Über die Rationalität des Terrors und zur Soziologie des Verrats am Beispiel der SED-Parteikontrolle

Welche Möglichkeiten eröffnen sich dem Historiker, die Herrschaftstechniken politbürokratischer Regime zu entschlüsseln? Gibt es eine rationale Erklärung für die Anwendung irrational erscheinender terroristischer Exzesse in solchen Gesellschaften? Hier ein Versuch, diesen Fragen am Beispiel der DDR und der SED nachzugehen.

Von Thomas Klein
aus telegraph #127|128

Vorbemerkung
Konkurrierende Erklärungsversuche zur Rationalität terroristischer Gesellschaftsformierung in vergangenen und zeitgenössischen Diktaturen sind nach wie vor Gegenstand hochpolitisierter Kontroversen. Bisher dominierte die Problematisierung und Kritik am Dogmatismus und der relativistischen Gleichsetzung von Stalinismus, Kommunismus und Faschismus/Nationalsozialismus durch totalitarismustheoretische Deutungen in ihrer antikommunistischen Variante. Soweit es den heutigen Stand der Diskurse über den historischen Stalinismus betrifft, so erweist sich, dass Spielarten einer Verharmlosung dieser terroristischen Formation geradezu gegensätzliche Erklärungsmuster aufweisen können:
Philostalinistische Rechtfertigungsideologen sehen im Terror des Hochstalinismus in der Sowjetunion eine alternativlose Logik damals notwendiger innerer politischer Festigung der neuen Ordnung im Namen ihrer Verteidigung gegen deren übermächtige äußere Feinde. Selbst die Opfer des Terrors im Zwangsarbeitssystem der Gulags hätten zur dafür ebenso notwendigen schnellstmöglichen nachholenden Industrialisierung dieses unterentwickelten Landes beigetragen. Hier erscheint die Antwort auf die eigentlich sinnvolle Frage nach der Rationalität des Terrors als seine Rechtfertigung – als unhintergehbare Folge von äußerer Bedrohung, ökonomischer Unterentwicklung und politischem Behauptungswillen. Hier wird weder die Frage nach der Natur und den Bedingungen der Entstehung des dazu erforderlichen Herrschaftssystems gestellt, noch die von ihm geschaffene neue soziale Ordnung und ihre Widersprüche charakterisiert. Deshalb erübrigt sich innerhalb solcher Deutungen auch die Frage nach Alternativen. Dabei brauchte die neue herrschende politbürokratische Oberschicht, um eine ganze Gesellschaft zu terrorisieren, in dieser neu zu organisierenden sozialen Ordnung schließlich hunderttausendfach Komplizen, welche nicht „von Anfang an“ existierten und die an dieses System gebunden werden mussten.

Eine andere gerade „moderne“ und vollkommen gegensätzliche Spielart der Charakterisierung des großen Terrors in der Sowjetunion ist seine Reduzierung auf die psychopathologische Charakterstruktur Stalins, welcher die „Ermöglichungsräume“ vormoderner Gesellschaftsverfasstheit für seine Entäußerung krankhaften Vernichtungswahns zu nutzen verstand.1 Die Rückkehr zu solchen alten Denkfiguren (abgewandelt früher vielfach auch auf Hitler und den Nationalsozialismus angewandt) entwertet zugunsten dieser Deutung nicht nur die nähere Betrachtung und Differenzierung der (zuvor) durchaus wahrgenommenen „Ermöglichungsräume“, sondern verzichtet sogar auf die Hervorhebung der „Rolle der Idee“. Dies war auch Chrustschows Diktum, der 1956 mit seiner verharmlosenden Formel vom „Personenkult“ das installierte System (ohne Massenterror) retten und die ideologische Fassade erhalten wollte. Aus heutiger Sicht „originell“ im Kontext antikommunistischer Stalinismuskritik ist Baberowskis Ansatz insofern, als sich seine Deutung schlecht für die heute gängige Identifizierung der „kommunistischen Idee“ mit dem Stalinismus eignet.

