Der Stasi ohne Kleider

Berichte vom unfreiwilligen Striptease der Stasi im Bezirk Gera
aus telegraph 02/1990, vom 22. Januar

Jena

Der 4.12.89 war ein Tag wie jeder – die politische Großwetterlage war heiß, der Flächenbrand schwelte. Gerüchte gingen durch die Stadt, daß der Stasi seit dem 2.12.89 fleißig Akten verbrennen würde. Am Nachmittag erreichte das im November gegründete Bürgerkomitee die Meldung, daß in Erfurt die Stasi-Objekte gestürmt worden seien. Sofort rasten Vertreter des Bürgerkomitees los und mobilisierten in Kneipen und auf Straßen die Bevölkerung zur Stippvisite bei der Stasi. Bis 18.30 Uhr waren ca. 200 Leute vor dem Hauptquartier versammelt und forderten Einlaß. Zwei Vertreter der Menge wurden zum Gespräch mit dem stellvertretenden Leiter der Kreis-Stasi eingelas­sen. Im Gespräch gestand der Stasi-Mensch, daß die Akten vernichtet werden würden. Daraufhin begaben sich die Vertreter zur VP, um eine Anzeige gegen den Leiter wegen Vernichtung von Beweismaterial zu erstatten. Der Polizist wimmelte sie auf den nächsten Tag ab. Aus eine Uni-Veranstaltung organisierten sich die Vertreter des Bürgerko­mitees einen Volkskammerabgeordneten der SED, um das Anliegen der Jenaer Bevölkerung durchzusetzen. Auf den Ausweis des Volkskammerab­geordneten reagierte der Polizist prompt und nach ca. 45 Minuten nahm ein Kripo-Offizier in Anwesenheit des herbeigeholten Kreisstaatsan­walts die Anzeige auf. Danach zog das Grüppchen zum Stasi, um die Aktenvernichtung zu stoppen. Der stellvertretende Stasi-Leiter erklärte, daß er nur Anweisungen vom Militärstaatsanwalt entgegennäh­me. Ein Telefonat mit diesem regelte die Kompetenzen: Der Kreis­staatsanwalt erhielt die Befugnis, Räume, Aktenschränke etc. zu versiegeln.

Die Aktion war um o.11 Uhr abgeschlossen. Danach erfolgte ein Umzug in selbiger Angelegenheit zur Zeiss-eigenen Stasi. Die Armen fielen aus allen Wolken und beugten sich der neuen Autorität. Am nächsten Morgen wurde die Bevölkerung durch Flugblätter über die Ereignisse informiert. Der Werkfunk von Zeiss verlas das Flugblatt und es kursierten im Kombinat hergestellte Computerausdrucke. Die Ereignisse entwickelten eine für den Stasi erschreckliche Eigendyna­mik: die herrschende Klasse nahm sich der Enttarnung der treuesten ihrer Diener an. Im Büro des Neuen Forums meldeten die BürgerInnen stasi-verdächtige Häuser. In der Ibrahimstr.30 entpuppte sich ein Gästehaus der Metallaufbereitung Halle als Schulungsobjekt der Abteilung Wirtschaftsspionage/Abwehr. Weiter fand sich in einem Gästehaus des VEB Versorgung und Betreuung ein Hort der Abteilung Militärspionage/Abwehr. Daneben wurden noch drei Objekte entdeckt. Die Ereignisse in Jena bewirkten Frappierendes: der Stasi evakuierte (und löste damit auf) seine Kreisdiensstellen bis zum 15.12.89 lagerte Waffen, Munition und Akten im Bezirksamt Gera ein. Allein an Waffen und Munition waren das 3 LKWs: unter anderem 10 Kisten sowjetische MPi, 10 Kisten Handfeuerwaffen und 135.000 Schuß Munition (die Einwohnerzahl von Jena ist 108.000).

Gera

Die Auflösungserscheinungen der Kreisdienststellen des Stasi und deren Evakuierung in das Bezirksamt Gera zwang das Bürgerkomitee zum Handeln. Am 21.12.89 traf sich das Bürgerkomitee, bestehend aus SED, Blockparteien und den neuen Parteien und Organisationen zur Beratung über den Fall Stasi. An dieser Beratung nahmen der Regierungsbeauf­tragte für den Beziek Gera, der Bezirksstaatsanwalt, der Direktor des Bezirksgerichts, Vertreter des Rates des Bezirkes, der Chef der VP_und der Chef der Bezirksverwaltung des MfS teil. Es wurde über die gesellschaftliche Kontrolle der Auflösung der Bezirksverwaltung des MfS beraten. Unstimmigkeiten gab es über den Verbleib der Akten. SED und Konsorten waren für die Vernichtung aller Akten, die keine strafrechtliche Relevanz mehr besitzen. Sie wollten damit endlich einen Schlußstrich unter das Kapitel Stasi ziehen. Die Gruppierungen SDP, DA, NF und Kirchenvertreter setzten jedoch ein Stop der Akten­vernichtung durch und den Standpunkt, daß nur ein demokratisch legitimiertes Parlament über den Verbleib der Akten entscheiden könne. Auf Drängen von Kirchenvertretern und NF beschloß das Bürger­komitee einen ersten Lokaltermin für den 22.12.89 im Stasi-Bezirksamt und in der U-Haft durchzuführen.

Die U-Haft machte den netten Eindruck einer nachträglichen Humanisierung. Die Zellen waren leer und frisch gestrichen, Farbeimer standen teilweise noch in den Gängen, und auf den Tischen waren Halmaspiele einladend aufgebaut. Interessanter waren die Bestandsauf­nahme des eingelagerten „Materials“ unbd die Strukturaufklärung der Stasi. Aufgrund des verhängten Vernichtungsstops wurden 1420 laufende Meter an Akten in Schutzhaft genommen. Die Zahl der Waffen war zur Zeit unserer Recherchen noch nicht ermittelt. Aufgrund der Evakuie­rung der Kreisdienststellen war aber das gesamte Arsenal (hoffent­lich!) der Stasi-Armee im Bezirksamt versammelt. Die Waffen befanden sich in den versiegelten Waffenkammern. Ab dem 2.1.90 übernahm die VP und das Bürgerkomitee die Hoheitsgewalt und die Bewachung des Bezirksamtes, sodaß die Stasi keinerlei Zugriff auf „ihr“ Material mehr hatte. Eine ständige Forderung des Bürgerkomitees war die Übernahme der Waffen durch die NVA. Nach deren anfänglicher Weigerung konnte der Regierungsbeauftragte dann diese Übernahme durchsetzen.

Die Strukturaufklärung ergab, daß der Geraer-Stasi über 2361 hauptamtlich Beschäftigte und 10.000 inoffizielle Mitarbeiter verfügte nach Stasiangaben. Das Bürgerkomitee wurde anhand eines internen Telefonverzeichnisses und eines im Westen erschienen Buches über die Struktur aufgeklärt.

Danach besteht der Stasi einerseits aus einer Abteilungsebene, welche die gesamte Arbeit leistet, andererseits der Leiterebene, welche die beschafften Informationen verarbeitet und Anweisungen erteilt. Die Anzahl der Abteilungen beläuft sich auf schätzungsweise 20-30. Genaueres ist über folgende Abteilungen bekannt:

Abteilung Postkontrolle: Bezirk Gera verfügte über eine Eingangskontrolle für Post aus dem NSW in Saalfeld und eine Ausgangskon­trolle in Gera. Nach Aussage der Stasi sollen 10% der Briefe kontrol­liert worden sein. Die Kartei und der abgelichtete Briefverkehr sind in einem Archivraum in der Größe der Stadtkirche Jena untergebracht. Um die 10% zu öffnen, arbeitete der Stasi mit einem beheizten Wasser­bassin, auf dem eine wasserdampfdurchlässige Folie lag. Auf diese Folie wurden die Briefe gelegt, bis der Klebestreifen „weichgedämpft“ war. Um die Douplettenhersatellung abzusichern, stand der Postkon­trolle ein Park von Fotolabors, Fotoreproduktionsgeräten und Foto­kopierern zur Verfügung.

Der Raum der Abteilung Telefonkontrolle hatte ebenfalls die Größe der Jenaer Stadtkirche und war mit für das Bürgerkomitee unerklärlicher Technik vollgestopft. Nach Stasi-Aussagen konnten aber nur 60 Telefongespräche gleichzeitig mitgeschnitten werden. Bei der Besichtigung stellte sich heraus, daß alle sichtbaren Kabelanschlüsse dieser Anlage durchtrennt waren. Eine Wiederinbetriebnahme würde aufgrund der Komplexität Wochen dauern.

Die Angehörigen der Abteilung Ermittlung traf mensch immer bei der „Klärung von Sachverhalten“ oder in der U-Haft hinterm Schreib­tisch an. Die Abteilung Untersuchungshaft verwaltete und betrieb die stasi-eigenen Gefängnisse. Das Personal hatte, laut Aussage des Geraer Anstaltsleiters in „Kontraste“, die Aufgabe, „auf Ordnung und Sicherheit zu achten“. Die Abteilung Operatives beschäftigte sich mit der umfassenden Observierung diverser Personen und Gruppen. Die Abteilung Bewaffnung/Chemische Dienste verwaltete und pflegte das (nach eigener Aussage) „Material zur Objektverteidigung“. In einem Waffenlager befand sich ein Arsenal von Maschinengewehren, Maschi­nenpistolen, Handfeuerwaffen, diverser Munition, Panzerabwehrwaffen, Gummiknüppel, Handschellen und Strahlenmeßgeräte. Zu bemerken ist, daß es sich hierbei um das zentrale Waffenlager handelte, jede Abteilung besaß daneben noch eine eigene Waffenkammer.

Die Abteilung „Vorfeld des politischen Untergrunds“ war damit beschäftigt, jenes dubiose „Vorfeld“ zu beobachten. Aus Akten ergab sich, daß Junge Gemeinde, Kirchengänger, offizielle Vereine wie der Kleintierzüchterverein, Basisgruppen, Blockparteien – einfach alles zum „Vorfeld des politischen Untergrunds“ gezählt wurde. Alles außer der SED. SED-Mitglieder waren für die Büttel tabu, wenn nicht eine Anweisung zur Bespitzelung aus den oberen SED-Etagen kam.

Im Laufe der Nachforschungen und Aufklärungen der Bürgerkomitees und Untersuchungskommissionen häufen sich die Indizien, daß die Führungsetagen der SED die absolute Befehlsgewalt über die Stasi hat._Wenn man bedenkt, daß die SED dazu noch über eine eigene Sicherheit­abteilung und das Kaderaktensystem verfügt, kann man guten Gewissens behaupten, daß die Gesellschaft über mindestens drei Machtinstrumente von der SED ausgehorcht und manipuliert wird.

Dann stellt sich natürlich die Frage, inwieweit man den Beteu­erungen der SED für eine Demokratisierung und einen gleichberechtig­ten Wahlkampf aller politischen Kräfte Glauben schenken kann.

b.s.

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