„Frieden konkret“ zum Wehrpflichtproblem

aus telegraph 02/1990, vom 22. Januar

Zivildienstgesetz unter Beschuß
DDR-weiter Arbeits- und Koordinierungskreis zum Wehrpflichtproblem von „Frieden konkret“
Berlin, den 20. 1. 1990

An die Volkskammer der DDR
Marx-Engels-Platz
Berlin 1020

Offener Brief zum unveröffentlichten Zivildienstgesetz
(Drucksache 55/14. Volkskammertagung)

Auf dem Weg zur Abschaffung der Wehrpflicht in der DDR und zu einem entmilitarisierten deutschen Territorium steht die Forderung nach Anerkennung des Menschenrechts auf Wehrdienstverweigerung auch in der DDR. Dieses sollte Eingang in die Verfassung finden. Wir fordern auch ein Asylrecht in der DDR für verfolgte Kriegsdienstverweigerer anderer Länder. Der vorliegende Gesetzentwurf über den Zivildienst in der DDR ist aus mehreren Gründen nicht akzeptabel:

1.Es erfolgte keinerlei Veröffentlichung, wodurch eine demokra­tische Diskussion (wie z.B. beim Reisegesetz) verhindert wurde.
2.Erst eine demokratisch gewählte Volksvertretung ist berechtigt, neue Gesetze zu erlassen. Dies kann mit Ausnahme des Wahlgesetzes erst nach dem 6. Mai erfolgen.
3.Das Zivildienstgesetz erfüllt nicht einmal unsere Mindestforderungen, die wir bereits im April 1989 in Form eines offenen Briefes an die Volkskammer sandten:

-Ausgliederung des Zivildienstes aus militärischen Strukturen

-Ausschließlicher Einsatz im Sozial- und Gesundheitswesen [Auch ein Einsatz im Ausland zur Völkerverständigung und im Umweltschutzbereich, wobei Strategien zur Vermeidung der Umweltbelastung Vorrang haben müssen, z.B. Müllvermeidung statt -entsorgung. Dabei muß von den Beschäftigungsstellen der Nachweis erbracht werden, daß der Dienst den Charakter eines Friedensdienstes aufweist, bzw. die Gesundheit des Zivildienstleistenden geschützt und der Mißbrauch seiner Person ausgeschlossen bleibt. Vergleiche hingegen § 13 (3)]

-Keinem Wehrpflichtigen darf das Recht auf Inanspruchnahme eines Alternativdienstes verwehrt werden. (Gewissensentscheidungen dürfen keiner Anerkennungs- bzw. Prüfungsinstanz unterworfen werden. Inhalte des Gewissens sindnicht prüfbar.)

-Wir betonten, daß die Einrichtung eines Zivildienstes nur einen ersten Schritt darstellen würde auf dem Weg zur Abschaffung der Wehrpflicht und zur Entmilitarisierung der Gesellschaft.

4.Obwohl der vorliegende Gesetzentwurf in Gänze unakzeptabel ist, möchten wir dennoch wenige Punkte kritisch hervorheben:

-Die Mitteilungspflicht gemäß Wehrdienstgesetz bleibt erhalten, was militärische Erfassung und Überwachung aller männlichen Bürger vom achzehnten bis zum fünfzigsten Lebensjahr bedeutet [§§3 (2) und 10]. Zugleich erfolgt eine strikte Anbindung an den Militärapparat [§18 (1,2)].

-Der angestrebte Zivilidienst trüge den Charakter eines Zwangsdienstes, der an den Arbeitsdienst des 3. Reiches erinnert – ein stehendes Heer von Arbeitssoldaten entstün­de. Nach § 1 (2) und besonders § 13 (3) können Zivildienst­leistende als Lückenbüßer mißbraucht werden in Bereichen, die bisher nur durch hohe materielle Zuwendung Beschäftigte fanden (Stadtreinigung, Müllabfuhr, Glas- und Gebäudereini­gung … Oder was ließe sich noch alles unter die Formulie­rung „kommunale Wirtschaft“ subsummieren?). Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen erschiene nicht mehr nötig. Der Grundsatz „gleiches soziales Recht für alle“ würde untergraben (Lohnpolitik, Streikrecht …)

-in mehreren Paragraphen wird eine Diskreminierung derZivildienstleistenden gegenüber den Wehrdienstleistenden festgelegt [§2 (1): 6 Monate längere Dienstzeit, trotz_zweimal möglicher Wiederheranziehung – §2 (2). §§1 (1) und 4 (1) fordern eine Antrags- und Begründungspflicht, der Wehrdienstleistende nicht unterliegen. §§5-7 ermächtigen eine staatliche Komission zur Gewissensüberprüfung.]

5.Durch § 20 würde die Kriminalisierung von Totalverweigerern (Ablehner sämtlicher militärischer Dienste und deren zivilen Ersatzdienste) erneut festgelegt und deren Strafrechtliche Verfolgung – seit 1986 ausgesetzt – wieder aufgenommen.

Das vorliegende Zivildienstgesetz verfestigt die Wehrpflicht und läßt keinen Raum für Überlegungen zur Abschaffung des Militärs überhaupt. Angesichts der Beendigung des Kalten Krieges, offener Grenzen und des Schwindens von Feindbildern wird der Bestand von Armeen auf deutschem Territorium fragwürdiger denn je. Eine gänzliche Entmilitarisierung und die Abschaffung jeglicher Zwangsdienste entsprächen dem Prozeß zunehmender Demokratisierung der Gesellschaft.

Kontaktadressen:
Gerold Hildebrandt, Metzer Str. 23, Berlin 1055
Steffen Kühhirt, Kaczmierczakstr. 18 Leipzig 7022
Stephan Schack, Am Eichborn 120, Jena 6900 Klaus Meusel, Diesterweg 8, Plauen 9900

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph