Immer wieder konnten sich die ArbeiterInnen erfolgreich gegen die Durchführung von Rationalisierungsvorhaben wehren, besonders dann, wenn damit eine Prämienkürzung verbunden werden sollte, berichtet der DDR-Soziologe Bartoszyk Anfang der 1970er Jahre von der Arbeit der Parteisekretäre und Schrittmacherkollektive in der Werkzeugmaschinenfabrik Magdeburg. Infolge der anstehenden Automatisierung fürchteten viele ArbeiterInnen Qualifikationsverluste, Lohn- und Prämienkürzungen („Die da Oben“, gemeint waren die Genossen und Kollegen der Leitung des Betriebes, „wollen ja nur unser Geld“). Den Werktätigen schien der Unterschied von kapitalistischer und sozialistischer Rationalisierung nicht so eindeutig („Das sind ja Methoden wie in amerikanischen Konzernen“).6 Letztendlich wurden die Automatisierungsvorhaben in Absprache mit der Betriebsgewerkschaftsleitung verlangsamt umgesetzt.

Trotz aller ideologischen Verheißungen über die „sozialistische Arbeitsethik“ (O-Ton der DDR-Arbeitswissenschaftler), die „schöpferisch“ ihre Anwendung durch die Betriebskollektive fand, war letztlich in der Produktion die Vereinzelung der ArbeiterInnen das erwünschte, ja aus dem Warencharakter der Produktion auch logisch hervorgehende Ergebnis. Der Vereinzelung der LohnarbeiterInnen entsprach auf der Parteiebene das isolierte Parteimitglied. Eine Kontrolle oder gar eine Entscheidung über die Politik der Funktionäre war schon seit Stalins und Lenins Zeiten als proletarischer Grundsatz verschwunden. Die Partei erscheint auf diese Weise dem einzelnen Arbeiter und der Arbeiterin notwendig als ein äußeres, von ihm und ihr unabhängiges Wesen. Einzig die Partei stellt die Einheit der Klasse, des Klasseninteresses her, die Autonomie im unmittelbaren Produktions- und Reproduktionszusammenhang wird unterdrückt.7 Dass an solch einer Form von Parteivergesellschaftung die ArbeiterInnen keinerlei Interesse haben, dürfte auf der Hand liegen. Die Partei verkommt so zur Karriereleiter und zum Hort des Opportunismus und der Duckmäuserei.

Die Leugnung der von Marx skizzierten Problematik der Adaption kapitalistischer Technologie und entsprechender Verkehrsformen („Es wird wohl von Sozialisten gesagt, wir brauchen Kapital, aber nicht den Kapitalisten. Dann erscheint das Kapital als reine Sache, nicht als Produktionsverhältnis, das in sich reflektiert eben der Kapitalist ist.“8) führte in der DDR-Ideologie folgerichtig zur Theorie der Neutralität der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer Technik.

Den Politökonomen der DDR ist der Vorwurf zu machen, dass sie die scheinbare Naturform der Technik nicht als eine vom Kapital produzierte begreifen wollten. Stattdessen berief man sich auf die „Unschuld der Produktivkräfte“ (Otto Ulrich) und behauptete, bei vergesellschafteter Produktion sei lediglich die kapitalistische Hülle zu sprengen. Grundsätzlich hätte eine Kritik der politischen Technologie beim Marx‘schen Verständnis der Automation und der „scientific power“ als das Kapital sprengende Widerspruchsmoment, worin dem „advice gegeben wird, to be gone und to give room to a higher state of social production“9, zu beginnen – und, ob nicht die Tendenzen einer „totalitären Technologisierung der politischen Ökonomie“ (H.-J. Krahl) als neuer Herrschaftsform weitaus eher drohen als das „Reich der Freiheit“ durch die gerade auch im realen Sozialismus propagierte ständige Höherentwicklung der Produktivkräfte.

Autonome Grenzgänge
In den 1980er Jahren haben wir uns von autonomer Seite mit linken friedenspolitisch und ökologisch orientierten DDR‘lerInnen in Ostberlin angefreundet. Über sie bekamen wir umfangreiche Einblicke in den realsozialistischen Alltag in Familie, Schule und Betrieb. Und das war noch ernüchternder als die vorherige, wie eben skizzierte, theoretische Auseinandersetzung mit dem Herrschaftssystem der SED.
Mit unseren Ostberliner Freundinnen diskutierten wir viel über die realen Herrschaftsverhältnisse in den sozialistischen Großbetrieben, den VEB. Die ArbeiterInnen waren zwar nicht an der Macht, aber auch nicht ohnmächtig. Technische Neuerungen, die zu einer Erhöhung der Arbeitsintensität führten, konnten häufig nur schwer von der Direktion durchgesetzt werden. Fließbandarbeit wie im Westen war weiterhin an der Tagesordnung, aber nicht mit einem so irren Tempo. Das Ganze funktionierte trotz aller Appelle und Kampagnen von Oben in einem System der „organisierten Verantwortungslosigkeit“, die Planvorgaben wurden irgendwie erfüllt, egal was es kostete. Alle wussten, wer wie geschummelt hatte bei der Planerfüllung, aber alle wollten die Prämien. Von einer gesamtgesellschaftlichen Gestaltungskraft waren die Werktätigen in der DDR Lichtjahre entfernt.

Das System der Überwachung war für die, die sich nicht offen verweigerten oder gar eine oppositionelle Haltung an den Tag legten, kaum spürbar. Anders trat die Stasi bei denen auf, die offen ihre Systemopposition zeigten, sich nicht anpassten. Das galt sowohl für die Punks, wie für die „Kirche von Unten“ oder für die verschiedenen Kreise von DissidentInnen wie den „Jenaer Kreis“ und den Zirkel rund um die Ostberliner „Umweltbibliothek“. Bei denen nervte die Stasi ganz schön, stand andauernd auf der Matte. Und trotzdem gelang es mit ein wenig Witz und Mut, die Stasi des Öfteren hinters Licht zu führen.
Da wir mit einer autonomen Gruppe ab Mitte der 1980er sehr regelmäßige Besuche in Ostberlin durchführten und einzelne politische Kampagnen vorbereiteten, wie den Schwarzen Kanal (eine in Ostberlin produzierte Radiosendung über die Situation und die Forderungen der linken DDR-Opposition mittels eines an der Mauer stationierten mobilen Piratensenders) und gemeinsame Aktionen in West und Ost während der Anti-IWF-Kampagne 198810, hielten wir uns eher im Hintergrund bei den wenigen Diskussionen auf autonomen Vollversammlungen (VV’s) in Westberlin, wenn es um die DDR ging. Vor allem aus Furcht vor „Kundschaftern“ der SED, die unsere Kontakte an die Stasi verraten könnten.

Meine persönliche Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Herrschaftssystem begann erst recht spät, zu Beginn der 1980er Jahre. Ein Türöffner dafür war der Roman Wie eine Träne im Ozean von Manès Sperber. Danach habe ich dann auch Alexander Solschenizyn und Arthur Koestler gelesen und mich mit dem Horror der Moskauer Prozesse befasst. Aber damit war ich unter uns älteren Autonomen eher in der Minderheit. Die fehlende Auseinandersetzung mit solchen Themen fiel uns dann Anfang der 1990er Jahre in der Organisierungsdebatte auf die eigenen Füße, als es plötzlich in Teilen der Antifa-Szene zu einer sehr unkritischen Rezeption der Politik der KPD und Komintern in den 1920er und 1930er Jahren kam.

Die Angst vor Freiheit und Selbstbestimmung
Wie notwendig diese Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in der DDR und mit dem DDR-spezifischen stalinistischen Sozialisationstypus ist, will ich an dem Zusammenhang von patriarchaler Familie und autoritärer Erziehung verdeutlichen.
Die Lohnarbeitsverhältnisse, der eingestandene Warencharakter der sozialistischen Produktion und die Konsumorientierung trugen auch zur Herausbildung kleinbürgerlicher Verkehrsformen bei – mit all den uns verhassten „Nebenerscheinungen“ wie Erziehung zur Sauberkeit, Gehorsam gegenüber dem Vater und natürlich auch gegenüber den Vorgesetzten, der Unterdrückung einer freien Sexualität und einer unglaublichen Spießigkeit. Der sich immer steigernde Warenkonsum wurde zum Ersatz und Mittel zugleich für fehlende gesellschaftliche Anerkennung. Die Förderung der „sozialistischen Warengesellschaft“ und die systembedingte Unmöglichkeit, den Warenhunger in dem Tempo wie im kapitalistischen Westen zu befriedigen, führten so logischerweise zum ökonomischen Zusammenbruch des Systems, in dem „alles real ist, nur nicht der Sozialismus“ (Dutschke).

