mediales: dem buch ist es auch egal wann es gelesen wird

Von Knobi
aus telegraph #127|128

Nun, ich hoffe, dass die folgende Erfahrung nicht jedeR schon mal machen musste: Hektik am Schreibtisch, das Telefon klingelt (bereits zum dritten Mal, es nervt), schnelles Aufstehen, mit dem Fuß bleibe ich im Stromkabel des Laptops hängen und ehe ich mich versehe, knallt das Teil hinter mir auf das Parkett. Verdammt. Nach Erledigung des Telefonates „Erste Hilfe“ für mein elektronisches Schreibgerät – war ja nicht das erste Mal – aber diesmal tödlich. Wörtlich konstatierte mein PC-Kenner: „Die Festplatte ist physisch tot.“ Noch mal verdammt. Und was ist nun mit meinen Fotos der letzten zwei Jahre? Meiner Datei mit den Buch-Neuerscheinungen? Meinen Projekten (den angefangenen und den beendeten)? „Hast Du keine Sicherung?“ Nöö! Verdammt zum dritten Mal. Die angeblichen Vereinfachungen des alltäglichen Lebens können sich als Falle entpuppen.

Scheiß-Technik. Aber wenn ich beim letzten Mal darauf verwies, dass es dem Buch egal sei, wie (elektronisch oder in Papierform) es gelesen wird, dann behaupte ich heute auch mal, dass es dem Buch egal ist, wann es gelesen wird. Denn neben den tagespolitischen Diskussionen, wird es immer Bücher geben, die ihre Zeit überleben, und darauf warten, bis Du für ihr Thema reif bist. Mit dem Lesen von Büchern sollte sich niemand quälen. Zur richtigen Zeit findet mich auch das richtige Buch. Keine Angst, das ist so.

Literatur
Eine wahre Herkules-Aufgabe hat sich der Herausgeber Siegbert Wolf und der Verlag Edition AV gestellt, in dem er sich der Aufgabe der erstmals-Gesammelten Werke von Gustav Landauer stellte. Jetzt aber kommen regelmäßig die Bände seit 2008. Und frisch aus der Druckerei:
Gustav Landauer; Literatur. Ausgewählten Schriften Band 6.1 und 6.2, Hrsg. Siegbert Wolf, Verlag Edition AV, Lichen /Hessen 2013, mit Illustrationen von Uwe Rausch, 357 und 375 S., je 18 Euro

Erstmals sind hier alle Rezensionen, Essays usw. versammelt, die Landauer von 1900 bis zu seiner Erschlagung durch die reaktionäre Soldateska veröffentlicht hat. Neben umfangreichen und informativen Einleitungen zeigen sie ein ganzes Spektrum der damaligen fortschrittlichen Literatur auf, das z. T. bis heute seine Gültigkeit hat. Lesenswert.

Der Surrealismus hat eine ganze Reihe berühmter und weniger berühmter, aber meist außergewöhnlicher Menschen hervorgebracht. Zu den weniger bekannten, aber nichts desto trotz spannenden Figuren gehört der Belgier Marcel Mariën (1920-1993), und ich bin begeistert, von seinem in Deutsch gerade mal zweiten Buch:
Marcel Mariën; Das Massengrab. Humoresken. Karin Kramer Verlag, Berlin 2012, mit teilfarbigen Abb., 192 S., 18 Euro.

Neben den typisch surrealen Geschichten hat der Herausgeber und Übersetzer Heribert Becker mit seinem 41seitigen Nachwort auch gleich eine kurze Geschichte des belgischen Surrealismus geschrieben, der eben nicht nur aus René Magritte bestand. Mariën, ein Tausendsasser, wäre es zu wünschen, auch im deutschsprachigen Raum bekannter zu werden. Auch ein wunderbares Buch, um es immer mal wieder zwischendurch zur Hand zu nehmen und eine kleine Geschichte zu lesen.

Religion
Seit ca. 250 Jahren dürfen auch schon mal religionskritische Bücher erscheinen, und irgendwie haben wir z. T. heute das Gefühl, diese Religionspest überstanden zu haben, da meldet sich der mittlere Westen der USA und pocht darauf, dass die Bibel mitsamt seiner obskuren Geschichten wörtlich zu nehmen sei – und Präsidenten darauf schwören. Es ist zum Mäusemelken. Daher hier aus aktuellem Grund:
Alfred Binder; Religion. Eine kurze Kritik. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2012, 172 S., ??? Euro.