Die Verharmlosung des Stalinistischen Terrorsystems sowohl in Gestalt seiner pseudorationalisierenden Rechtfertigung als auch seiner Banalisierung und Dämonisierung als irrationale psychopathologische Entartung des Führungspersonals sind antiaufklärerische Rückfälle in ganz alte Denkmuster. Dies ist angesichts der inzwischen verfügbaren Fülle historischen Materials auf den ersten Blick äußerst erstaunlich – auf den zweiten Blick jedoch keineswegs, wenn die Verhaftung der Interpreten in ihre jeweiligen Weltbilder im zeitgenössischen Deutungskampf mitgedacht wird. Auch der im Folgenden unternommene Versuch, am Beispiel der DDR und der SED über solche Ansätze hinauszugehen und solcher Verharmlosung zu entgehen, hat sich natürlich solchem Vorbehalt zu stellen. Grundsätzlich geht es darum, zur Entschlüsselung der Natur des etablierten Herrschaftssystems (insbesondere der Rationalität seiner terroristischen Merkmale) beizutragen, ohne die Frage der subjektiven Verantwortlichkeit von Angehörigen der den Herrschenden dienstbaren Schichten zu umgehen.

Parteikontrolle und gesellschaftliche Synthesis – Die SED als Objekt und Subjekt politischer Formierung

1. Die Frage der richtigen Perspektive
Um eine Gesellschaft wie jene in der DDR, die so stark „durchherrscht“ war, in ihrer Entwicklung begreifen zu können, ist man rasch geneigt, sie vornehmlich über eine Analyse der Tätigkeit ihrer Repressions- und Kontrollorgane zu entschlüsseln. Das Geflecht sich verändernder sozialer Beziehungen, Abhängigkeiten und Triebkräfte in einer Gesellschaft ist aber viel komplexer, als dass es allein aus einer solchen Perspektive heraus verstanden werden könnte. Die interessengeleiteten Formierungsabsichten der Parteibürokratie, sei es in Gestalt der Verfügungen des Parteiapparats oder mittels der Bestrebungen des von ihm dirigierten Staatsapparates – etwa der Sicherheitsorgane – sind anhand des historischen Materials verhältnismäßig leicht zu veranschaulichen. Doch nicht nur in Diktaturen stößt obrigkeitsstaatlicher Gestaltungswille an die Grenzen der von den tatsächlichen gesellschaftlichen Widersprüchen erzeugten Widrigkeiten. Auch in einem autokratischen Regime fielen die Formierungsziele der Herrschenden und das Resultat solcher Anstrengungen zumeist weit auseinander. Und doch war dieser bürokratische Gestaltungswille selbst Teil des entstehenden Widerspruchsgefüges, so wie die SED selbst Teil der Gesellschaft war und ihr nicht einfach (als „Herrscher“ den „Beherrschten“) gegenüberstand. Allein die Tatsache, dass die Massen- und Funktionärspartei SED selbst zum mitunter präferierten Objekt von „Säuberungen“ wurde, um sie in den Dienst einer von der Politbürokratie betriebenen Transformation der sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verkehrsformen stellen zu können, macht dies deutlich. Nicht allein die interessegeleiteten Manöver der Parteiführung, sondern ebenso die mitunter stark kontraintendierten Resultate ihrer machtgeleiteten Umgestaltungsversuche sowie die gesellschaftlichen Gegenbewegungen (Widerstand, Opposition oder Gegenöffentlichkeiten) erzeugten die Trieb- und Sprengkräfte nominalsozialistischer Gesellschaftlichkeit.
Anstrengungen ihrer formationstheoretischen Charakterisierung müssen also stets von den realen gesellschaftlichen Widersprüchen ausgehen, die sich größtenteils fernab der Planungen einer scheinbar allmächtigen Parteiführung herausbildeten.

