Wehrdiensttotalverweigerer in Ost und West weiterhin verfolgt

aus telegraph 02/1990, vom 22. Januar

Bereits im letzten „telegraph“ berichteten wir, daß der Westberliner Senat jetzt, im Unterschied zu Verfahrensweisen selbst unter dem CDU-­Senat, Wehrdienstverweigerer in die BRD ausliefern will. Bisher

konnten Wehrdiensttotalverweigerer in Westberlin unter Berufung auf den von den Westaliierten bestimmten entmilitarisierten Status der Stadt Asyl finden. Jetzt nutzte der Westberliner Senat die Freigabe dieser Entscheidung durch die Westaliierten, um dem Druck der BRD nachzugeben. Betroffen ist zunächst der Totalverweigerer Gerhard Scherer, der in diesen Tagen von der Westberliner Polzei heimgesucht wurde und jetzt nach Ostberlin flüchtete. Mit ihm, Vertretern der Grünen Bundestagsfraktion, der Westberliner AL-Fraktion und west- und ostdeutscher Totalverweigerer fand am Mittwoch in der Galerie der Umwelt-Bibliothek Berlin eine Pressekonferenz statt.

Scherer betonte die Absurdität, daß er am Dienstag als Kamera­mann verkleidet mit gleichen Gefühlen am Westberliner Zoll vorbei schlich wie früher DDR-Bürger an ihren „Organen“. Nach der Abrüstung durch den Ostblock seien Armeen im Westen völlig in Frage gestellt worden. Selbst kalte Krieger wie der BRD-Politiker Gerhard Stolten­berg könnten sich jetzt nur noch auf diffuse Standpunkte zurückziehen wie: „Ein Staat hat eben eine Armee.“

Demgegenüber beklagten DDR-Totalverweigerer, daß die sogenannte „Revolution“ in der DDR eben nicht zur Anerkennung des Standpunktes der Totalverweigerer geführt hat. Das neue Gesetz über den Zivil­dienst bestätige die schlimmsten Befürchtungen. Eine Prüfungskommis­sion beschließt die Zulassung zum Zivildienst. Totalverweigerer sollen nach dem Gesetzentwurf weiterhin bestraft werden. Damit sind wir vor die Absurdität gestellt, daß unter dem Honecker-Regime in den letzten drei Jahren aus außenpolitischen Gründen keine Inhaftierung von Wehrdienstverweigerern mehr erfolgte, während jetzt wahrschein­lich die ersten Inhaftierungen anstehen werden. Genannt wurde der Fall von Marko Stange, der während seines Armeedienstes den Wehr­dienst verweigert hat und jetzt bis zu seiner vermutlichen Verurtei­lung in Haft ist.

Die AL hat inzwischen am Donnerstag einen Dringlichkeitsantrag zur Nichtüberstellung des Totalverweigerers Georg Scherer im Senat eingebracht. Die SPD-Fraktion war sich in der Ablehnung so einig, daß sie nicht einmal eine Abstimmung für nötig hielt. Die Zeichen sind weiterhin auf Militarismus gestellt.

Es stünde der DDR-Regierung und dem Runden Tisch gut an, wenn sie als Zeichen der glaubwürdigen Abrüstungsabsichten Gerhard Scherer politisches Asyl gewähren. Dies wäre aber nur ein erster Schritt. Eine Anerkennung der Wehrdiensttotalverweigerung ist eine notwendige Absage an die militaristische Vergangenheit und die Ankündigung einer Gesellschaft, die den Schutz des Lebens in den Mittelpunkt gestellt hat.

r.l.

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