aus telegraph 2/1999
Gespräch mit Wolfgang Engler
… über die ostdeutsche Gesellschaft vor und nach 1989. Ausgangspunkt der Diskussion war sein 1999 im Aufbauverlag erschienenes Buch „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“.
telegraph: Wir haben Dein Buch ja mit einigem Erstaunen gelesen. Denn wenn man liest, was westdeutsche Beobachter, aber auch ostdeutsche Autoren wie Stefan Wolle über die DDR schreiben und wie sie denn so war, dann ist das überwiegende Thema: Grau, Uniformität, Konformismus und Langeweile. Wenn man hingegen Dein Buch liest, überwiegt doch der Eindruck von Individualität, Emanzipation, Initiative, von einem dauernden Karneval…
Wolfgang Engler: Ich weiß nicht recht, vielleicht hängt es ja mit den Quellen zusammen, denn du hast ja, wenn du die Geschichte einer Gesellschaft wie die ostdeutsche untersuchst, ein wirkliches Quellenproblem. Zum einen hat sich die Gesellschaft ja nicht geäußert – oder nur wenig. Das heißt du hast zum
einen relativ wenig Quellen, die unmittelbar aus der Gesellschaft heraus kommen und an die du anknüpfen kannst und zum anderen hatte ich überhaupt keine Lust, noch mal die Archive der Herrschenden zu plündern. Da bleibt dann ein Eindruck von Buntheit übrig, den ich aber nicht übertreiben würde. Er speist sich aus der Ratgeberliteratur der 50er und 60er Jahre, aus Schüleraufsätzen oder auch aus dem Versuch, Architektur sprechen zu lassen. Dazu kommen dann noch Dokumentarfilme und Spielfilme, die heutzutage eher als Dokument denn als Kunstwerk in Frage kommen. Ich habe mich – um mal ein Beispiel zu geben – der Ratgeberliteratur zugewand, die von Hygienikern, von Frauenärzten und Pädagogen dieser Zeit geprägt wurde. Und da stand ich dann vor dem Problem, was machst du mit solchen Quellen? Die eine Möglichkeit ist ja dann die, das, was geschrieben steht, für bare Münze zu nehmen: die Empfehlungen für das richtige Verhalten, von Männern und Frauen und Mädchen und Jungs zueinander; wie sie sich kleiden sollen, welche Tänze erlaubt sind und welche nicht… Oder aber du gehst den umgekehrten Weg und vermutest, daß genau das, was in den Ratgebern als schlecht und falsch dargestellt wird, wo sie kritisieren und den Lehrmeister herauskehren, eher dem realen Verhalten entspricht. Damit bekommst du eher ein Bild von relativer Unordnung, von einer gewissen Vielgestaltigkeit, auch von Verrücktheit. Schon die 50er und 60er Jahre waren, wenn man es indirekt liest, also nicht das annimmt, wie es sein sollte, sondern wie es war, voller Buntheit, und in den 70er und 80er Jahren ist das alles ja noch viel mehr aus dem Ruder gelaufen. Da kann man also mit einiger Sicherheit annehmen, daß die Leute viel mehr so waren, wie sie nicht sein sollten: also das sie zu viel in Kneipen herumgesessen haben, zuviel getrunken haben, zuviel „wilden“ Sex hatten… Und so entsteht dann auch ein eher plastisches Bild von den Realitäten der Gesellschaft. Und das ist dann im Vergleich zu den Bildern der offiziellen Quellen, die ja vor allem festhalten, wie es sein sollte, ein völlig anderes Bild von den Leuten, die hier lebten. Die waren dann ungehorsamer, widersetzlicher und unkonventioneller. Diesen abweichenden Lebensstil würde ich nicht überfordern, aber als Korrektiv zu dem offiziellen Bild des Grauen und Uniformen war es mir wichtig, genau das auch zu zeigen.
telegraph: Du willst das jetzt nicht übertreiben, aber gerade dieses Wechselspiel vom Leben und der Macht , das Überschreiten von Grenzen, ist doch das eigentlich Interessante. Du beschreibst ja in Deinem Buch die Geschichte der DDR auch als Emanzipationsprozeß, da emanzipiert sich nicht der Einzelne von der Gesellschaft, sondern die zur Gesellschaft zusammengeschlossenen Einzelnen emanzipieren sich vom Staat…
Wolfgang Engler: … in Grenzen heißt das aber auch..
telegraph: Ja, Ja. Aber es ist doch ein Unterschied, einen Trend von kultureller Liberalisierung auszumachen oder von Emanzipationsprozessen zu sprechen.
Wolfgang Engler: Das stimmt schon. Nehmen wir mal ’89 – also ganz egal, wie man zu dem Ereignis steht, ob man beide Phasen befürwortet hat, die demokratische und die nationale Revolution – daß es überhaupt dahin kommen konnte, setzt ja eine deutliche Differenz zwischen einer Mehrheit der Menschen und dem politischen System voraus. Und die muß sich ja irgendwie entwickelt haben. Man kann also unmöglich beides zugleich haben: eine beinharte Diktatur bis zuletzt, womöglich noch eine totalitäre, und dann eine demokratische Revolution. Beides zusammen klappt nicht. Und deshalb ist es auch wichtig, diese Differenz zwischen den Menschen und dem politischen System ausfindig zu machen. Nicht nur die kleinen widerständigen Milieus, sondern auch die ganz normalen Leute, die Mehrheiten, lebten nicht mehr in diesem Gehäuse, hatten sich gelöst und wußten aber nicht, was sie mit ihren vielen punktuellen Erfahrungen gemeinsam machen konnten. Und genau das war das Problem. Bei allen Feiern, in jeder Kneipe, oder einfach im Gespräch, sei es mit Arbeitern oder Akademikern, war die eigentliche Frage immer, warum das immer noch weiter geht – das war das eigentliche Rätsel der Gesellschaft. Daß es jeden Augenblick zu Ende sein konnte, war irgendwie klar, daß der Rückzug aus diesem staatlichen und politischen Gehäuse ziemlich umfassend war, war klar, daß kaum noch ein gutes Haar an dieser Gesellschaft gelassen wurde, war klar. Man hatte letztendlich aber nur Vergemeinschaftungsformen, daß heißt keine Alternative auf gesellschaftlicher Ebene. Diese Vergemeinschaftungsformen konnten mehr oder weniger privat oder mehr oder weniger semiöffentlich sein:von Familien und Nachbarschaften bis hin zu kulturellen Subkulturen.
telegraph: Wie würdest Du die Oppositionsgruppen da einordnen, die haben sich, zumindest zum Teil, doch um eine politische – also durchaus gesellschaftliche – Argumentation bemüht.
Wolfgang Engler: Auch das Oppositionsphänomen in den 80er Jahren sollte man da nicht überbewerten, zumal es ja die Räume der Kirche nur punktuell verlassen hat. Und das eigentliche Problem war die Verbindung zwischen den Milieus. So weit ich das einschätzen kann, gab es zwischen den drei relevanten Milieus – also den Vergemeinschaftungsformen, aus denen gesellschaftliche Alternativen hätten erwachsen können – so gut wie keine Kommunikation. Also zum einen die SED-internen Unzufriedenen. Und ich glaube, von den über 2 Mio. Mitgliedern waren das am Ende 2/3, die auf Gorbatschow- Kurs gerieten und so etwas wie eine Demokratisierung von oben mit einer starken Rolle der Sozialistischen Partei verfolgten. Zum zweiten waren das die Oppositionellen, die sich ja bis Mitte der achtziger Jahre – mit ganz wenigen Ausnahmen unter dem Dach der Kirche sammelten und schließlich die antipolitischen Kulturen. Du findest bei diesen drei Gruppen nur geringfügige personelle Überschneidungen bei im Grunde genom men großer sachlicher Übereinstimmung. Eine Kommunikation zwischen denen hat es nur für ein paar Wochen 1989 gegeben. Das hat für die Initialzündung gereicht, ist dann aber sehr schnell wieder zerfallen. Also bezogen auf eine Emanzipation hat sich die Gesellschaft in der Tat in Grenzen vom Staat gelöst, aber ob sich die Gesellschaft wirklich als Gesellschaft emanzipiert hat, würde ich bezweifeln.
telegraph: Also wenn Du sagst, die Mehrheiten hatten sich schon längst von diesem Staat verabschiedet, ohne es politisch zu äußern, und ´89 sind dann die Mehrheiten plötzlich auf der Straße. Was war da los, was ist mit denen passiert, was ist da zum Ausdruck gekommen?
Wolfgang Engler: Das ist letztlich nicht so leicht zu sagen. Für mich stellt es sich rückblickend so da, daß es in Phase eins – also Krise und demokratischer Aufbruch – durchaus eine Verbindung gab zwischen den kritischen Milieus und den Mehrheiten. Da klappte auch eine, gar nicht so angemaßte, Sprecher- und Führungsrolle von Oppositionellen einerseits und SED- Reformern andererseits. Die dritten halten sich eigentlich eher stärker zurück – die beiden ersten Milieus sind doch das Entscheidende. Sie sind an der Spitze der Demonstrationszüge in Leipzig und Berlin gelaufen, sie haben den 4. November organisiert. Die ganzen öffentlichen Diskussionen, wenn sie nicht in der Kirche stattfanden, begannen in den weltlichen Räumen von Theatern und Hochschulen. Da sieht man, irgendwie funktioniert das, und da kamen viele Leute hin und trafen sich an der Volksbühne, am BE oder am Deutschen Theater, an Hochschulen und Universitäten. Da sind die Sprecherrollen der Intellektuellen, der Gebildeten und Kulturschaffenden, aber auch der Oppositionellen und SED-Reformer noch relativ authentisch und akzeptiert. Doch dann sah man in allen kritischen Momenten dieser Zeit – ganz deutlich im schnellen Umschwung von 4. zum 9. November – mit welch geringer Basis und Substanz diese Leitfunktionen ausgestattet waren: auf einmal war alles vorbei. Ich erinnere mich noch heute bestens daran, wie ich damals Oppositionelle und SED-Reformer traf, für die der 9. November ein Tag des Unglück war: ein Unglück für die demokratische Revolution. Für die war es ein Unglück, daß die Wahlen so schnell kamen und wie sie dann ausgingen, daß die Währungsunion so schnell kam und der Anschluß nach Paragraph 23 so schnell vollzogen wurde. Im gesamten Prozeß sahen die im Grunde genommen ein Unglück nach dem anderen. Das heißt, sie begriffen überhaupt nicht, daß die nationale Frage nicht gelöst war. Für mich war das im Prinzip seit Anfang der 80er Jahre klar, auch daß der Prozeß, so wie er abgelaufen ist, mit dem Umschlag von der demokratischen zur nationalen Phase schwer abwendbar war und im großen und ganzen unter den historischen Bedingungen (kurzzeitig geöffnetes histori sches Fenster durch die Situation in der Sowjetunion) ein notwendiger war. Aber darüber konnte man sich ja in der DDR nur mit sehr sehr wenigen Leuten unterhalten und sowohl SED-Reformer als auch die Oppositionellen fanden diese Zwangsläufigkeit falsch. Den gesellschaftlichen Mehrheiten hingegen war das total klar. Deshalb glaube ich auch überhaupt nicht, daß der Verlauf der Geschichte primär die Folge von westlichen Einflüsterungen und den Vereinnahmungsinitiativen der bundesdeutschen Parteien war. Das spielte eine Rolle, doch das als bestimmendes Moment auszumachen ist dann doch eine Sündenbockstrategie, die um das entscheidende Moment einer ökonomischen Machbarkeit von sozialistischer Alternative einen Bogen macht. Genau diese wirtschaftlichen Konzepte aber hatte und hat bis heute niemand.