2. Das Aufgabenspektrum der Parteikontrollkommissionen
Im Folgenden wird von einer besonderen Institution des SED-Parteiapparates die Rede sein, nämlich seinen innerparteilichen Kontrollorganen. Im kollektiven Gedächtnis der SED-Mitglieder war mit dem Namen „Parteikontrolle“ zumeist das Bild der Überwachung ihrer „Linientreue“ verbunden. So wie der Erfolg einer Formierung politbürokratisch zu organisierender Gesellschaftlichkeit wesentlich von der Effizienz staatlicher Sicherheitsorgane abhing, war die Effizienz der innerparteilichen Kontrollorgane entscheidend für den Erfolg einer Transformation der SED in eine disziplinierte Kader- und Massenpartei, mit deren Hilfe ausgearbeitete politbürokratische Zwecksetzungen überhaupt erst in Gang gesetzt werden konnten. Jedoch wird rasch klar, dass die Fixierung auf die Funktion der Parteikontrollorgane als „innerparteiliche politische Polizei“ und damit als In­strument zur Verfolgung oder Disziplinierung vermeintlicher oder tatsächlicher „Abweichler“, zur Ausschaltung von „Parteifeinden“ und zum „Durchrütteln“ des SED-Mitglieder­bestandes zu eng ist. So zentral diese repressionsorientierten Aufgaben für die Parteikontrolle auch gewesen sind, so wichtig ist es ebenso, ihre Rolle beim „Durchstellen“ konsensorientierter und entspannungsgeleiteter Kurswechsel der SED-Führung bei der Erziehung ihrer Funktionäre und Mitglieder zu verstehen. Gerade in Phasen, in denen kurzzeitig eine realistischere, selbstkritischere und moderatere SED-„Innenpolitik“ verabredet wurde, kam den Parteikontrollorganen eine wichtige Funktion bei der Regulierung vergangener „Überspitzungen“ auch der eigenen Tätigkeit zu. Gerade in solchen Zeiten kann auch davon gesprochen werden, dass Parteimitglieder mit Erfolg die Parteikontrollorgane für den Schutz gegenüber Funktionären ihrer eigenen Partei oder des Staatsapparates in Anspruch nahmen. Ohne die Frage nach der politischen Verantwortung für deren frühere Exzesse je ernsthaft gestellt zu haben, waren die Kontrollorgane zum Beispiel Anfang der sechziger Jahre glaubwürdig bemüht, die unhaltbare Lage eines permanenten politischen „Ausnahmezustands“ mit seinem absurden Verfolgungseifer und seiner kontraproduktiven Unzahl von Disziplinierungsopfern zu ändern. Dies hatte, wie immer bei Kurswechseln, zu geschehen, ohne die eigene federführende Rolle sowie die der hauptverantwortlichen Parteiführung bei der Durchsetzung des „alten Kurses“ ins Blickfeld zu rücken, wenn die obligate Selbstkritik geübt wurde und die schlimmsten Schäden auszubessern waren. Es galt, die „richtigen“ Schuldigen an „Überspitzungen“ zu finden, die Kurskorrektur im Kaderkorps zu verankern, sie den Mitgliedern plausibel zu machen und all dies mit den geringsten politischen Unkosten und unter Umgehung allzu grundsätzlicher Rückfragen.

