24 Jahre nach dem Ende der DDR stellt der telegraph 6 Fragen an Gregor Gysi
telegraph: Wie hat sich bis 1989 Ihr Bild von der DDR entwickelt? Wie hat ich seit 1989 Ihr Bild von der DDR verändert?
Mein Bild von der DDR hat sich zweifellos entwickelt und verändert. Inzwischen habe ich Möglichkeiten, die ich in der DDR so niemals gehabt habe. Ich habe mich auch an die unübersichtlicheren und größeren Strukturen gewöhnt und weiß durchaus Demokratie, Freiheit und eine effiziente Wirtschaft zu schätzen. Auf der anderen Seite weiß ich natürlich auch, welche erheblichen Mängel der Kapitalismus aufweist. Die Antwort auf den Kapitalismus kann aber nicht die DDR sein. Das habe ich längst endgültig begriffen.
telegraph: Wie dachten Sie damals in der DDR über die dortige linke antistalinistische Opposition innerhalb und außerhalb der SED und wie sehen Sie heute deren Rolle zu DDR-Zeiten und ihr Scheitern mit dem Ende der demokratischen Herbstrevolution?
Mein Verhältnis zur linken antistalinistischen Opposition war ambivalent. Auf der einen Seite habe ich sie gemocht, fand sie sympathisch, habe sie geschätzt, habe sie auch gern verteidigt, auf der anderen Seite hielt ich es aber für aussichtslos und habe schon deshalb nicht mitgemacht. Inzwischen meine ich aber, dass gerade die, die einen aussichtslosen Kampf führen, besonderen Respekt verdient haben. Eines war mir aber klar, dass in der Bundesrepublik Deutschland diese linke antistalinistische Opposition auch nicht die geringste Chance hat. Sie wird nur demokratischer und rechtsstaatlicher behandelt als in der DDR.
telegraph: Sehen Sie auch heute noch den Verzicht auf die Neugründung einer demokratisch-sozialistischen Partei in der DDR als politisch richtig an? Wie gewichten Sie heute die (bekannten) damaligen Argumente für diesen Verzicht gegenüber dem Votum für eine Neugründung – als konsequentestem Ausdruck des radikalen Bruchs mit der alten SED und dem Stalinismus?
Meine Sicht hat sich diesbezüglich nicht verändert. Ich war nicht der Mann, der eine Partei, die auch von Luxemburg und Liebknecht gegründet wurde, schließt. Ich fand, wir müssten die Adresse für Geschichte werden und das sind wir ja auch geworden. Außerdem hätte eine neu gegründete Partei nicht die geringste Chance gehabt. Man darf auch nicht vergessen, dass es einen Apparat von über 40.000 Beschäftigten gab, die einfach ohne jedes Arbeitslosengeld sinnlos auf die Straße geschickt worden wären. Die Renten für Beschäftigte wären ausgeblieben. Das Eigentum wäre herrenlos geworden und theoretisch hätte jeder zugreifen können. Die Überführung in Volkseigentum war schon ein wichtiger Schritt. Es gab kein Stiftungsrecht in der DDR, auch das wirkte sich aus. Aber abgesehen davon, meine ich schon, dass eine linke Partei mit einer so komplizierten unterschiedlichen Geschichte bestehen bleiben sollte, sich der Geschichte im Ganzen zu stellen hat und glaubwürdig für eine Erneuerung und Akzeptanz in der Gesellschaft streiten muss. Ich finde, es ist uns einigermaßen gelungen. Der Bruch mit dem Stalinismus muss strukturell und bei jeder Einzelnen und jedem Einzelnen innerlich erfolgen.
telegraph: In der gesamtdeutschen Linkspartei sind viele Ihrer Genossen in Ost und West vor 1989 erbitterte Gegner insbesondere der verfolgten linken antistalinistischen Opposition in der DDR gewesen – ob deren Gegner nun damals der SED, der KPD/DKP oder der SEW angehörten. Ebenso gehören Ihrer Partei aber auch viele Linke an, die damals als Antistalinisten jener Opposition in der DDR in tätiger Solidarität verbunden waren. Können Sie in Ihrer Partei Ausläufer dieser damals essentiellen Bruchlinie auch in heutigen aktuellen Politikfeldern und zeitgenössischen innerparteilichen Konfliktthemen wiedererkennen?
Selbstverständlich kann ich Ausläufer erkennen. Das spürt man z.B. wenn es um die Geschichte der DDR oder der Sowjetunion geht und gelegentlich auch, wenn es um den Mut bei heutigen Auseinandersetzungen geht. Die einen setzen mehr auf Akzeptanz, auch durch das politische Gegenüber, die anderen deutlich mehr auf Widerspruch.
telegraph: Wenn, wie wir von Ihnen im zdf-Sommer-Interview hören, für eine Regierungskoalition mit der SPD auf Bundesebene eher die Frage gerechter Verteilung und weniger die Haltung der Linkspartei zu Kriegseinsätzen der neuralgische Punkt sei, so führt dies sofort zu folgenden Fragen:
1. Da Verteilungsgerechtigkeit stets nur in den Grenzen der herrschenden Eigentumsverhältnisse möglich ist, müssen Anstrengungen für nachhaltige Verteilungsgerechtigkeit auch an der Eigentumsfrage ansetzen. Wie weit sollte die Linkspartei Ihrer Meinung nach in Zeiten einer dem Kapitalverhältnis entspringenden nachhaltigen Verteilungsungerechtigkeit in dieser Frage gehen? Wo sind hier die Invarianten „revolutionärer Realpolitik“?
Die Eigentumsfrage ist immer eine zentrale bei linken Parteien. Die Konzerne sind zu groß und zu mächtig. Der Mittelstand und das Handwerk müssen geschützt werden. Die Frage ist, wie man gerade bei Konzernen zu Modellen des Miteigentums der Belegschaften kommt, die es den Belegschaften ermöglicht, Grundsatzentscheidungen mit zu treffen. Nokia hätte dann nicht ohne Genehmigung der Mehrheit der Belegschaft umziehen können. Das betrifft aber auch andere Fragen.
2. Wie verhandeln sozialstaatsorientierte Pazifisten, die das Recht auf Selbstverteidigung anerkennen und das Andenken der Interbrigaden im Spanischen Bürgerkrieg pflegen, mit grünen Menschenrechtsbellizisten, sozialdemokratischen Agenda-Verwaltern und schwarzen Regime-Change-Strategen? Wäre angesichts der unerschütterlichen Haltung von Radieschenrot, Tarnfarbengrün und Börsenschwarz nicht jeder unter diesen Bedingungen denkbare Kompromiss ein Zeugnis der Erosion „linker Identität“ zugunsten vermeintlicher Gestaltungsfreiräume im Regierungsamt?
Das Entscheidende ist, dass eine wirkliche Reformalternative, ein tiefer Politikwechsel eben nicht an uns, sondern wenn, dann an den anderen scheitert. Das muss deutlich werden. Im Übrigen darf man die Veränderungen in anderen Parteien dann nicht unterschätzen, wenn es zu einer wirklichen Wechselstimmung in der Bevölkerung kommt.