Alle kennen Artek

Kinderparadies und Prestigeobjekt, Kaderschmiede und Flüchtlingslager

Von Jenz Steiner

Artek, das Kinderparadies und Aushängeschild der Sowjetunion auf der Krim, war der ukrainischen Regierung stets ein Klotz am Bein. Jetzt weht am Bärenfelsen, dem Wahrzeichen der einstigen Pionierrepublik, wieder die Flagge der Russischen Föderation.

Frischer Wind pfeift durch das größte Ferienlager der Welt. Russlands Regierung ist sich des symbolischen Werts der Ferienanlage am Schwarzen Meer bewusst. Sie will vom positiven Image der knapp 90jährigen Kinderstadt profitieren. Deshalb hat Russlands Präsident Putin im September 2014 die Schirmherrschaft über das Lager übernommen. „Artek, Krim, Russland“, das gehört doch irgendwie zusammen, meint man im Kreml und ein buntes Image-Video aus den Artek Filmstudios illustriert das mit viel Pop, Rap und Patriotismus1.

Jetzt geht es wieder voran. Nach den Zeiten der Ukrainisierung und des Verfalls einzelner Lagerkomplexe fließen nun neunstellige Rubelbeträge nach Artek2. Nach siebenjähriger Stagnation stiegen die Besucherzahlen 2014 wieder an.

Doch nicht alle Kinder kamen als glückliche Feriengäste. Auf tragische Weise schließt sich hier der Kreis der Geschichte. Unter Lenins Federführung wurden die Grundbesitzer-Villen auf Artek zu Arbeitersanatorien. Artek am Kiesstrand der subtropischen Krim wurde am 16. Juni 1925 als Zeltlager des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds für 80 verarmte und an Tuberkulose erkrankte Bürgerkriegskinder aus dem Boden gestampft3. Ein Jahr später kam Clara Zetkin mit Kindern des deutschen Rotfrontkämpferbundes. In den späten Dreißigern kamen Kinder, die im Spanischen Bürgerkrieg alles verloren hatten4. Mit dem Zerfall der Ukraine 2014 rückte der Krieg wieder näher. Für mehrere hundert ostukrainische Flüchtlingskinder aus Lugansk in der Ostukraine wurde Artek im Juni zum Auffanglager5.

Kinderherzen sollten für die Revolution schlagen

Artek war eine Kaderschmiede zwischen Zypressen und Lorbeerbäumen. Eine Reise als Delegierter in das berühmte Lager auf der Krim war eine Auszeichnung für die Besten der Besten, für die Linientreuen und Strebsamen. Mit jedem Herzschlag sollten die Kinder spüren, dass sie Teil der Revolution sind. Arteks Strahlkraft erfasste alle Ostblockstaaten bis zu deren Zusammenbruch. Noch 1989 kamen 26.333 Kinder6. Artek war im Osten Allgemeinwissen. Ein Textauszug aus einem DDR-Russisch-Lehrbuch für die 6. Klasse von 1988 untermauert das: „Artek kennen alle. Hier erholen sich die besten Pioniere der UdSSR und ihre Freunde aus vielen Ländern der Welt. Für Kinder gibt es in Artek alles: schöne Gebäude, Parks, Stadien, Sportplätze, Klubs und Museen. […] Die Kinder treffen sich am Lagerfeuer und sprechen über die Freundschaft mit den Kindern aus der ganzen Welt.“ Am Anfang des Kapitels sieht man auf einem Foto 40 lachende Pioniere in Artek, die auf der berühmten Freitreppe am Platz der Freundschaft der Kinder in die Kamera winken.