telegraph: Da haben wir ja keine Differenz zu Dir, aber die gesellschaftlichen Mehrheiten, von denen wir jetzt die ganze Zeit gesprochen haben, sind ja nicht nur Vollstrecker einer objektiven Geschichtslogik, sondern die haben ja (in der Geschichte) durchaus selbst gehandelt. Du hast ja die Emanzipationsprozesse der gesellschaftlichen Mehrheiten vom Staat beschrieben, in Deinem Buch sprichst Du davon, die Arbeiterklasse hätte in der DDR das soziale Zepter in der Hand gehabt. Warum führt dieser Prozeß zu ’89 und was machen die Leute in dieser Zeit mit ihrem Zepter.
Wolfgang Engler: Damit kommen wir ja zu dem Paradox der demokratischen Revolution. Die Arbeiterklasse hat natürlich nicht politisch geherrscht, genausowenig wie kleine Angestellte, Handwerker, Freiberufler, Intellektuelle oder führende Wirtschaftsfunktionäre und Administratoren, aber sozial und kulturell waren die Arbeiter das prägende Moment von Gesellschaften dieses Typs. Aber sie wußten immer auch, daß sie ihre passive, aber auch aktive Widerstandsmacht – sie konnten ja nicht gezwungen werden, denn es gab keinen wirkungsvollen Erzwingungsapparat im Sinne von Märkten und Konkurrenz – Bedingungen verdankten, die auf’s Ganze gesehen unvernünftig waren. Das, was sie an Souveränität der Tyrannei gegenüber hatten, was sie an Selbstbewußtsein wirklich besaßen, auch an Unglauben den politisch-ideologischen Verheißungen gegenüber – darauf mußten sie sich ja gar nicht einlassen – blühte auf einer Basis, die als Ganzes nicht erfolgversprechend war, die zum Scheitern verurteilt war. Die Macht der kleinen Leute hatte letztendlich die Ohnmacht des ganzen Systems zur Voraussetzung. Die Mehrheit war auch immer tief davon überzeugt, daß die Organisation des Wirtschafts- und Alltagslebens – vom politischen System ganz zu schweigen – der ja die beschriebe Souveränität und Macht entsprangen, keinem Vergleich standhält, nicht wettbewerbsfähig war oder einfach nicht funktioniert. Von daher ging die Emanzipation vom Staat und auch von der Art, wie Wirtschaft organisiert wird und Alltag abläuft, immer einher mit der vielleicht naiven Idealisierung des Konkurrenzsystems im Westen. Mit Ausnahme von ’68 vielleicht waren die Leute nie idealsozialistisch orientiert, obwohl der Sozialismus schon Wurzeln in ihnen geschlagen hatte. Ihre Distanz zum politischen System ging in den entscheidenden Momenten immer Hand in Hand mit einer Westorientierung. Aber sie haben dennoch nicht 1989 den Kapitalismus gefordert. Sie haben mehr Demokratie, Öffentlichkeit und Partizipation gefordert und sie haben dann den Kapitalismus bekommen. Aber sie sind auch im entscheidenden Moment davor nicht zurückgeschreckt und in sofern glaube ich, es gab nach 1968 kein Vertrauen in die Reformfähigkeit des eigenen Systems. Und absurderweise war ausgerechnet in den kritischen- und Submilieus dieser – mir damals schon rätselhafte – Glaube daran weit verbreitet und mehrheitsfähig.
telegraph: Die bewußt wahrgenommene soziale Stärke der Arbeiter in der DDR – wenn sie denn das Zepter in der Hand hielten – wurden von ihnen also keineswegs mit einer Bejahung ihrer gesellschaftlicher Bedingungen verbunden.