Ein dritter Aspekt der Parteikontrolltätigkeit war die Aufdeckung ordinärer, den Geschäftsgang parteiherrschaftlicher Normalität behindernder und den Ruf der SED schädigender Verfehlungen krimineller oder moralischer Art. Eine besondere Rolle spielten hier Auswüchse funktionsbedingter Anmaßung und von Vorteilsnahmen, Unterschlagungen und Korruption bei Staats- oder Parteifunktionären. Diese Erscheinungen unterschied die SED zunächst nicht von anderen Parteien auch in anderen politischen Systemen – selbst wenn es bizarr anmutet, dass gerade Mitglieder der solche Vergehen öffentlich missbilligenden SED-Führung diese selbst zuhauf begingen und bestenfalls dann dafür zur Rechenschaft gezogen wurden, wenn sie zuvor politisch ins Abseits geraten waren. Doch auch dies zeichnet die SED nicht unbedingt vor anderen Parteien aus. Die spezifische „Arroganz der Macht“ in Parteien wie der SED gewann ihre verbrecherische Intensität jenseits der Gefilde gewöhnlicher Korruption, einfacher Kriminalität oder ordinären Machtmissbrauchs vielmehr im Bereich kontrollfreier politischer Repression, deren Ahndung auch den Parteikontrollorganen unzugänglich bleiben musste, da sie diese selbst umzusetzen hatten. Hier darf der Blick nicht durch die Tatsache verstellt werden, dass die alltägliche Parteikontrolltätigkeit besonders auf der Kreisebene natürlich zu einem großen und oft überwiegenden Anteil aus Untersuchungen „unpolitischer“ Verfehlungen bestand. Immer wieder ermahnt von der Politbürokratie, verloren aber die Parteikontrolleure aller Ebenen dabei nie den Blick für die erstrangige Gefährdung der „Einheit und Reinheit der Partei“ durch politische Abweichungen, deren gefährlichster Formenkreis der des Widerstands und der Opposition war. So sah dann auch der statuarische Sanktionenkatalog, aber mehr noch die Parteikontrollpraxis aus: In beiden erschienen Korruption und Machtanmaßung fast schon als lässliche Sünden gegenüber der politischen Dissidenz. Dies heißt jedoch keineswegs, dass ersteres nicht konsequent geahndet wurde, wenn dem nicht politische Gründe entgegenstanden. Gleichzeitig wurden aber politische Vergehen zeitweise überaus drastisch geahndet – allerdings wieder nur dann, wenn dem nicht politische Gründe zuwiderliefen. Die besondere Verbindung von „Politischem“ und „Kriminellem“ (oder „Moralischem“) ergab sich vielmehr daraus, dass politisch Ausgestoßene oder Disziplinierte oft zusätzlich nach Kräften kriminalisiert oder – wenn es aus Opportunitätsgründen nicht anders ging – sie zunächst krimineller Delikte oder moralischen Fehlverhaltens „überführt“ wurden und die Parteikontrollorgane solche Verfehlungen dann in einem politischen Kontext interpretierten und abstraften.

