aus telegraph 02/1990, vom 22. Januar
Es ist schon eine komplizierte Zeit mit tausend Gefahren. Die Opposition weist mit spitzen Fingern auf die SED-PDS und behauptet, daß diese mit ihrem riesigen Besitz an Immobilien, Medien und Nachrichten den anderen Parteien keine Chance läßt. Es werden Horrorgeschichten von der immer noch allgegenwärtigen Stasi, Nasi, oder wie der Verein jetzt immer heißen mag, erzählt. Eine Lösung könne, heißt es, nur in der völligen Zerstörung von SED und Stasi liegen. Die SED schreit über die wachsende neonazistische Gefahr und über beginnenden Linksextremismus. Ohne die SED-PDS werde das Land in den Bürgerkrieg gestürzt werden. Die Linken warnen vor dem Ausverkauf der DDR, vor dem Zerreißen des sozialen Netzes und der Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung. Und jede Seite neigt dazu, die von der anderen Seite heraufbeschworenen Gefahren für unsinnig zu erklären.
Leider stehen wir vor der Situation, daß fast alle recht haben. Es gibt ein riesiges Übergewicht der SED-PDS infolge ihrer aus der stalinistischen Ära überkommenen Besitztümer. Die neue Parteiführung scheint sich zwar ehrlich um Demokratisierung und größere Chancen für andere Parteien und Organisationen zu bemühen – zuletzt mit Abstoßung großer Teile des Parteivermögens. Zugleich aber macht sie die deutliche Erfahrung, daß die Opposition die SED-PDS nur noch wegen dieser alten Macht toleriert und darauf aus ist, die erneuerte Partei sobald als möglich zu zerstören. Deshalb ist die Parteiführung geneigt, an vielen Stellen mit dem alten stalinistischen Klientel nicht zu brechen, beispielsweise den Stasis neue Pfründe zu verschaffen.
Auch die Stasi gibt es noch. Maffia artig organisiert war sie seit ehe und je und jetzt bewähren sich diese Strukturen beim zähen Widerstand gegen die Auflösung. Während andernorts schon längst Ämter gestürmt waren, arbeiteten sie beispielsweise in Cottbus bis vorletzte Woche unverdrossen weiter. Nachdem die Post das Kabel zwischen Stasi und SED-Bezirksleitung gekappt hatte, wurde es in einer Nachtund Nebel-Aktion wieder hergestellt. Ein Putsch der verbliebenen Mannschaft ist immer schwerer machbar, aber immer noch nicht ganz unvorstellbar geworden.
Keinen Zweifel gibt es an der Existenz der Neonazis, die schon vor der „Wende“ mit Ergebenheitsadressen an Schönhuber von sich reden machten. Auf der Demonstrationsplattform der DDR, in Leipzig, sind sie unübersehbar, aber auch auf Demonstrationen in Berlin sind sie bereits zu sehen. Schönhuber erklärte in diesen Tagen, er rechne mit einem Wähleranteil von 20 bis 30 Prozent und hat damit ganz sicher Zweckoptimismus betrieben. Eine Nazipartei wird, darüber sind sich alle einig, in der DDR, nicht entstehen. Aber in verschiedenen der neuen Parteien sind sie bereits vorzufinden. Schwärmte da nicht neulich ein Mitglied des Vorstandes des Grünen Partei im Suff von den „Grünen Republikanern“? In jedem Fall aber werden wir uns schon auf eine rechte außerparlamentarischen Opposition einstellen müssen, die speziell aus den dissozialisierten Neubauvierteln kommt und die Sicherheit auf den Straßen ständig gefährden wird.