Wolfgang Engler: Von den Mehrheiten jedenfalls nicht. Sie haben sich in den entscheidenden kritischen Momenten, wo es überhaupt Eingriffschancen gab – und davon gab es ja in der Geschichte der DDR so viele nicht – entweder gegen die DDR entschieden oder abseits gestanden. Die DDR und ihre Krisen (1953/ 1956/ 1976 und 1989) sind in meinen Augen eine Unglücksgeschichte, eine Misere. Und das ist ja schon von Anfang an so gewesen, wenn man sich mal ansieht, wie dieses System 1917 eingeführt wurde und erst recht, wie es sich von der historischen Bühne wieder verabschiedet hat. Also eingeführt wird es indem die Mehrheiten – ich meine jetzt die wirklichen, nicht nur die in den Milieus – nahezu instinktsicher auf eine Abschaffung des Kapitalismus drängen und auf diesem Wege die Demokratie gleich mit verlieren. Am Ende rekapituliert man den Prozeß umgekehrt, daß heißt, man führt die Demokratie wieder ein und bekommt den Kapitalismus aber mit, obwohl ihn die Mehrheit nicht gewählt hat. Da braucht man sich ja nur mal die Losungen in Leipzig, Dresden und Berlin aus dem Spätherbst anschauen, da hat ja niemand den Kapitalismus gefordert. Freie Wahlen und Stasi-in-die-Produktion, ein paar sollen auch eingesperrt werden, man soll reden können und reisen können und all das. Aber genau in der entscheidenden Frage, wie denn die Demokratie sozial und ökonomisch geerdet werden soll, dazu fällt niemandem etwas ein, da wird dann der Kapitalismus zumindest wieder zugelassen, wenn er schon niemanden so richtig begeistert. Das ist wie ein Junktim, sowohl bei der Entstehung, als auch beim Aufhören des Systems. Da entsteht dann natürlich eine Ratlosigkeit, was man dem eingetretenen Faktum entgegenhalten kann…
telegraph: Ich wird gern noch mal auf einen Punkt zum allgemeinen Verständnis zurückkommen. Du schreibt ja von dem Selbstbewußtsein der Mehrheiten, davon daß die eine Stärke hatten, daß sie sich durchsetzen konnten. Aber genau das wird natürlich viele Leute erstaunen, denn es gab ja den 17. Juni, der niedergeschlagen wurde, es gab einen enormen Sicherheitsapparat, woher speiste sich denn die Macht der Mehrheiten, die sie so selbstbewußt auftreten ließ.
Wolfgang Engler: Der 17. Juni war natürlich niederschmetternd, das ist schon klar, die Repressalien danach, der Umgang mit den Streikkommitees… aber es war natürlich auch eine einprägsame Erfahrung – für beide Seiten. Insofern ist der 17. Juni das Datum, an dem ein nicht ratifizierter Gesellschaftsvertrag geschlossen wurde: für die Regierenden war klar, man kann in Gesellschaften diesen Typs wahrscheinlich alle verprellen, die Freiberufler und Akademiker, die Kulturschaffenden und Intellektuellen, man kann wahrscheinlich alle an die Kandarre nehmen, aber gegen die Arbeiterschaft kann man auf Dauer nicht regieren. Wenn man das versucht, scheitert man – dann helfen nur noch russische Panzer. Denn sie sind die Mehrheiten, und da sie nicht gezwungen werden können, sich marktökonomisch zu verhalten, Effizienz zu zeigen und Leistung an den Tag zu legen, mußten die Herrschenden irgendeine Form des Ausgleichs finden. Denn sie waren ja auf das Wohlwollen, die Überzeugungen und auch die Arbeitsmoral und sonstigen normativen Vorstellungen der Mehrheiten zu gunsten des Systems angewiesen. Die Mehrheit der Regierten wiederum hat auch ihre Schlußfolgerungen aus dem 17. Juni gezogen: es gibt Grenzen, in denen man die Macht des Volkes ausspielen kann. Und da muß man aufpassen, daß man diese Grenzen nicht überschreitet, denn wenn man sie überschreitet, überrennt man möglicherweise das eigene System, aber gegen russische Panzer ist nichts zu machen. Gewissermaßen in der Mitte dieser beiden Erfahrungen konstituiert sich so etwas wie ein Agreement zwischen den einen und den anderen: Ihr könnt so und so weit gehen, wir werden euch nicht und können das auch gar nicht – weil unser System so gar nicht geschaffen ist – im Sinne westlicher Ökonomien einem Leistungszwang und Existenzdruck bis zu dem Grade aussetzen, daß man sozial scheitert und herausfällt und gewissermaßen die Not zum Regulator des Verhaltens wird. Das können wir nicht, das wissen wir, deshalb lassen wir euch auch in Grenzen gewähren, vor allem was die Arbeitswelt angeht, später in den 70er Jahren wird dann auch noch ein Teil der Alltagswelt zurückerobert: Es wird da nicht mehr ins Privatleben reingeredet, wie noch in den 50er und 60er Jahren. Es wird da – sogar in höherem Maße als in anderen Gesellschaften, auch westlichen Typs – völlig irrelevant, wer mit wem, unter welchen Umständen eine Liaison oder private Beziehung hat. Das interessiert einfach niemanden, keinen Staat, keinen Parteisekretär, niemanden. Aber gesamtgesellschaftlich mußten immer die Grenzen eingehalten werden, die wurden ja auch immer wieder eingeschärft: 1953 hier im Lande, 1956 in Ungarn und letztendlich 1968 in Prag am dramatischsten von allen, zuzüglich einiger kleinerer Ereignissen wie der Biermann-Affaire oder dem Plenum 1965. Da spielt sich ein Selbstverständnis von Grenzen ein und wird in allen Etagen der DDR-Gesellschaft reproduziert, obwohl natürlich als Gesamtes betrachtet, die Räume – die sich die Mehrheit erobert – größer werden. Aber das ist dann schon eher ein Ergebnis der Schwäche des Staates.
telegraph: Du beschreibst ja hier ein gesellschaftliches Stillhalteabkommen, das 1953 zwischen den Herrschenden und Beherrschten geschlossen wurde und zu verschiedenen Zeiten von Oben als Grenzziehung bestätigt wurde. Sind die Mehrheiten nach 1953 auch noch mal aktiv in Erscheinung getreten?
Wolfgang Engler: Es gibt schon noch Momente der Aktivität, aber es gibt keinen vergleichbar forschen historischen Auftritt der arbeiterlichen Mehrheit der Gesellschaft. Das hängt schon mit 1953 zusammen, als die
Intelligenzia des Landes die Arbeiter weitestgehend allein ließ, setzt sich aus anderen Gründen 1956 in der Isolierung der künstlerischen und schaffenden Intelligenz fort und ab 1961 sind ja dann die Geschäftsbedingungen des Agreements völlig verändert. Es gibt so was wie Restauftritte z.B. 1968, auch da sind es wieder nicht die Intellektuellen, die das Wort führen – in dem kurzen Moment, wo das möglich war – sondern es waren Lehrlinge, junge Arbeiter und Erstsemester an den Universitäten, die überhaupt irgend etwas gemacht haben nach dem 21. August. Nach diesem Ereignis ist auch den letzten klar, wenn die Schwelle übertreten wird, werden immer russische Panzer rollen. Das ändert sich im Grunde genommen erst mit Gorbatschow 1985; da hatten ja viele die Vorstellung, jetzt könnte von dort ein Anstoß kommen. Aber es gibt insgesamt betrachtet nach dem 17. Juni kein Ereignis, kein Event für die Arbeiter. Nehmen wir die Biermann Geschichte: den kannte kaum einer, der war ein Spinner… Die arbeiterliche Mehrheit hatte keinen historischen Auftritt nach 1953, jedenfalls keinen, wo sie sich als das erleben konnte, was sie eigentlich war: das sozial und kulturell prägende Element dieser Gesellschaft, vor dem alle anderen zittern und sich notfalls hinter Bajonetten in Karlshorst verschanzen und russische Panzer auffahren lassen. Nach 1953 waren die Messen gesungen, und trotzdem war allen klar – auch den Intellektuellen, auch den Freiberuflern – wenn überhaupt etwas passieren sollte, dann geht das nicht von den Intellektuellen aus, denn die Ideen mußten einfach (marxistisch gesagt ) die Mehrheiten ergreifen. Und das konnte dann erst Ende der 80er Jahre passieren. Und da entsteht dann für einen Moment die Illusion einer geistigen Führung in diesem Prozeß bei zwei der drei oppositionellen Milieus; doch das hat nie gestimmt, das war wirklich immer nur `ne Illusion. Die wohl massivste Selbsttäuschung der geistigen, intellektuellen und künstlerischen Milieus, war die Vorstellung, zu wissen was die Mehrheiten wirklich wollen und das im entscheidenden Moment auszuspielen. Danach war der Katzenjammer groß und das, wie ich finde, völlig ungerechtfertigt. Ansonsten, was das Prägende angeht, besteht überhaupt kein Zweifel: Intellektuelle und Universitätsprofessoren waren völlig verarbeiterlicht: die kleideten sich so, die sprachen so, die hatten die selben Vorlieben, sie entstammten ja auch dem selben Milieu und hatten den Horizont von kleinen Leuten. Auch kulturell: was ihre Lesegewohnheiten waren, welche Filme sie gerne sahen. Sie verstanden von Avantgarde und von der künstlerisch ästhetischen Moderne so wenig wie die Masse der Arbeiter und kleinen Angestellten. Geistig und kulturell waren sie auf dem selben Level organisiert, das war ein Punkt, an dem man sich verstehen konnte. Alltagspraktisch gab es zwischen den verschiedenen Milieus also keinen Unter
schied, auch wenn man sich politisch haßte. Es gab so gut wie keine Segregation in den Wohnverhältnissen, den schulischen Verhältnissen oder den kleinen Distinktionen. Ich weiß nicht, ob das auf Dauer hätte klappen können, aber für die Zeit, die wir überblicken können, fand die Gesellschaft immer eine Antwort auf Differenzierungsprozesse. Sie wirkte also in der Regel entdifferenzierend. Das löste wiederum Differenzierungsbewegungen auf einer sekundären und tertiären Ebene aus, die dann auch wieder von Ausgleichprozessen beantwortet wurden – das war das beherrschende Element und deshalb kam nie eine tonangebende Schicht in dieser Gesellschaft zustande. In der DDR gab es keine materielle Basis für Abgrenzungsprozesse, und wenn, dann wurden sie eingeebnet. Darin unterscheidet sich die DDR auch von anderen osteuropäischen Ländern, wenn wir beispielsweise an Polen oder an Rußland, wo es immer auch ein bäuerliches Element gab und ein wesentlich ausgeprägteres ständisches Bewußtsein auch unter Intellektuellen. Die DDR war eben so etwas wie Sozialismus in Reinkultur. So wie England des 19. Jahrhunderts ein gutes Objekt zum Studium des Kapitalismus war, ist die DDR ein Ideal-Objekt zum Studium des staatlichen Sozialismus: er findet hier in Reinform statt, denn alle die nicht mitmachen wollen, können gehen, anders als in anderen Ländern, da blieben die in der Regel da und bilden Submilieus oder ständische Quasimilieus. Auf der anderen Seite wird der Sozialismus hier durch die Stützungsysteme finanzieller und ökonomischer Art, durch die Partizipation der DDR am Westen davor bewahrt, so gräßliche Formen anzunehmen wie in Rumänien, ein Kasernensozialismus schlimmster Art zu werden, wo Repression auf der einen Seite und Not auf der anderen Seite unerträgliche Daseinsformen herausbildeten. In der DDR konnte man leben: niemand mußte verhungern, man wurde nicht so sehr an die Kandarre genommen, mußte nicht anmelden, wenn man eine Schreibmaschine hatte … das Schlimmste ist uns erspart geblieben.
telegraph: Wenn die ganze Gesellschaftsdynamik der DDR so entdifferenzierend war und so gleich, denkt man ja wirklich, sie war ein Arbeiter- und Bauernstaat. Wo kommen denn dann die Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse her, von denen Du redest? Oder anders, wie ist das Verhältnis von sozialer Gleichheit einerseits und Individualisierung andererseits?