Dieses überaus vielfältige und in wechselhaften Zeiten selbst wechselhafte Geschehen der Parteikontrolltätigkeit spiegelt auf einzigartige Weise das vielschichtige Konfliktpotential der DDR-Gesellschaft. Trotz verzerrender zweckbestimmter Überformungen der Untersuchungen und Analysen der Parteikontrollkommissionen hat sich in den hinterlassenen Dokumenten ihrer Tätigkeit die tabuisierte Widersprüchlichkeit der Gesellschaft eindrucksvoll abgebildet – ebenso wie die Vielzahl menschlicher Tragödien derer, die ihr Leben so oder so mit der Partei verbunden hatten. Anstrengungen der Parteikontrollorgane, die Partei zusammenzuhalten, konnten überhaupt nur dann gelingen, wenn wenigstens im Kontrollapparat die Konfrontation mit einer sonst so sorgsam verschleierten Wirklichkeit gewagt wurde, weil es aus der Sicht des SED-Apparats zu gefährlich war, sie einfach zu ignorieren.

3. Die Einbindung der Parteikontrollorgane in die Machtarchitektur politbürokratischer Regime
Dass sich die Rolle der SED-Parteikontrollkommissionen von denen der Schiedskommissionen in „gewöhnlichen“ Parteien so gravierend unterschied, geht auf die Machtarchitektur politbürokratischer Regime „sowjetischen Typs“ zurück. In politischen Parteien operiert man mit dem Vorwurf des politischen Verrats (in der Regel schwerster Verstoß gegen die im politischen Programm der Partei axiomatisch definierten Ziele der Parteitätigkeit), und man legt im Rahmen eines Sanktionenkatalogs für statutenwidriges Verhalten dafür in der Regel die „Höchststrafe“ (den Parteiausschluss) fest. Solcherart Umgang mit „Verrätern“ ist keine besondere Gepflogenheit stalinistisch oder politbürokratisch verfasster Parteien – er ist in den meisten Parteien aller politischen Systeme in ähnlicher Weise geregelt. Auch die Tatsache, dass gerade in hierarchisch strukturierten Parteien die Parteiführungen sich die Unschärfe dieses Vorwurfs für herrschaftsgeleitete Normensetzung und für die Etablierung autoritätsgestützten Treuezwangs zunutze machen, ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal staatssozialistischer Regime. Je unmittelbarer nun aber die Affinität von Staatsmacht und Parteientätigkeit ist, je reibungsloser der Zugriff regierender Parteien auf das staatliche Gewaltmonopol funktioniert – wenn etwa das Machtmonopol einer Partei sich als Staatsmacht repräsentiert (Staatsmacht als Parteidiktatur) –, desto ungebremster kann sich die herrschaftsgeleitete Indienststellung staatlichen Gewalthandelns zugunsten parteipolitischer Zwecksetzungen verwirklichen. Die Folgen sind gravierend: Die Konsequenzen tatsächlichen oder vermeintlichen politischen „Verrats“ an den Essentials programmatischer Selbstbindungen einer Partei, deren Mitglieder sich ihnen mit ihrem Beitritt ja freiwillig zu unterwerfen bereitfanden, konnten dann bei Bedarf leicht über den Bereich parteidisziplinarischer Sanktionen hinaus getrieben werden.