Aus dem stalinistischen Sozialisationstypus lassen sich Erklärungsansätze für die Ursachen des Rassismus und der Anfälligkeit für autoritäre, faschistische Strömungen herleiten. Das System bewirkte durch seine gesellschaftliche Erziehung in Schule, FDJ, Betrieb, Kinderkrippe usw. bei den Individuen eine repressive Fixierung auf Staat und Familie. Dadurch entstand laut dem DDR-Psychiater Hans-Joachim Maaz eine Charakterverformung, die neurotische Züge annahm. Es kam zu einer „regelrechten Angst vor Freiheit und Selbstbestimmung“: Der stalinistische Sozialisationstypus ruft die „Unterdrückung der Gefühle, Verbot von Wut, Schmerz und Lust, stattdessen Erziehung zu Disziplin und Härte und damit zu einer (Selbst)-Verlogenheit, die schließlich zur zweiten Natur wird“11 hervor.

Dieser Charaktertypus hat auffällig viele Übereinstimmungen mit dem „autoritären Charakter“, den Adorno in den 1940er Jahren bei US-Amerikanern feststellte, die eine Disposition für faschistisches, rassistisches Denken aufweisen. Mit seiner berühmten „F-Skala“ hat Adorno Charaktermerkmale beschrieben, die sich fast alle auf die DDR-Durchschnittsbevölkerung anwenden lassen. Wir wollen sie jetzt nicht alle aufzählen, sondern diesen Gedanken lediglich an einem Beispiel mit einem längeren Zitat aus der Arbeit Adornos erläutern. Es geht um das Phänomen des „autoritären Syndroms“: Nach Horkheimers Theorie zu „Autorität und Familie“ in der gleichnamigen Arbeit geht äußere Repression mit innerer Verdrängung von Triebregungen einher. Um die „‚Internalisierung’ des gesellschaftlichen Zwanges zu erreichen, die dem Individuum stets mehr abverlangt als sie ihm gibt, nimmt dessen Haltung gegenüber der Autorität und ihrer psychologischen Instanz, dem Über-Ich, einen irrationalen Zug an. Das Individuum kann die soziale Anpassung nur vollbringen, wenn es an Gehorsam und Unterordnung Gefallen findet; die sadomasochistische Triebstruktur ist daher beides, Bedingung und Resultat gesellschaftlicher Anpassung.“12

Hierdurch bleiben Aggressionspotenziale und Ängste übrig, die sich an dem Fremden, „Anderen“ entladen können. Der geforderte blinde Glaube an die Autorität, an Vater Staat, geht einher mit der Bereitschaft das anzugreifen, was vermeintlich störend, schwach ist – die Opfer sind dann immer die vermeintlichen gesellschaftlichen Außenseiter: Die Farbigen, die „Anderen“, die Punks, die Juden usw. Erziehung zu Gehorsam, zur Fixierung auf Nation, Staat, auf „unsere DDR“ ist eine der Ursachen für den teilweise vorhandenen Rassismus in der DDR-Bevölkerung.

Die SED hat diese Erziehung zur nationalen Identitätsbildung, Staatsfixiertheit tatkräftig gefördert, sie hat aber die Folgen – Rassismus und Fremdenhass – nicht sehen wollen, sie wurden in der Öffentlichkeit unterdrückt, wegzensiert. Letztendlich war die SED dafür mitverantwortlich, dass es in der DDR Rassismus und Neofaschismus als „neues“ Phänomen gab. Der Antifaschismus war offizielle Staatsdoktrin und die allermeisten Nazigrößen waren bereits 1945 in den Westen geflohen, etliche NS-Mitläufer konnten jedoch in der Anonymität verschwinden bzw. fanden Jahre später sogar Aufnahme in der SED. Mit der Reduktion auf die wirtschaftspolitischen Ursachen des Faschismus erklärte die SED in Anlehnung an die KPD und an die berühmten „Dimitroff-Thesen“, die dieser 1935 auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale vertreten hatte, sowohl den Aufstieg des Nazi-Faschismus als auch sogleich seine Überwindung in der DDR, dieser wäre eben mit seinen wirtschaftlichen Ursachen im Kapitalismus in der DDR beseitigt worden. Hinzu kam, dass ein gesellschaftlich tief wirkender Bruch zwischen den Generationen in der 40jährigen DDR-Geschichte im Gegensatz etwa zur BRD nicht auftrat, wie er dort von der Studentenbewegung um 1968 bewirkt worden war. Eltern und Staat wurden nie daraufhin hinterfragt, welche Elemente autoritärer Erziehung, kleinbürgerlicher Spießigkeit sie aus der Zeit des Nazi-Faschismus mit übernommen hatten – eben weil ja der DDR-Staat von vornherein, quasi per Definition, ein antikapitalistischer und damit eben auch antifaschistischer Staat von Geburt an war. So wurde auch nie thematisiert, welche Zusammenhänge z. B. die patriarchalische Familie und die Sexualunterdrückung mit autoritärem, männlichem Denken hat.