Wolfgang Engler: Ich glaube, beides bedingt sich, in zugestandenermaßen widersprüchlicher Form. Die Entdifferenzierungen, von denen wir gerade sprachen, schließen natürlich Differenzierungen nicht aus, denn die Entdifferenzierungen antworten ja immer auf vorangegangene Differenzierungsversuche, konterkarieren sie, durchkreuzen sie, lösen dabei vielleicht neue aus, insofern gibt es die ganze Zeit ein hin und her von Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozessen, die eben keine uniforme Gesellschaft entstehen lassen.
Die eigentliche Sozialisationsform für die Individualisierungsprozesse sind die Kollektive. Da wo man sie vielleicht am wenigsten
vermuten würde, fand sie am energischsten statt. Ich rede jetzt nicht von den akademischen Milieus oder dem, was sich an den Universitäten entwickelte, sondern schlicht von den gesellschaftlichen Mehrheiten, von den ganz normalen Arbeitskollektiven und Brigaden in den Betrieben, wie ich sie in den 70er Jahren auch von innen erlebt habe. Eigentlich vermutet man ja, wenn man an Kollektive denkt, daß diese Individualität und Individualisierung ausschlossen. Dieser gedankliche Kurzschluß wird ja auch in der unsäglichen Diskussion der letzen Monate aufgegriffen: Die frühkindliche Kollektivierungserfahrungen werden dabei als Ausschluß von Individualisierung gesehen, als Unfähigkeit, sich als Individuum zu gebärden und letztendlich der Haß auf alles was different ist, bis hin zu Ausländern. Eine trostlos kurze Argumentationskette. Aber genau das Gegenteil war der Fall: diese Kollektive waren sehr komplizierte soziale Ökosysteme, mit Ausgleichsprozessen auf verschiedenen Ebenen – und genau dadurch wurden sie zum Ort der Individualisierung für die Mehrheitsgesellschaft. Einerseits waren sie Schnittpunkte zwischen oben und unten, also zwischen den Forderungen und Zumutungen des Staats und den Interessen des einzelnen, möglichst wenig behelligt zu werden, von allzu strikten Leistungsanforderungen verschont zu werden und ein größeres Maß von materiellen und symbolischen Zuwendungen zu bekommen. Auf der anderen Seite sind es Ausgleichsprozesse auf der horizontalen Ebene. Der Wunsch des einzelnen Kollektivmitglieds, von allzu starken Zumutungen von oben verschont zu werden und die Solidarität der Gruppe höheren Instanzen gegenüber zu genießen, konnte nur realisiert werden, wenn der Einzelne zugleich Leistungen für die Gruppe bringt. Das Minimum an diesen Leistungen ist, nicht aufzufallen, das Maximum ist, Unterfunktionen des Kollektivs zu vollziehen, sei es, dafür zu sorgen, daß zwischen Innenpolitik und Außenpolitik unterschieden wird, also die richtigen Berichte nach oben gehen, sei es, als Kulturfunktionär in Erscheinung zu treten, sei es Sportereignisse zu organisieren… Es ging also zum einen um Ausgleichsprozesse auf der Ebene von Leistung und Empfänger, zum anderen um Ausgleichsprozesse zwischen Zumutungen und Kontrollinteressen von oben und Zuwendungsinteressen von unten. Das Kollektiv ist der Schnittpunkt dieser komplexen Ausgleichsprozesse und innerhalb seiner individualisierten sich die Ostdeutschen auf unverwechselbare, originelle und nach vorn weisenden Art. Eine der wenigen nach vorn weisenden Dinge, die diese Gesellschaft hervorgebracht hat. Wenn auch die Gesellschaft als Ganzes politisch nicht konfliktfähig war, so war sie doch überall dort, wo nicht an der Systemfrage gerüttelt wurde, sehr wohl konfliktfähig. Die Leistung des Sozialsystems Kollektiv bestand darin, daß in den Ausgleichsprozessen ihre Mitglieder lernten, Konflikte auszutragen ohne das Rechtssystem in Anspruch zu nehmen. Die Kollektive entwickelten die Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Selbstregulierung. Moderation und Lösung von Konflikten unterhalb der Rechtsschwelle. Und daran haben sich die Leute gewöhnt im Osten – und deshalb neigen sie noch heute viel weniger als die Westdeutschen dazu, im Konfliktfall das Rechtssystem in Anspruch zu nehmen, d.h. soziale Konflikte und Arbeitskonflikte zu verrechtlichen. Das kann man als Vorwurf der Rückständigkeit formulieren: die sind noch nicht angekommen im Westen. Man könnte daran aber auch die Überrechtlichung der sozialen, alltagsweltlichen und auch politischen Ebenen im Westen durch einen steigenden Verrechtlichungsdruck thematisieren. Da haben die Leute was voraus im Osten: man individualisiert sich gerade in der Gruppe, im Kollektiv – weil man alles in Einklang bringen muß: man muß sich als Lei
stungsträger im Kollektiv glaubhaft in Szene setzen, dann kann man auch was von der Gruppe bekommen, daneben kann die Gruppe als Ganzes Interessen gegenüber höheren Instanzen zur Geltung bringen. Vielleicht ist das der eigentliche Ort der DDR-Gesellschaft, wo die Emanzipation vom politischen System alltäglich stattfand.
telegraph: Das klingt jetzt ein wenig nach einer universellen Potenz der Ostdeutschen zur Selbstregulation, die im neuen System nicht erkannt wird und statt dessen als Rückständigkeit belächelt wird. Aber wesentlich für die beschriebenen Emanzipationsprozesse ist doch weniger die Fähigkeit der sozialen Akteure, als vielmehr die gesellschaftliche und materielle Basis.
Wolfgang Engler: Unter der Voraussetzung, daß die Basis unter der solche Verhaltensweisen Sinn machten, entfallen ist, die Rückkopplung zum ökonomischen System nicht mehr stattfindet, wird die Fähigkeit zur kollektivgebundenen Vermittlung zum Handikap. Der Lernprozeß seit 1990 findet in dieser Beziehung tatsächlich in die falsche Richtung statt. Er findet in Richtung einer individuellen Inanspruchnahme eines Rechts statt, das selbst auf Individualisierung gebaut ist. Konflikte werden entkollektiviert und entpolitisiert und finden als Rechtsstreitigkeiten von Person gegen Person statt. Selbst Kollektive gelten im juristischen Sinne ja als Personen. Da gibt es nur noch die Auseinandersetzung des Einzelnen; Assoziierungen und Prozesse der politischen Willensbildung unterhalb der Ebene des Rechtssystems sind nahezu ausgeschlossen. Das ist die Falle der Verrechtlichung. So erfreulich es ist, vor Willkür bewahrt zu werden, so unerfreulich ist für uns der Rückschritt in die Logik, sich auf Kosten von anderen um Chancen zu bemühen. Unter den obwaltenden Verhältnissen wird das für viele Ostdeutsche zum Nachteil, im Vergleich zu denen, die schnelleren Zugriff haben, die geübter sind. Insofern war das Überstürzte des Prozesses von 1989/90 wirklich ein Fiasko. Es gab überhaupt keine Zeit, zu diskutieren, ob nicht solche selbstregulierenden Prozesse auch im Westen sinnvoll wären, Korrektivprozesse auf der Arbeitsebene etwa, die unterhalb der Rechtsebene liegen, aber schon die Gruppe als Gruppe ins Spiel bringen und so etwas wie Kollektivbewußtsein fördern. Aber das war ja nicht – wie sagt man so schön – zu implementieren.
telegraph: Da sind wir ja nun an einem wirklich sehr interessanten Punkt. Du beschreibst ja in deinem Buch über mehrere hundert Seiten die Geschichte der Ostdeutschen sehr ausführlich und kommst dann zu so einem merkwürdig anmutendem Ende…
Wolfgang Engler: …“insofern geschah das Notwendige.“
Telegraph: Ist damit die Geschichte der Ostdeutschen gelaufen, beendet, bleibt da nur ein Handikap übrig? Welche Bedeutung haben die 40 Jahre DDR für die Gesellschaft heute, für die Sozialgeschichte, die vor unseren Augen abläuft?
Wolfgang Engler? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Vor dem Hintergrund des gerade Besprochenen würde ich heute vieles deutlicher sehen, als es mir 1989/90 erschien. Mein Eindruck war in der Beziehung wahrscheinlich zu überschwenglich, getragen von der Euphorie der Mehrheiten. Mir schien es richtig, den Übergang von Phase eins zu Phase zwei, von der demokratischen zur nationalen Revolution zu vollziehen. Ich fand es auch fehl am Platze, die Zeit mit öffentlichen Debatten darüber zu verschwenden was nachwirkend von der einen in die andere Gesellschaft übergehen könnte oder sollte. Heute würde ich sagen, es gibt durchaus relevante Hinterlassenschaften dieser DDR-Gesellschaft im besonderen und dieses Gesellschaftstyps im allgemeinen. Gerade das, was man diesen Gesellschaften nicht zutraut, nämlich Selbststeuerungsprozesse – wenn nicht auf den oberen, so doch in ausgeprägter Weise auf den mittleren und unteren Ebenen – in Gang zu setzen, fand doch in beachtlichem Maße statt. Das zweite, was unbedingt angeführt werden muß, hängt allerdings mit einer älteren deutschen Tradition zusammen, wurde von der DDR nicht originär kreiert und könnte eher auch für die Verbindung zwischen Ost- und Westdeutschen stehen: das ist das soziale Bewußtsein auf der Grundlage einer sozialstaatlichen Tradition, die die DDR – wie ich finde – mit Würde fortgesetzt hat. Wenn man Menschenrechte – und das ist ja die offene Frage des kommenden Jahrhunderts – nicht wie die Angelsachsen nur als politische und individuelle Rechte des Menschen definiert und sich Gesellschaft als eine Ansammlung unabhängiger Menschen vorstellt, die durch Verträge gebunden und nur durch Respekt aufeinander verwiesen sind, sondern sie im selben Maße sozial definieren würde, könnte sich ein kontinentaleuropäisches Bündnis entwickeln. Es wäre auf der Basis einer Plattform sozialer Menschenrechte kein Problem, Menschen von St.Petersburg über Warschau nach Berlin und Paris zu vereinen und den Hauptfeind des 21. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten auszumachen. Und das wird ja wohl einer der Hauptkämpfe des kommenden Jahrhunderts sein, die Auseinandersetzung zwischen den beiden Varianten der Moderne, ob es tatsächlich nur diese unendlich verdünnte, triviale und primitive Form der Menschenrechte gibt: die das Individuum nur als Individuum definieren und nur passive Verteidigungs- und Widerstandsrechte dem Staat und Gewalten gegenüber vorsehen, die Respekt statt Solidarität und Unterstützung zum Leitbild menschlichen Handelns werden lassen – darüber werden wir im 21. Jahrhundert diskutieren müssen. Ich bin überzeugt davon, daß die v.a. von Amerikanern immer wieder befürchtete Auseinandersetzung zwischen der westlichen Moderne und dem Fundamentalismus nur ein vorgeschobener Konflikt ist, um vom kulturellen Kampf – um nicht Krieg zu sagen – der kontinentaleuropäischen Variante von Aufklärung und Moderne mit der us-
amerikanischen abzulenken.
telegraph: Du hast jetzt ja mit den kollektiven Aushandlungsprozessen und den ausgeprägten sozialstaatlichen Traditionen zwei wesentliche Erfahrungen der Ostdeutschen benannt, die nicht so ganz ungebrochen im neuen System anerkannt werden.