Wir kennen dies aus der Geschichte aller „staatssozialistischen“ Parteidiktaturen. Zur moralisch diskreditierenden Folgewirkung dort inszenierter öffentlicher „Entlarvungen“ von „Verrätern“ am politbürokratischen Gestaltungswillen trat häufig die strafrechtliche Sanktion solchen Handelns: Weil die Parteiführung ihre Macht „im Namen des Volkes“, mittels der von ihr beherrschten Partei und in eins gesetzt mit der von ihr instrumentalisierten Staatsmacht ausübte, war der „Parteifeind“ zugleich „Staatsfeind“ oder sogar „Volksfeind“. Es verstand sich ebenso, dass eine als „Klassenherrschaft“ verbrämte Parteidiktatur die Qualifizierung „Klassenfeind“ für den Verräter nahelegte. Zur politisch-moralischen Disqualifizierung und zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit kamen auch noch verschiedenartige soziale Diskriminierungen (etwa Berufsverbote und -behinderungen) hinzu. Weil so die Jagd auf Parteifeinde ebenso wie die politische Wachsamkeit beim Entdecken von politischen Abweichungen, aus denen Verrat erwachsen könnte, nicht allein Partei-, sondern gleichermaßen wie von selbst eine Staatsangelegenheit wurde, bekamen die Sicherheitsapparate und unter ihnen der Geheimdienst mit seinem spezifischen Arsenal konspirativer Methoden ein immer größeres Gewicht im Umgang mit solchen zumeist selbst inszenierten Herausforderungen.

Dem entsprach, dass staatlicherseits der vernichtenden Anklage des Verrats eine durchaus „ehrenwerte“ Variante diesen Typs entgegengesetzt wurde: In der politischen Herrschaftslogik staatsbürokratischer Regime waren die Denunziation von Abweichlern im Allgemeinen und die konspirative Tätigkeit der vom Geheimdienst geführten Spitzel zur Aufklärung politisch negativer Personenzusammenschlüsse im Besonderen hochgeschätzte Betätigungen im Sinne von Staatsschutz und Wahrung der „Einheit und Reinheit der Partei“. Der Missbrauch des Vertrauens von verdächtigen „Zielpersonen“ durch Spitzel und Denunzianten war darüber hinaus nicht nur ehrenwert, sondern vielfach sogar staatsbürgerlich geboten: Die Missachtung solcher staatsbürgerlichen Gebote war teilweise strafbewehrt und erzeugte so einen zusätzlichen Druck in Richtung des „ehrenwerten Verrats“. Man musste nicht einmal Parteimitglied sein, um dem Zwang zur Linientreue und der Aufforderung zum „ehrenwerten Verrat“ unterworfen zu werden: In staatlichen Organen oder staatsnahen sensiblen Einrichtungen war die revolutionäre Wachsamkeit obligatorisch und als Treuepflicht häufig Bestandteil des Arbeitsvertrags. Der Beitritt zur herrschenden Partei nahm deren Mitglieder nur noch zusätzlich in verschärfte politische Geiselhaft. Die so wirkende Verquickung politischer und strafrechtlicher Sanktionierung von Verstößen gegen die Treuepflicht erzeugte langfristig eine wirksame subalterne Prädisposition in gesellschaftlicher Dimension. Der Grad allgemeiner Akzeptanz in der Regel öffentlich inszenierter Verurteilungen von „Verrätern“ war (und ist auch heute) vom Ausmaß erreichter Loyalitätsbindungen der Staatsbürger an das Regime und von der Wirkungskraft des aufgebauten Drohpotenzials abhängig. Die aktive Teilnahme an der Abwehrtätigkeit des MfS als IM war in den seltensten Fällen das Resultat von Zwang. Der IM selbst wurde aus dem Blickwinkel der Herrschenden dann zum Verräter bei Androhung strafrechtlicher Sanktionen, wenn er seinen Verrat im Dienste der Staatsmacht dem Zielpersonenkreis gegenüber offenlegte (sich „dekonspirierte“). Weil also der Durchgriff jeweils herrschender Parteiführungen auf den Sicherheitsapparat und hier insbesondere das MfS derart unvermittelt möglich war, ließ sich der „politische Verrat“ unverzüglich auch als „Staatsverrat“ ahnden. Im Bereich staatlicher Machtausübung hantiert man allgemein mit dem strafbewehrten Delikt des Verrats von Staatsgeheimnissen. Hier geht es um den Verrat oder die öffentliche Enthüllung geheimer bzw. die staatliche Sicherheit in irgendeiner Weise tangierender Sachverhalte („Staatsverrat/Geheimnisverrat“). Als besonders verwerflich erscheint dann der Verrat solcher Geheimnisse an fremde oder feindliche Mächte („Agententätigkeit“), womöglich noch in deren Auftrag („Spionage“) und gegen Entgelt. All dies ist bekannt aus der Praxis aller zeitgenössischen und vergangenen Staatswesen. Erst die erwähnte Verschmelzung von Parteidiktatur und „Sicherheitsstaat“ (etwa: Das MfS als „Schild und Schwert der Partei“) ergeben die besondere Militanz dieser Machtarchitektur. Die Logik politbürokratischer Herrschaft führte dazu, dass in solchen staatsbürokratischen Regimen das meiste sowieso geheim war. Dies illustriert etwa die strafrechtliche Verfolgung der Sammlung bzw. Weitergabe auch nichtgeheimer Nachrichten. Letztendlich ergab sich als schwerster Staatsverrat die Verbreitung der Wahrheit. Ein Beispiel ist die Verurteilung von Rudolf Bahro als Verfasser der Schrift „Die Alternative“ wegen Geheimnisverrats. In die Architektur der Repressionsapparate solcher Systeme passt es auch, dass ausgerechnet ein Geheimdienst zugleich als Untersuchungsorgan im Falle besonderer (etwa politischer) Straftaten zum Organ der „Rechtspflege“ ermächtigt wurde.