Zu den Greuelmärchen gehört eher die linksextreme Gefahr. In Ostberlin beispielsweise gibt es nur einige wenige pubertierende gewaltverherrlichende Strohköpfe, die zuviel RAF-Erklärungen gelesen haben und sich in entsprechendem Wortgeklingel üben. Ein Brief an den Verlag Neuer Weg in Halle, der eine KK-Patrone und Rachedrohungen für den Fall der Nichtveröffentlichung eines Textes enthielt, dürfte auf ähnlicher Geistesebene liegen (wenn es es sich nicht um eine Provokation handelt). Die Anarchisten, die vom ND, der Berliner Zeitung und anderen Organen der veröffentlichen Meinung zum Gespenst aufgeblasen werden, haben mit diesen Leuten natürlich nichts zu tun, sondern sie sind eine politische Gruppe, die die Bürokratie und den Staat für gefährliche Unterdrücker hält und deren Abschaffung und die Selbstregierung des Volkes befürwortet. Das ist ein vielleicht illusionäres, aber kaum verfassungsfeindliches Ziel, zumal zu einem Zeitpunkt, wo noch gar keine neue Verfassung geschrieben wurde. Ärgerlich bleibt das Aufwärmen der alten bundesdeutschen Geschichtslegende, daß die Weimarer Republik von den Extremen von rechts und links zerrieben wurde. In der Tat war es so, daß die konservativen Parteien bis hin zur berühmten Mitte zusammen mit mächtigen Geldgebern aus der Wirtschaft von Anfang an die Weimarer Republik bekämpften und schließlich mit Hilfe der Nazis dieses Ziel erreichten. Daß die KPD nicht gerade republikfreundlich war, steht auf einem anderen Blatt. Die übrigen Linken aber spielten nach den ersten Jahren kaum noch eine Rolle und haben übrigens keinen der zahlreichen Putsche zu verantworten. Soviel zu Geschichtslegenden.
Der Ausverkauf des Landes dürfte zu den realeren Gefahren zu zählen sein, nachdem jetzt auch offiziell von der Volkskammer und der Wirtschaftsministerin die joint-ventures-Geschäfte mit über 50% Anteil genehmigt wurde. Schlimmer noch, solange die Regierung offenbar über gar kein Konzept für eine für das Land günstige Variante des Kapitalimports verfügt, werden die kapitalistischen Gelder überwiegend in Bereichen wie der Atomenergie investiert werden, die für die internationalen Konzerne profitträchtig, für uns aber eher schädlich sind. Daß das soziale Netz reißt, ist jetzt schon an der Lage des Gesundheitswesens erkennbar. Schlimmer ist die Situation der im Rahmen der Amnestie aus dem Strafvollzug Entlassenen, die unter Hinweis auf die „Eigenerwirtschaftung“ kaum noch Arbeitsstellen erhalten, was dadurch ausgeglichen wird, daß sie keine oder bestenfalls Löcher als Wohnungen bekommen. „Es fällt schwer“, meinte in diesen Tagen eine mit der Wiedereingliederung beschäftigte Beamtin, „sich damit abzufinden, daß vielleicht Bettler, Prostituierte und Obdachlose zum Erscheinungsbild unserer Gesellschaft gehören werden“.
All diese Risiken bestehen und darüber hinaus noch ein paar mehr wie z.B. der ökologische Kollaps. Die Gefahr wird aber noch dadurch vermehrt, daß nur sehr wenige Leute in den streitenden Parteien wirklich das Wohl des Landes im Auge haben. Es geht ihnen zunächst um das Wohl, um den Erhalt und den Aufstieg ihrer Interessengruppe, die Situation des Landes ist für sie nur Anlaß und Material zu immer neuen Kampagnen gegen den jeweiligen Feind. Worthülsen wie „Ökologie“, „demokratischer Sozialismus“, „Deutschland“, „Basisdemokratie“, „parlamentarische Demokratie“, „ökologischer Umbau“, „soziale Marktwirtschaft“ werden hin und her geworfen. Auf der Strecke bleibt das Land und seine Menschen.
Wir haben früher oft in diesem kleinen, damals illegalen Blättchen die reformwilligen Mitglieder der SED „in letzter Stunde“ zur Umkehr aufgerufen, – vergeblich. Es wird wohl kaum mehr Sinn machen, wenn wir jetzt zu einer Gemeinsamkeit aller Demokraten zur Rettung des Landes aufrufen. Einen solchen Aufruf gab es schon und auch er wurde zum Spielball des Machtkampfes. Ganz zu schweigen vom Vertrauen in die Bevölkerung, die kaum mehr in der Lage scheint, in der völlig veränderten Situation anderes zu tun, als Kompensationsforderungen zu stellen und die Schlagworte dieser oder jener Seite zu wiederholen, samt der schon zur Landplage gewordenen Formel: „Wir sind das Volk!“. Sollen das doch die Völker unter sich ausmachen. Jetzt und hier geht es nicht um die Bestätigung von Eitelkeiten, um ein Scherbengericht, um den Auf- oder Abbau von Karrieren, sondern um verantwortliche Gestaltung der Zukunft unseres Landes. Und dafür wird halt ein wenig mehr Ernst benötigt.
r.l.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph