Editorial

„‚Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert ‘, sagte Kohl. Die Vorstellung, die Revolutionäre im Osten hätten in erster Linie den Zusammenbruch des Regimes erkämpft, sei dem ‚Volkshochschulhirn von Thierse‘ entsprungen.“ (SPIEGEL 41/2014)

„Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödiezubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China.“ (Eric Hobsbawm, 13. Mai 2009)

„Sozialismus oder Barbarei“ (Rosa Luxemburg)

Einmal mehr feierte der bundesdeutsche Mainstream neben der Deutschen Einheit den „Fall der Mauer“ als Höhepunkt der „deutschen Revolution“. Die Erinnerung jedoch, dass während der revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 niemand wirklich für den Abriss der Mauer auf die Straße ging, sondern für Demokratie und einen echten Sozialismus, konnte nach 25 Jahren noch nicht aus allen Köpfen gedrängt werden. Was heute klarer ist: Der Versuch eines „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ musste scheitern, weil der Versuch des Nominalsozialismus längst gescheitert war. Bis zur friedlichen Übergabe der Macht an die gewählte bürgerliche Regierung gelang es nicht, eine wirkliche Alternative zum Kapitalismus, eine Gesellschaft frei von Ausbeutung zu erkämpfen. Viele vergessen beim Rückblick auf die damaligen Ereignisse, dass mit dem Scheitern unserer Revolution auch eine Umgestaltung des Westens ihren Lauf nahm. Befreit von Zugeständnissen, die der real existierende Kapitalismus noch zu Zeiten der Systemkonkurrenz „seinen“ anhängig Beschäftigten machte, erzwingt nun der Neoliberalismus den fortschreitenden Abbau schwer erkämpfter sozialer und politischer Rechte und Errungenschaften. Die Aushöhlung sozialer Sicherungssysteme, die Senkung der Arbeitseinkommen, die Rücknahme oder Beschneidung von Bürgerrechten, die Demontage der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Verwahrlosung aller öffentlichen Güter im wiedervereinigten Deutschland sind auch eine Folge des Abbruchs der Revolution von 1989/90 im Osten. In seinem Drang danach, alle Dinge zu Waren zu machen, unterwarf der neoliberale Kapitalismus nun auch wesentliche Lebensbereiche der Kapitallogik, die bisher nicht gänzlich auf Profitmaximierung orientiert waren, beispielsweise das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem. Das kapitalistische System wurde nach 1989 mehr und mehr zum globalen Weltsystem.

Dem Hegemonieanspruch der neoliberalen Spielart des Kapitalismus stehen große Länder wie Russland oder China mit einem teilweise staatlich gelenkten Kapitalismus und einem Hang zur multipolaren Weltordnung gegenüber. Wie vor 100 Jahren im Vorfeld des Ersten Weltkrieges gibt es heute ernste Konflikte zwischen konkurrierenden kapitalistischen Staaten, ein großer Krieg zwischen ihnen ist wieder in den Bereich des Möglichen gerückt. Die Ereignisse in der Ukraine sind mögliche Vorboten für kommende Kriege.
Vor einem Jahr begann der Euromaidan mit Protesten gegen eine korrupte Regierung. Was dann folgte, war das offene Agieren faschistischer Anhänger Banderas, Massaker auf dem Maidan und in Odessa, die Bombardierung von Zivilisten in der Ostukraine, der militärische Kampf faschistischer Bandera-Anhänger gegen Rebellen im Osten der Ukraine und hunderttausende ukrainische Flüchtlinge in Russland.

Der Aufstand gegen die Oligarchen endete in einer totalen Herrschaft der Oligarchen. Die ganz großen Oligarchen haben sich seit Frühjahr 2014 ein jeweils eigenes „Freiwilligen- Bataillon“ zugelegt, um ihre Interessen auch militärisch durchzusetzen. Das gab es unter der Präsidentschaft von Janukowitsch nicht und ist ein deutlicher Hinweis auf den Zerfall dessen, was gewöhnlich als „zentrale Staatsgewalt“ bezeichnet wird. Neben den sich oft offen faschistisch gebärdenden Gruppierungen Rechter Sektor, Swoboda oder Radikale Partei findet man auch in den im Sprachgebrauch hiesiger Medien als pro-westlich bezeichneten Parteien häufig eine Mischung aus Faschismus und Neoliberalismus. So trifft man in und um Arsenij Jazenjuks Partei „Volksfront“ einiges mit Vorsicht zu genießendes Personal. Beispielsweise kandidierte der „Kommandeur des Maidan“ Andrij Parubij auf Platz vier der Volksfront. Er war Mitbegründer der faschistischen Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, dem Vorläufer von Swoboda. Im militärischen Beratergremium von Jazenjuks Partei, sind fast alle Kommandeure der rechtsradikalen Freiwilligenbataillone vertreten. So auch Andriy Biletsky. Er sieht sein Bataillon Asow in einem Kampf gegen „von Semiten geführten Untermenschen“: „Die historische Mission unserer Nation in diesem kritischen Moment ist es, die weißen Rassen der Welt in einen finalen Kreuzzug für ihr Überleben zu führen.“ Jazenjuk selbst bezeichnet die Rebellen in der Ostukraine ebenfalls gern einmal als „Untermenschen“. Auch Präsident Pjotr Poroschenko hat mit rechtsradikaler Symbolik kein Problem. Er proklamierte den 14. Oktober, den Gründungstag der pronazistischen UPA (der „Ukrainischen Aufständischen Armee“), zum Tag des Verteidigers der Ukraine.
Was wir nicht für möglich gehalten hätten, war das Ausmaß der Hetze, der Lügen und des Verschweigens der Wahrheit in den etablierten Medien – eine maßlose Propagandaschlacht. Ebenso die offensichtlich russophoben Ausbrüche deutscher Politiker, auch aus der Grünen Partei. Befremdet hat uns ebenfalls das weitverbreitete opportunistische Schweigen in der linken und in der Antifa-Szene.
Überlassen wird die Kritik am Techtelmechtel des Westens mit ukrainischen Faschisten, an der medialen Unterstützung eines Krieges gegen die eigene Bevölkerung, einer wachsenden Szene, die oft selbst nicht ganz koscher zu sein scheint. Sie besteht zu großen Teilen aus deutschen Kleinbürgern, die durch die seit Jahren anhaltende Krise verunsichert sind. Diese glauben den „Systemmedien“ und den Politikern kein Wort mehr, dafür oft jedoch an das Weltübel in New York und an einen kommenden endlich „souveränen“ deutschen Staat. Befeuert wird diese Angst der Kleinbürger täglich durch reale Wirtschaftsmeldungen:
– Die weltweit aufgelaufenen Schulden der Staaten und der Privatwirtschaft betrugen Ende 2007 stolze 107 Billionen Dollar, gut das Doppelte der glo­ balen Wirtschaftsleistung.
– Bei unglaublichen mehr als 150 Billionen Dollar lagen sie Ende 2013, rund das Zweieinhalbfache des globalen Sozialprodukts.
– Die Polarisierung in Schuldner- und Gläubigernationen spitzt sich dramatisch zu. 2006 hatte Spanien Nettoauslandsschulden von 860 Milliarden Dollar, heute sind es 1,4 Billionen. Italien hatte damals 450 Milliarden, heute 740. Die Türkei: damals 200 Milliarden, heute mehr als 400. Brasilien: damals 350 Milliarden, heute 750. Indien: damals 180 Milliarden, heute 480. Ach ja: Spitzenreiter USA hatte damals knapp 2 Billionen Dollar Auslandsschulden, heute sind es 5,7 Billionen.
– Die seit Jahren andauernde Geldflut führender Notenbanken könnte nach Einschätzung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zu einer neuen weltweiten Finanzkrise führen.
– Die Eurokrise meldet sich mit Wucht zurück – Schlechte Konjunkturdaten, sinkende Börsenkurse, steigende Arbeitslosigkeit: Europa befindet sich weiterhin im Krisenmodus.
– Der Wormser Ökonom Max Ottes, der als einer der wenigen Volkswirte bereits 2006 die spätere Weltfinanzkrise voraus gesagt hatte, glaubt, dass der gegenwärtige wirtschaftliche Abschwung noch viel gefährlicher sein könnte, als zur Zeit der Lehman-Pleite 2008. „Der Wirtschaftskrieg, den wir dummerweise mit Russland führen, belastet vor allem Deutschland und Österreich. Isis und der Nahe Osten verschlechtern auch noch die Stimmung.“
– Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung befürchtet ein jahrelanges Siechtum der Wirtschaft in Europa. Die Lage in den südlichen Euroländern lasse keinen leichten Ausweg erkennen, sagte er kürzlich vor Journalisten. „Die Krise ist eindeutig noch nicht vorbei.“
Lange schien es, als könne die Eurokrise der hiesigen Wirtschaft nichts anhaben – nun aber grassiert plötzlich auch in Deutschland die Angst vor einer Rezession. Der IWF und führende Konjunkturforscher senken ihre Wachstumsprognose für 2014 deutlich.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine von vielen sich mehrenden Erschütterungen der Gegenwart. Eins dieser neuen Produkte der krisenhaften kapitalistischen Globalisierung ist die klerikalfaschistische Bewegung „Islamischer Staat“. Tomasz Konicz schreibt in diesem Heft: „So wie die Nazis im rassistischen Wahn eine effiziente negative Fabrik der Menschenvernichtung errichteten, um die Welt von Juden, Roma, slawischen Untermenschen oder Bolschewisten zu „säubern“, so konstituiert sich der IS in der Organisationsform eines negativen Konzerns, um sein irres Ziel eines religiös reinen Weltkalifats zu verfolgen. Die instrumentelle Rationalität und ökonomistische Vernunft des westlichen Kapitalismus, die zwecks effizientester Kapitalakku­ mulation immer weiter vervollkommnet wird, schlägt so in den Händen des IS in nackte Barbarei um.“

Die Bilder in dieser Ausgabe sind von dem Berliner Künstler und Musiker Jim Avignon.

Zum 25. Jahrestag seiner Gründung erscheint der neue telegraph.
Davon abgesehen, bleibt der telegraph weiterhin die letzte authentische Zeitschrift der linken DDR-Opposition und in seiner Kontinuität: Unbestechlich, unbequem, kritisch, behörden- und unternehmerunfreundlich – Eigenschaften, die vielen heute prominenten sogenannten ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern gründlich abhanden gekommen sind.

Weiterhin möchten wir an dieser Stelle auf das literarisch-politische Projekt „Abwärts!“ hinweisen. Diese Zweimonatsschrift produzieren wir gemeinsam mit befreundeten Kollegen aus der Ostberliner Künstler- und Literatenszene. Im Internet lassen sich die telegraph-Aktivitäten über telegraph.cc und ostblog.de bzw. auf Twitter über ostblog_de und telegraph_cc verfolgen.

Eure telegraph-Redaktion