Das Ausmaß, in dem namentlich in der Sowjetunion das Volk und die Mitglieder der „herrschenden Partei“ durch die stalinistische Bürokratie und ihrer Geheimpolizei Opfer einer beispiellosen Vernichtungsauslese wurden, ist vielfach beschrieben worden. Die enorme politische Aufladung, die der Verratsvorwurf in stalinistischen Parteien erfuhr und die überlebenden Betroffenen zu „Aussätzigen“ machte, die das Straflagersystem bevölkerten, provozierte immer wieder die Frage nach der „Rationalität des Terrors“. Gleichermaßen interessant ist die Frage nach der tatsächlichen Funktion von Parteisäuberungen auch in der postterroristischen Periode staatssozialistischer Regime. Diese Fragen
können auch am Beispiel der SED für die verschiedenen Entwicklungsperioden von Partei und Gesellschaft differenziert beantwortet werden.2

4. Parteikontrolltätigkeit und gesellschaftlicher Wandel
Innerparteiliche Schaltstelle im Umgang mit „Verrätern“ war die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK). Für die Konstitutionsphase der SED ist der „Repressionsbedarf“ nach den Maßstäben der stalinistischen Führungsfraktion klar benennbar: Ohne hinreichend große politische und soziale Basis in der Bevölkerung sowie bei einem zunächst noch unberechenbaren Mitgliederstamm in der neuen Massenpartei SED war das durch die Besatzungsmacht gedeckte Mittel der Gewalt nicht nur ein naheliegendes, sondern damals auch das wichtigste und letztlich entscheidende Instrument der Stalinisten zur Partei- und dann auch der Gesellschaftsformierung. Bis 1948 erfolgte der zunächst verdeckte Terror gegen Sozialdemokraten und linke Splittergruppler. Zentrales Instrumentarium waren damals noch die Organe der Besatzungsmacht. Doch erfolgte bereits 1946 unter Franz Dahlems und Bruno Haids Regie die Schaffung eines informellen Abwehrapparats zur Beobachtung und Beschaffung von Informationsmaterialien innerhalb der Personalpolitischen Abteilung (PPA) des SED-Parteiapparates. Im Juni 1947 wurde die informelle Abwehr­arbeit innerhalb der PPA zu einer systematischen im Rahmen des neu geschaffenen Referats Abwehr in der PPA. Hier wurde mit zum Teil geheimdienstlichen Methoden Material über oppositionelle Gruppen in der SED (und mittels der Kontakte zur KPD übrigens auch in den anderen Besatzungszonen) gesammelt. In jener Zeit vor der ersten großen Überprüfungs- und Säuberungswelle 1949 bis 1951 wurden derartige Informationen, sofern nicht verwertbar für sofortige Maßnahmen, zur späteren Verwendung angehäuft. Was ab Oktober 1949, dem Monat der Gründung der DDR, im großen Stil seitens der ZPKK zunächst gegen Westemigranten sowie ehemalige Kriegsgefangene der Westalliierten oder Jugoslawiens in den Apparaten und dann ab August 1950 im Kontext der Mitgliederüberprüfung wieder verstärkt gegen die ehemaligen Splittergruppler in der Partei eingeleitet wurde, hatte schon nichts mehr mit nennenswerten innerparteilichen Widerstands- oder Opposi­tionsaktivitäten zu tun. Die offen betriebene Stalinisierung der Partei sollte mit dem Instrument der Zentralen Parteikontrollkommission sowohl die Verwandlung des SED-Apparats in den einer stalinistischen Kaderpartei als auch des Mitgliedskörpers in den einer disziplinierten Massenpartei bewirken. Nach der abgeschlossenen „Sozialdemokratismus-Kampagne“ 1948/49 umfasste der Komplex der inzwischen gut erforschten Parteisäuberung 1949 bis 1952 die Apparatesäuberung 1949/50, die Mitgliederüberprüfung 1950/51 und die Kampagnen im Kontext des Rajk-/Field-Komplexes 1949/50 sowie der „Slánský-Sache“ 1952/53. Die SED sollte zur „Partei neuen Typus“ nicht dadurch werden, dass die angekündigte Säuberung von „Erfolg“ gekrönt werde, sondern dadurch, dass sich alle Parteimitglieder an dieser Jagd beteiligten. Dieser Vorgang und nicht die Ergebnisse der Jagd auf Verräter machten den Sinn der Kampagnen aus. Wen man nun bei dieser Jagd erwischte und ob zu „Recht“ oder Unrecht, war durchaus unerheblich. Die billigend in Kauf genommenen politischen „Unkosten“ eines so rabiaten „Durchrüttelns“ der Partei bestanden allerdings auch in der „Liquidierung“ durchaus treu ergebener stalinistischer Parteikader und -mitglieder. Der wirkliche Sinn damaliger Säuberungen war die nachhaltige Immunisierung der Kader- und Massenpartei gegen jede Form der Dissidenz im Prozess ihrer Verwandlung in ein Instrument der Bürokratie. Unter der Oberfläche des gestrafften Parteikörpers hatte sich die Kluft zwischen aktiven, loyalen Parteisoldaten, die ganz nach den Vorstellungen der Parteiführung bewusst als disziplinierte Elite agieren wollten, und zum Schweigen gebrachter unzufriedener Parteimitglieder, deren kritische Distanz zur Parteiführung wuchs, vergrößert. Dies ging auf Kosten eines von dieser Parteiführung eigentlich angepeilten, auf aktiver Massenloyalität beruhenden, innerparteilichen Konsenses. Nebenbei ist die Differenz zwischen einem „subjektiven“ und einem „objektiven“ Feind beinahe zum Verschwinden gebracht worden. Letztlich nahm auch bei Kontroversen zwischen konkurrierenden Anwärtern auf Richtlinienkompetenz in der Parteiführung die Entscheidung über Sieg oder Niederlage immer die Gestalt der Klarstellung an, wer die Macht hatte, diese Feindzuweisung vorzunehmen.

Nach dem Desaster des 17. Juni 1953, einer Episode des „Kampfes gegen Überspitzungen“ und nach Chrustschows überraschender und dennoch halbherziger Abrechnung mit dem Stalinismus ergab sich für die Parteikontrollorgane eine neue Funktion als Schrittmacher einer weiteren Umsteuerung: Bis 1958 hatten sie den „Kampf gegen den Revisionismus und Opportunismus“ zum neuen Paradigma der „Einheit und Reinheit der Partei“ gemacht. Anfang der sechziger Jahre entwickelten sich wieder moderatere und sogar selbstkritische Tendenzen im Umgang mit den Mitgliedern der eigenen Partei. Es galt, auch öffentlich Abschied von „alten Methoden“ zu nehmen und damit einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit und Vertrauen anzustreben. Nach erfolgreicher ideologischer „Straffung“ der innerparteilichen Verhältnisse mittels des 11. ZK-Plenums 1965 schienen aus politbürokratischer Sicht unkontrollierbare „Auswüchse“ des Reformprozesses wieder gebannt. Die parteidisziplinarische Normalität unter Ulbricht während der sechziger Jahre stellt sich so als Schwanken zwischen disziplinarischem Rigorismus und dem Bemühen um mehr Realismus bei der Beherrschung sich entwickelnder Widersprüche dar. Die entspannungsgeleiteten Kursmodifikationen waren herrschaftsbewusster Ausdruck des Wissens um die Grenzen terroristischer Gesellschaftsformie­rung unter den neuen Bedingungen poststalinistischer Entwicklung. Außerhalb dieses Normalzustands kehrte man (wie Ende 1965 und dann im Jahre 1968) temporär zu den „alten Methoden“ zurück, ohne dass in der Schärfe ihrer Anwendung oder der Nachhaltigkeit im Sinne ihrer Aufwertung zur „Linie“ eine Rückkehr zur alten Säuberungsmentalität verflossener Jahrzehnte erfolgte. Honeckers Amtsantritt brachte das Ende der Reformpolitik als politbürokratisches Integrationsprojekt. Die Furcht der DDR-Bürokraten vor „polnischen Verhältnissen“ im eigenen Land leitete die innenpolitische Befriedungsstrategie der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ unter Honecker ein: Obrigkeitsstaatlich gewährte Wohlfahrt für jeden gegen politisches Wohlverhalten aller sollte der Furcht der Bürokratie vor Massenempörung abhelfen. Dieser zynische „Sozialvertrag“ schien lange Zeit auch nicht schlecht zu funktionieren. Doch der Schein war trügerisch. Er produzierte nicht nur massenhaft (durchaus gewollte) politische Apathie, sondern setzte auch die flächendeckende Leistungsverweigerung und „passive Sabotage“ der immer stärker demoralisierten subalternen Schichten der Bevölkerung in wachsendem Ausmaß fort.

Auch die Schwerpunkttransformation des MfS-Abwehrprofils vom reinen Repressions- zu einem Überwachungs- und Präventionsorgan war adäquater Ausdruck des politischen Wandels der Herrschaftstechniken. Dieser Wandel schlug sich natürlich ebenfalls in den innerparteilichen Kontrolltechniken nieder. Seit den 60er Jahren nahmen die Massenüberprüfungen die Gestalt einer „großen Aussprache“ im Rahmen von Parteibuch-Umtauschaktionen an, die sich demonstrativ von den Säuberungskampagnen der 50er Jahre unterschieden und vor allem der Mobilisierung und Motivierung der Parteimitglieder beitragen sollten. Doch diese „vertrauensbildenden Maßnahmen“ blieben letztlich wirkungslos. Der wachsenden gesamtgesellschaftlichen Desillusionierung entsprang damals keineswegs die Sprengkraft subversiver oder gar revolutionärer Massenpotenziale. Das andererseits zunehmende intellektuelle Protestpotenzial blieb abgeschottet von den eigentlichen Opfern dieser Entwicklung. Auch für innerparteiliche Oppositionelle, nach wie vor unter erheblichem Verfolgungsdruck stehend, gab es in den siebziger Jahren so gut wie keine Möglichkeiten, sich anders als konspirativ zu betätigen. Auch hier hatte der Parteikontrollapparat zuverlässig gearbeitet – bis dann in den achtziger Jahren die Dämme brachen und die Herrschenden im Sinne des Wortes die Kontrolle über die von ihnen geschaffenen Verhältnisse verloren.

1 Jörg Baberowski: Verbrannte Erde, Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012
2 Thomas Klein, „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht, Köln/Weimar 2002.

Thomas Klein lebt als Zeithistoriker in Berlin.

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