Das war auch in der KPD der Weimarer Zeit nicht anders. In den proletarischen Groschenromanen von Walter Schönstedt u. a. ist häufig von „sittlicher Verwahrlosung“ oder „leichtfertigen Frauenzimmern“ zu lesen, die für Kommunisten natürlich kein Vorbild sein konnten.13 Das war die „anpassungswillige“, sich mit ihrer Rolle als Frau, Sexualobjekt und Mutter abfindende proletarische Frau. Die proletarische Familie war monogam, die geschlechtliche Rollenverteilung und die entsprechende Arbeitsteilung entsprachen der aus Bürgertum und Patriarchat übernommenen. Befreiung der Frau hieß in der DDR vor allem Integration in den Produktionsprozess und staatliche Hilfe bei der Kindererziehung. Ansonsten blieb alles beim Alten. Die sexuelle und ökonomische Ausbeutung in der Familie durch den Mann konnte fortgesetzt werden und war natürlich auch nie öffentliches Thema. Genauso wenig wie Gewalt gegen Frauen, wie Kindesmisshandlung usw. Alles dies waren in der Öffentlichkeit Tabu-Themen. Eben deshalb konnte auch nicht der Zusammenhang von Frauenunterdrückung, sexualfeindlicher Erziehung in Familie und Schule und die Herausbildung des autoritären Charakters in der politischen Öffentlichkeit thematisiert werden. Umso hilfloser stand die SED-Führung auch in der Wende dem an sich ja per Staatsgründung überwunden geglaubten faschistischen Denken gegenüber, welches sich nun auch in der Öffentlichkeit präsentierte. Die von der SED geforderte Anpassung und Unterordnung hatte zugleich auch den Wunsch nach „einem Führer“ hervorgebracht.

Die Angst vor Freiheit und Selbstbestimmung auf allen gesellschaftlichen Ebenen war das Resultat einer völlig verfehlten autoritären Partei-Politik, die sich immer gegenüber dem Votum der Klasse, der Massen abgeschottet hat und stattdessen Befehl und Gehorsam predigte. Der offizielle Antifaschismus blieb deshalb immer aufgesetzt. Die SED hatte damit zweifelsohne über 40 Jahre ihre Herrschaft nach innen absichern können. Aber letztendlich hat die SED damit das System reif geschossen für „den Anschluss“ der DDR an die BRD. Das ist die eigentliche Hypothek und die historische Erblast der SED.

Der „Blick von links“ im Westen auf die DDR
Allgemein war in den autonomen VV‘s und auch in den Zeitschriften wie der radikal oder später der unzertrennlich und der interim bis zum Regierungsantritt von Gorbatschow nur sehr, sehr wenig über die DDR zu lesen und zu hören. Uns Autonome interessierte mehr was in Italien in den autonomen Zentren, in
Amsterdam bei den Kraakers oder in Frankreich und Großbritannien los war, wie wir die dortigen Kämpfe der Autonomen und AnarchistInnen unterstützen konnten. Die DDR war vielen von uns ziemlich fern, das war nicht unser Ding, so wollten wir nicht leben. Das war einfach der andere deutsche Staat – und eben auch ein Herrschafts-Staat. Den allermeisten von uns, bis auf ein paar Antiimps, war er in keinerlei Hinsicht ein Vorbild. Bei den meisten von uns war dies eher eine gefühlsmäßige Ablehnung, manche von den Jüngeren waren mal in den Sommerferien in einem FDJ-Lager und berichteten danach über die herzlichen aber auch kontroversen Debatten mit den DDR-Jugendlichen und erzählten skurrile Geschichten um die Auseinandersetzung von schwarz-roten Sternen am autonomen Zeltdach.