Das Lager als Gesamtkunstwerk im Einklang mit der Natur

Die Pionierrepublik Artek hatte internationalen Zugpferdcharakter. Kein anderes Land der Welt gönnt sich bis heute ein Kinderreich in dieser Größenordnung. 320 Hektar mit 430 Gebäuden, zehn Lagern für bis zu 8.000 Kinder, fünf Museen, eigenem Hafen, eigenen Segelschiffen, einer Kartbahn, eigenem Filmstudio, einer Radiostation, einer eigenen Zeitung, einem Postamt, mehreren Kinos, Bibliotheken, Werkstätten und 2.000 Angestellten, davon 400 Pädagogen, bezahlt aus der Staatskasse – das wollte sich kein Land der Welt leisten, nicht im Sozialismus und erst recht nicht im Kapitalismus. Dennoch war Artek Vorbild für ähnliche internationale Großprojekte wie den Pionierpark „Ernst Thälmann“ in der Berliner Wuhlheide oder die Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ am Werbellinsee im Nordosten Brandenburgs. Angelehnt an das Konzept der „Sozgorod“, der sozialistischen Stadt mit ihren Mikrobezirken, Zentren und Subzentren, experimentierte in Artek die Avantgarde der Architekten der UdSSR im sozialistischen Städtebau7. Die Freizeitbauten, die hier seit der Tauwetter-Periode unter Chruschtschow entstanden, waren progressive Gegenentwürfe zur westlichen Moderne. Sowjetische Künstler entwickelten nach Stalins Tod in Artek eine liberalisierte Handschrift des sozialistischen Realismus. Artek sollte nicht nur eine elitäre Jugendfreizeitstätte mit Bildungsauftrag sein, Artek sollte als Gesamtkunstwerk wirken. „Die Offenheit und Transparenz der Gebäude, die Einbindung in die Landschaft sowie die Natur- Imitation bei den „Pilzen“ des Speisesaals lassen das Bestreben erkennen, die Bauten Arteks in Einklang mit der Natur zu bringen. Architektur und Natur ergänzen sich wechselseitig, so dass ein „einheitliches harmonisches Ganzes entsteht“, schrieb 2004 der Architekt Arne Winkelmann in seiner Dissertation über das Pionierlager8.

Er benannte in seiner Arbeit die Verbindungen zwischen den jeweiligen politischen Richtungen und der Lagerarchitektur „Die Jahre der „Öffnung“ erfahren durch die Leichtigkeit und Transparenz der Bauten Poljanskijs eine kohärente Entsprechung. Der Bau des Lenin-Denkmals fällt in die „Phase der Stabilität“, der Ära Leonid Breschnews (1964–82), in der die Ideologie des Kommunismus weltweit ihre größte Ausdehnung erfuhr. Die Größe der Einflusssphäre der Sowjetunion in den siebziger Jahren hat sich in der Gigantomanie der Denkmalanlage versinnbildlicht. Die wirtschaftliche Stagnation am Ende der siebziger Jahre und die Regression in den Achtzigern, die sogenannte „Phase der Stagnation“ der Regierungen Leonid Breschnews, Jurij Andropows und Konstantin Tschernenkos, spiegelt sich im Ausbleiben der Bautätigkeit und dem Hinterlassen von Investitionsruinen mangels finanzieller Zuwendung wider.“ Damit meint Winkelmann etwa das nie fertiggestellte Lager „Kosmos“ oder den „Komplex Wissenschaft, Technik, Kunst und Sport“.

Sozialistischer Themenpark für Kaderkinder

In der postsowjetischen Phase unter ukrainischer Flagge ging der Lagerbetrieb in Artek ganz normal weiter. Die Abläufe und Aktivitäten änderten sich wenig. Die sozialistische Propaganda blieb in den Fenster- und Wandbildern, den Mosaiken und Plastiken erhalten, verschwand aber aus den pädagogischen Programmen. Eine Ukrainisierung der Bibliotheken und Museen setzte ein. Einzelne Lagerkomplexe standen leer und verkamen. Artek wurde zum „UdSSR-Themenpark“ für Kinder gut betuchter Eltern, die oft selbst als junge Kader dort waren und ihren Kindern für 800 bis 1.200 US-Dollar für drei Wochen Bespaßung das Gefühl vermitteln wollten, das sie in ihrer Jugend im Elitelager verspürten. Doch der kommerzielle Ferientourismus wollte nicht recht glücken9. In den vergangenen sieben Jahren stagnierten die Gästezahlen. Pro Saison wurde nur ein Drittel der gesamten Lagerkapazität genutzt. Daran änderte auch der UNESCO-Schutz seit 2007 nichts10.

Hungerstreik fürs Ferienlager

Die ukrainische Regierung, ganz gleich in welcher Besetzung, behandelte Artek, das nun „Internationales Kinderzentrum“ und nicht mehr „Pionierrepublik Wladimir Iljitsch Lenin“ hieß stiefmütterlich. Lippenbekenntnisse konnten weder die Gehälter der 2.000 Mitarbeiter, noch Strom oder die Erneuerung der maroden Fernwärmerohre aus den Fünfzigern bezahlen. Die Situation eskalierte 2009. Seit Monaten wartete das Personal auf ausstehende Gehälter. Der Strom wurde abgestellt. Der damalige Generaldirektor trat deswegen in den Hungerstreik11. Vom ukrainischen Staat war nichts mehr zu erwarten. Die Krim hatte sich gewandelt. Die Schwarzmeerküste war nun attraktiv für Neureiche. Die Sanatorien für die Arbeiterklasse machten den neuen Villen der Perestroika-Gewinner Platz. Die Grundstückspreise auf der Krim explodierten. „Einige Erwachsene haben beschlossen, dass das Land, auf dem Artek steht, viel zu wertvoll ist, um es Kindern zu überlassen“, pointierte Michail Besugly, damals Chefarzt des Lagerkrankenhauses, die Situation auf der Krim auf einer Pressekonferenz gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti12. Pläne für ein Trainingslager für Spitzensportler der Ukraine lagen schon in den Schubladen. Um den lieben Friedenswillen öffneten sich 2009 doch noch Fördertöpfe im ukrainischen Staatshaushalt, die die Grundkosten des Lagerkomplexes trugen13. Der Staat erklärte sich unter Wiktor Juschtschenkos Präsidentschaft sogar dazu bereit, die Ferienlagerkosten für Waisenkinder und Kinder aus ärmlichen Verhältnissen zu 50 Prozent zu subventionieren. Schulische Leistungen spielten dabei keine Rolle. Doch mehr als 15-17.000 Kinder hatte man in Artek pro Saison nicht mehr zu erwarten. Insgesamt bietet Artek Platz für 27.000 bis 30.000 Kinder. Die Außenstände der Einrichtung beliefen sich Ende 2013 auf 1,9 Millionen US-Dollar14.

Letzte Chance als Neustart verpackt

Nach dem Krim-Referendum im März 2014 wanderte Artek in russische Hände15. Daraufhin kündigte die Ukraine alle staatlich geförderten Ferienlagerplätze. Ein schwerer Einschnitt für das eh angeschlagene Lager. Artek wurde zur Chefsache. Fallen lassen wollte der Kreml das Riesenlager auf dem neu gewonnenen Land nicht. Artek hat innenpolitisch und international ein gutes Image und wird mit Russland und den positiven Seiten der Sowjetunion assoziiert. Das kann nützlich sein bei der Neupositionierung auf der Krim. Immerhin erholten sich in diesem Jahr 6.000 Kinder in Artek16. Jetzt untersteht das Kinderzentrum dem russischen Präsidenten17. Alles soll anders werden. Die pädagogische Ausrichtung, das Logo, die Unterkünfte und die Infrastruktur Arteks sollen aufgepeppt werden. Eine ganzjährige Schule soll auf dem Gelände entstehen. Für die Kampagne „Artek 2.0 – Neustart“ hat die russische Föderation nach Angaben des neuen Generaldirektors Aleksej Kasprschak bis zum Jahr 2020 ein Budget von 21 Mrd. Rubel zur Verfügung gestellt. Der erste Schwung des Geldes soll die Mitarbeitergehälter sichern. In der Saison 2014 kamen laut Kasprschak Feriengäste aus Russland, England, Deutschland, Belarus, Schweden und der Schweiz. In den nächsten zwei Jahren will er die Zahl verdoppeln. Neben der staatlichen Hilfe gibt es Unterstützung aus der Wirtschaft. Etwa 20 russische Großbetriebe haben ihre Hilfe beim Umsetzen der Artek 2.0 Pläne angeboten18.