Eine kurzweilige Auseinandersetzung mit den gängigsten Argumenten mit denen die Anhänger des Irrationalen uns immer noch versuchen einzulullen. Ein immer noch wichtiges Thema.

Ein anderes wichtiges Thema ist immer wieder der Antisemitismus. Der von rechts ist schon schlimm genug, aber den gibt es auch von links (sind ja keine Heiligen!). Daher hier ebenfalls frisch aus der Druckerei:
Peter Nowak; Kurze Geschichte der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken. Edition assemblage, Münster 2013, Reihe: Antifaschistische Politik, Bd. 4, 94 S., 9,80 Euro.
Leider, weil wirklich gerade aus dem Briefkasten gefischt, ich jetzt noch nicht reinsehen konnte, kann ich außer dem Titel hier jetzt nicht viel wiedergeben, aber vielleicht wäre dieser Band auch mal für eine etwas ausführlichere Rezension im „telegraph“ geeignet.

Anarchismus
Neben Pamphleten, die sich scheinbar großer Beliebtheit erfreuen, aber inhaltlich doch öfter zu wünschen übrig lassen, erschienen immer wieder „Einführungen“. Hier ist sicher die bekannteste Reihe
theorie.org, und bisher auch eine der besten. Ein neuer Band, den ich allen nur empfehlen kann ist:
Wolfram Beyer; Pazifismus und Antimilitarismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2012, Reihe: theorie.org, 237 S., 10 Euro.

Der seit Jahrzehnten aktive Anarcho-Pazifist Wolfram Beyer hat hier minutiös und sehr umfassend die Ideengeschichte zusammengefasst und damit versucht, ein Vorurteil der passiven, Wange hinhaltenden Danebenstehenden auszuräumen.

Auch die Sammelbände feiern fröhlich Urstände, und ich muss gestehen, dass ich bei dem folgenden erstmal die Augenbrauen etwas verzog aber mit steigender Begeisterung gelesen habe:
Ilja Trojanow (Hg.); Anarchistische Welten. Edition Nautilus, Hamburg 2012, 219 S., ??? Euro.

Trojanow, der selbst eine umfangreiche und lesenswerte Einführung hier schreibt, versammelt eine ganze Riege von spannenden AutorInnen, samt den unterschiedlichsten Ansätzen, die wahrlich Welten eröffnen. Einer der besten Sammelbände zum Thema seit Jahren!

Hier noch eine „Einführung“: Nachdem – auch ich – immer wieder an dem „Neuen“ Anarchismus aus den USA Kritik geliefert habe, hat hier der Aktivist, Publizist und Übersetzer Gabriel Kuhn nun ein kleines Büchlein übersetzt, welches absolut ernst zu nehmen und lesenswert ist:
Cindy Milstein; Der Anarchismus und seine Ideale. Unrast Verlag Münster 2013, 95 S., 7,80 Euro.

Fern ab vom jugendlichen Streetfightergehabe, scheint hier eine Stimme dieser neuen Bewegung vernehmbar, die Hoffnungen macht, und uns auch über einen gewissen Eurozentrismus in der Anarchismusfrage nachdenken lässt.

Und zum Schluss noch mal was Gewichtiges aus der Historie: Selbst wenn es Menschen gibt, die Spanien für „olle Kamellen“ halten, ist dieses Buch – trotz seiner Wissenschaftlichkeit – ein sehr zu empfehlendes Werk:
Martin Baxmeyer; Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild. Edition tranvía / Verlag Walter Frey, Berlin 2012, 599 S., 36 Euro.

Fast wie ein Lebenswerk kommt es daher, sehr gewichtig, aber trotzdem dazu geeignet, in die Zeit zu versinken und einen Stoßseufzer gen Spanien zu schicken, der nicht nur an das Potential des Sonnenscheins gerichtet ist.
So, trotz Computerabsturz, schließlich geht das Leben ja weiter, hoffe ich, für die jetzt endlich kommende Freiluftsaison einige Empfehlungen abgegeben zu haben, die neugierig machen und ihre LeserInnenschaft finden werden.

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