Noch anders sah es in Westdeutschland aus. Dort war die DDR noch weiter weg und dort konnte die Propaganda der DKP und ihres Uni-Ablegers MSB Spartakus teilweise das Bild von der sozialistischen Alternative aufrecht erhalten. Dies galt insbesondere in den Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses Anfang der 1980er Jahre, als die UdSSR als die friedfertige Macht dargestellt wurde, die zudem die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen in Mittelamerika und in Afrika unterstützte. Der DKP gelang es durch ihr Konzept der „gewerkschaftlichen Orientierung“, das weit verbreitete sozialdemokratische Bewusstsein unter den StudentInnen der 1970er Jahre geschickt auf ihre Fahnen umzuleiten und noch mit einer Prise verbalradikaler kommunistischer Orientierung zu versehen. In der politischen Alltagsrealität standen der MSB Spartakus und die DKP immer auf Seiten der DGB-Gewerkschaften. Z. B. kam es zu regelmäßigen Auseinandersetzungen auf den 1.-Mai-Demonstrationen, wenn wir Linksradikalen einen eigenständigen Block bildeten und das sozialpartnerschaftliche Modell der DGB-Fürsten angriffen. Dann trat die DKP als Ordnungsmacht und Schlägertrupp des DGB auf – so skurril ging es damals zu. Die DKP wurde nicht nur für die Antiatomkraftbewegung, sondern auch für basisorientierte BetriebsarbeiterInnen zu einem erbitterten politischen Gegner. Warum agierten die DKP‘ler so? Die KommunistInnen jedweder Couleur bestimmten immer gerne was als „links“ zu gelten hatte und ließen keinerlei Abweichungen zu. So wurden bis Ende der 1980er Jahre die Autonomen in der DDR-Presse als „kleinbürgerliche Elemente“ klassifiziert. Was bei uns eher ein Lächeln hervorrief und uns adelte, denn mit „denen da von der SED“ wollten wir nix zu tun haben.

Und nach 1989?
Wir haben nach dem Mauerfall für ein paar Monate staunend neben uns gestanden, wunderten uns, wie viele auch unter uns über den Zusammenbruch der sozialistischen Länder jammerten, die doch nie sozialistisch waren. Die BRD und die NATO konnten jetzt durchmarschieren, sich ganz Osteuropa aufteilen und das verursachte schon ganz schönen Katzenjammer. Der Golfkrieg und die neue Weltordnung des Herrn Bush bestätigten die schlimmsten Befürchtungen. Die Befreiungsbewegung in Nicaragua, die FSLN, wurde abgewählt. Ein paar Jahre später erklärte die FMLN in Salvador das Ende des Guerillakrieges. Die ArbeiterInnenklasse in Ost und West sorgte sich mehr um die sinkenden Reallöhne und die Massenarbeitslosigkeit, als dass sie die Systemfrage stellte. Uns Linksradikalen war das „revolutionäre Subjekt“ abhanden gekommen. In dem neuen Großdeutschland war der Weg zur „Revolutionierung des Alltagslebens und der Verkehrsformen selber“ (Marx) nun in noch weitere Ferne gerückt. Stattdessen machten sich allerorten eine neuer Rassismus und Nationalismus breit.

Mit dem Verlust des revolutionären Subjekts ging auch das Ende der „großen Theorien“ einher. Weder der Marxismus noch der Leninismus oder der daraus sich herleitende Antiimperialismus konnten die globalen Veränderungen, z. B. den Aufstieg des ehemals kommunistischen Chinas zur Wirtschaftsweltmacht, hinreichend erklären. Die alte bipolare Weltordnung des „Kalten Krieges“ war zerfallen. Stattdessen trat der Kapitalismus seinen ungehemmten Siegeszug an. Aber das auch nur für ein paar Jahre, dann tauchten die ersten Stoppzeichen auf, wie die Ya-Basta-Bewegung in Chiapas 1994. Ihre Parole, „Fragend schreiten wir voran“, drückte sehr schön den neuen Zeitgeist aus, der sich dann Ende der 1990er Jahre in der neuen Welt umspannenden Widerstandsbewegung manifestierte. Die Antiglobalisierungsbewegung in Seattle 1999 initiierte ein neues internationalistisches Bewusstsein der Linken. Vor allem in dem Sinne, dass es weltweit Kämpfe um Würde und Gerechtigkeit gibt, die von ganz unterschiedlichen AkteurInnen, von BäuerInnen, MigrantInnen, von SlumbewohnerInnen und von streikenden ArbeiterInnen in den Weltmarktfabriken getragen werden – und die eben nicht auf einen Nenner des „revolutionären Subjekts“ reduzierbar sind.

Zurück zu der Zeit nach dem Mauerfall: Einige von uns hegten die Hoffnung, zusammen mit der DDR-Linken jetzt erst recht das Projekt einer sozialistischen Alternative zu entwickeln. Das erwies sich schnell als Luftschloss, weil die Alltagsrealität in Ost und West im Kampf gegen den zunehmenden Rassismus und Faschismus, aber auch im Kampf gegen die Abwicklung der DDR-Industrie durch die Treuhandgesellschaft einfach zu viele Kräfte absorbierte. Wir Linksradikalen blieben in der hoffnungslosen Minderheit und beschränkten uns auf Teilbereichskämpfe und überließen der PDS die Formulierung von gesellschaftspolitischen Alternativen, die sich schnell in Regierungskoalitionen mit der SPD blamierten. Die PDS/Linke blieb einfach eine sozialdemokratische Staatspartei, mit der wir punktuell, wie in der Antifa-Politik, zusammenarbeiten können – aber eben keine linke Alternative.

Einen wesentlichen Vorteil für das politische Handeln „der Linken“ sehe ich gerade darin, dass es für unsere Gegner das (abschreckende) Feindbild des realen Sozialismus nicht mehr gibt. Allerdings ist die antikapitalistische und antipatriarchale Linke deshalb mehr denn je gefordert, selbst Wege und Utopien aufzuzeigen, wohin die Entwicklung gehen soll.

Wie steht es um die kritische Aufarbeitung des „real-existierenden Sozialismus“?
Zumindest einige von uns haben es sehr wohl versucht mit einer kritischen Aufarbeitung. So diskutierten wir im Sommer 1990 mit 50 jungen Genossinnen aus Ost- und Westberlin in einem gemeinsamen Seminar über den Stalinismus in der UdSSR und seine Abwandlungen in der DDR. Dazu wurde in der damals weit verbreiteten Szenezeitschrift interim ein langes Papier veröffentlicht. Aber da Theoriearbeit noch nie die Stärke der Autonomen war und zudem einfach ganz handfeste Solidarität mit der noch jungen Antira- und Antifa-Szene gefordert war (Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, die Ermordung von Silvio Meier, die Nazi-Hochburg in der Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg u. a.), konnten wir uns nicht lange mit einer DDR-Aufarbeitung aufhalten. Uns war die praktische Aktion von Ost- und Westlinken wichtiger. Dabei traten genug Verständigungsschwierigkeiten auf. Aber aufgrund des langsam entstehenden Vertrauens haben wir, was z.B. die DDR-offizielle Faschismusaufarbeitung und die westlichen Verdrängungsleistungen anging, dann viel miteinander debattiert und voneinander gelernt. Das ist selten niedergeschrieben worden, insofern ist das eher eine Oral-History geblieben.

In der BRD-Presse und besonders im berühmt-berüchtigten Hannah-Arendt-Institut in Dresden wird weiterhin an der Gleichsetzung von Stalinismus und Nazi-Faschismus gearbeitet, um damit die Verbrechen des Nazi-Faschismus zu relativieren (die bürgerlichen Parteien in Westdeutschland haben ihre Verantwortung für die kollektive Verdrängung des Nazi-Faschismus schon vor Jahren zurückgewiesen). Die Kehrseite der Medaille bilden einige (ostdeutsche) Kreise der Partei „Die Linke“. Nach wie vor fehlt hier die Bereitschaft für eine schonungslose Aufarbeitung der stalinistischen Herrschaft unter der SED. Auch in diesen Kreisen fehlt eine (selbst)-kritische historische Reflexion. Stattdessen läuft eine kollektive Verdrängung im Sinne von: alle waren nur Mitläufer, alle waren nur Opfer. Und alle wollten doch nur das Eine: Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Recht und Freiheit.