Was nun als Neustart bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit Arteks letzte Chance. Die riesige Immobilie am Meer gleicht einem Batzen Gold, auf den schon viele schielen. Kasprschak, ehemaliger Leiter einer Moskauer Wirtschaftshochschule, muss nun besonnen und in erster Linie ökonomisch handeln. Im Vordergrund stehen daher ab sofort kommerzielle Ferienprogramme für ausländische Kinder und Großveranstaltungen. Eine soziale Komponente kommt im Konzept „Artek 2.0“ nicht mehr vor. Für Kinder aus schwierigen Verhältnissen und einkommensschwachen Familien wird im neuen Artek kein Platz mehr sein. Die Kader, Komsomolzen und Delegierten der späten UdSSR sind nun zu Restauratoren vorrevolutionärer Verhältnisse geworden. Es waren die letzten Generationen der Lenin-Pioniere, die Lenins „Dekret über die Verwendung der Krim für die Heilbehandlung der Werktätigen“ von 1920 ausgehebelt haben, auf ukrainischer und auf russischer Seite.

1 Artek 2.0 – Perezagruzka https://www.youtube.com/watch?v=nkA7dJ2gHTw
2 Dmitri Runkewitsch, Elena Malai: „Dlya „Arteka“ razrabotayut novye Logotip i formu“ in „Izvestia“ vom 08. Oktober 2014. http://izvestia.ru/news/577719
3 Spravochnik po Ukraine: goroda i oblasti http://ukrainian.su/kryim/artek-mezhdunarodnyiy-detskiy-tsentr.html
4 Furin, Rybinski: Das Pionierlager Artek. Moskau 1972. S.4.
5 Artek.org Istoriya http://www.artek.org/History%20Artek/history%20/
6 My govorim po-russki – Russisches Lehrbuch für die Klasse 6. Verlag Volk und Wissen. Berlin 1988. S. 103-106.
7 Nikolaj A. Miljutin: Socgorod: problema stroitel’stva socialisticeskich gorodov. DOM Publishers. Berlin 2008.
8 Arne Winkelmann: Das Pionierlager Artek. Realität und Utopie in der sowjetischen Architektur der sechziger Jahre. Weimar 2004. S. 34.
9 „Legendarnyj „Artek“ razoren dotla“ in Rozbalt, 04. September 2008, www.rosbalt.ru/ukraina/2008/09/04/520594.html
10 UNESCO General Conference 33rd Session 2005: Proposal of the Establishment of the Artek International Youth and Children Center under the auspices of UNESCO. 7. Oktober 2005, http://unesdoc.unesco.org/images/0014/001411/141196e.pdf
11 „Artek“ vpervye polnost’yu prekratil rabotu. RIA Novosti am 22. Januar 2009. http://ria.ru/society/20090122/159888446.html
12 Artek kak merilo politic’eskoj nestabilnosti. Ria Novosti Ukraina: http://rian.com.ua/analytics/20090128/78092591.html
13 Seite der ukrainischen Regierung: www.dus.gov.ua/246.363.0.0.1.0.phtml
14 Nadeshda Grebennikova: Troubled Soviet Children’s Camp pins last hopes on russian investment. In Russia behind the headlines: http://rbth.co.uk/society/2014/09/03/troubled_soviet_childrens_camp_pins_last_hopes_on_russian_investment_39515.html
15 „Artek“ perejdet v sobstvennost‘ Kryma. Gazeta.ru, 13. März 2014. , www.gazeta.ru/lifestyle/news/2014/03/13/n_6009593.shtml
16 V „Artke“ letom 2014 otdochnuli 6 tys. detej. Itar- Tass, 06. Oktober 2014. http://itartass.com/obschestvo/1478817
17 O financirovanie razvitiya mezhdunarodnogo detskogo centra „Artek“ Nr. 900, 10. September 2014 http://government.ru/docs/14682/
18 V sleduyushim godu „Artek“ planiruet prinyat‘ za schet byudzheta 25 tysyach detey so vsej Rossii. Krym Inform Informacionnoe Agentstvo, www.c-inform.info/news/id/13010

Jenz Steiner ist Musiker, Autor und Radiomoderator in Berlin.