Allerdings: Die Frage, welche Vorbilder diktatorische Regime gerade in den sogenannten Errungenschaften der europäischen Zivilisation haben, wurde auch im Westen allzu gerne beiseite geschoben. All diesen „Unschuldslämmern des Humanismus“, die sich in jedem autoritärem System sofort zu den eigentlichen Opfern erklären, hat André Glucksmann am Ende seiner Bemerkungen zu Solschenizyns Archipel GULAG den Spiegel vorgehalten:

„Zwischen den Erfindern und den Restaurateuren der bürgerlichen Staaten, zwischen dem von oben eingesetzten jakobinischen Schrecken und den Nazi-Schrecken steht die UdSSR in der Mitte: Mit ihrem Verdächtigungsgesetz und ihren Lagern, unter dem Banner des Marxismus und dem Artikel 58. Nicht der asiatische Despotismus erfanden das ‚Hôpital général’, die Guillotine und die einsparende Rationalisierung durch Zwangsarbeit, sondern unser Abendland. Jetzt aber zögert es, seine eigene Geschichte im russischen Spiegel wieder zu erkennen.“14

Anders gesagt: Wer vom Stalinismus redet, sollte vom alltäglichen Terror des Kapitalismus und seiner humanistischen Verklärung nicht schweigen. Im Namen der Freiheit und des Humanismus werden seit über 500 Jahren ganze Erdteile unterjocht, ganze Völker vertrieben, niedergemetzelt und ausgerottet oder in die modernen Zwangsarbeitslager der Weltmarktfabriken der Multis oder die Hungerlager der Flüchtlinge an den Grenzzäunen der Metropolenstaaten gesteckt. Davon redet keine/r der Wendehälse, wie ein Herr Gauck oder eine Frau Merkel.

Mit den alten poststalinistischen ML-Professoren aus der DDR hatten wir nie viel zu tun. Eher schon mit der RIM, die einige Jahre mit Stalinbildern auf der 1.-Mai Demo auftauchten, was für uns gar nicht ging. Wir haben uns mit denen heftige Kloppereien geliefert, wo wir manchmal auch verloren, weil viele von uns das nicht wichtig fanden und sich raushielten, getreu der Devise: „Diese vier Bärtigen da vorne, Marx, Engels, Lenin und Stalin – das ist doch alles Mummenschanz“.

1 Zit. nach: Zimmermann: Politische Aspekte des Konzepts WTR in der DDR, in: Deutschland-Archiv, Sonderheft 76, S. 36.
2 Walter Ulbricht, zit. nach: Ebd., S. 38.
3 Zit. nach: Ebd., S. 39.
4 Vgl. Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977, S. 204 ff.
5 Vgl. Lexikon der Wirtschaft, Bd. 6, Berlin (DDR) 1974, S. 55.
6 Zit. nach: H. Bartoszyk: Erfahrungen und Probleme der 8. SED-Parteiorganisation des VEB Werkzeugmaschinenfabrik Magdeburg in der ideologischen Arbeit zur komplexen sozialistischen Rationalisierung, in: DZfPh 71, S. 544 ff.
7 So Enzo Modugno: „Arbeiterautonomie und Partei“, in: Claudio Pozzoli (Hg.), Jahrbuch Arbeiterbewegung 3: Die Linke in der Sozialdemokratie, Frankfurt/M. 1975, S. 284-309.
8 Vgl. Karl Marx: Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (DDR) 1954, S. 211.
9 Ebd., S. 636.
10 Im September 1988 tagten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank in Westberlin, wobei TeilnehmerInnen dieser Tagung auch in Ostberlin Hotelplätze buchen konnten.
11 H. J. Maaz: „Stalinismus als Lebensform“ in: Der Spiegel, 26. 2. 1990
12 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973, S. 323.
13 Vgl. etwa Walter Schönstedt: Kämpfende Jugend (erschienen 1932), aktuell: http://nemesis.marxists.org/schoenstedt-kaempfende-jugend-druckversion.htm. Der Westberliner Oberbaumverlag hatte in den 1970er Jahren eine ganze Reihe mit diesen proletarischen Groschenromanen aufgelegt. Siehe auch Michael Rohrwasser: Saubere Mädel. Starke Genossen. Proletarische Massenliteratur? Frankfurt/M. 1975.
14 André Glucksmann: Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager, Berlin 1978, S. 168.

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