Wolfgang Engler: Es geht dabei ja nicht nur um eine Nicht-Anerkennung, sondern vor allem um eine nahezu gesamtgesellschaftliche Erfahrung der Mißachtung. Neben den materiellen Ausschlußerfahrungen, die einen beruflich und sozial treffen können, bis dahin, daß man über Haus und Grund wieder streiten muß, dessen man sich sicher glaubte, geht es im Kern darum, daß die Erfahrung selber bestritten wird, oder annulliert wird, oder als ein historischer Betriebsunfall gilt, als etwas, was am besten gar nicht stattgefunden hätte, ein Leben, das so am besten gar nicht abgelaufen wäre. Das ist, glaube ich, ein Punkt, der, wenn er weiterläuft und ein Fundament mit harten materiellen Ausschlüssen und Enttäuschungen hat, möglicherweise dazu geeignet ist, daß Menschen, die jetzt geboren werden, ein ostdeutsches Sonderbewußtsein entwickeln. Das wirkt auf den ersten Blick kurrios, weil es überhaupt keine Rückkopplung an eigene Erfahrung hat. Wenn die – und es spricht ja vieles dafür – materiellen und auch symbolischen Ausschlußprozesse weiterlaufen, wird es Ostdeutsche geben, die nie in der DDR gelebt haben. Meine diesbezügliche Erwartung ist absolut nicht optimistisch. Ein ostdeutsches Sonderbewußtsein wird in seinen begründeten, vielleicht auch seinen zweifelhaften Zügen nicht verschwinden. Im Gegenteil, es wird zunehmend als eine Ressource der Selbstbehauptung und auch Konkurrenz benutzt werden.
telegraph: Das eine ist ja, festzustellen, daß Ostler sich zunehmend als Ostler betrachten. Auf der andern Seite wird deutlich, daß auch die Westler uns zunehmend weniger leiden können. Und diese wechselseitigen Entfernungen wachsen, je länger man sich kennt…
Wolfgang Engler: Ja, es scheint viel dafür zu sprechen, daß in dem Maße wie man sich dann doch deutlicher kennengelernt hat, die Gründe dafür, sich nicht zu mögen, wachsen. Ich weiß gar nicht, wer das damals in Umlauf gesetzt hat, wir müßten alle miteinander sprechen. Auf jeden Fall ist das kein erfolgreicher Weg zum Abbau von Differenzen – überraschenderweise eher im Gegenteil. Die größere Vertrautheit mit der Art des jeweils Anderen führt eben nicht zur Einebnung, sondern zur Vertiefung der Spannungen, was dann auch zu wechselseitigen kollektiven Aversionen führt. Warum das auf der westdeutschen Seite so ist, weiß ich nicht, auf der ostdeutschen ist es einsichtiger: das Ostdeutsche war ja vorher keine Ressource der Selbsbesinnung und schon gar nicht der Konkurrenz – was hätte man auch damit tun sollen, während es jetzt aber zu einer solchen Ressource wird. Aber warum das bei den Westdeutschen so ist, erscheint mir überhaupt nicht einsichtig: Warum sie die Ostdeutschen als eine inferiore Gruppe ansehen, die nicht recht demokratiefähig ist, die nicht ankommt, die offensichtlich nicht richtig lernen kann, sich umzustellen… kann eigentlich nur daran liegen, daß man die Ostdeutschen als eine Gruppe wahrnimmt, die nicht so ist, wie die Mehrheitsgesellschaft. Aber das wäre ja ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, die sich selbst – mit mehr als 10% Ausländern – als multikulturalistisch begreift. Das scheint, wenn es so ist, äußerlich geblieben zu sein. Die Idee, alle sollen so sein, wie wir, ist die einzige Idee, die sinnvoll erklären kann, warum 4 von 5 Deutschen auf den jeweils fünften so herabblicken wie es die Westdeutschen auf die Ostdeutschen tun. Das wäre ein Armutszeugnis für diese Gesellschaft. Eigentlich würde ich auch gar nicht so weit gehen wollen, aber wahrscheinlich bleibt rational nicht viel anderes übrig.
Telegraph: Der Vergleich mit den Ausländern hinkt insofern, daß die Ostdeutschen ja als Kollektiv in die Gesellschaft getreten sind und deshalb den individuellen Integrations- und Anpassungsdruck abfedern können.
Wolfgang Engler: Dazu fällt mir eine berühmte soziologische Studie von Elias („Etablierte und Außenseiter“) ein, über den Streit von zwei Bevölkerungsgruppen in einer mittelenglischen Region, deren Ursprung daher rührte, daß die eine Gruppe etwas früher in dem Gebiet siedelte und die anderen dementsprechend später kamen. Es ist auch nach mehreren Generationen nicht gelungen, das Überlegenheitsgefühl der einen Gruppe abzuschleifen. Das Beispiel verweist also auf die Schwierigkeiten von kollektiven Integrationen. So unterscheiden sich ja auch die Integrationsmuster von Ostdeutschen, die zu DDR-Zeiten als einzelne in die BRD gingen, und von den 16 Millionen 1990 Beigetretenen deutlich: Studien über die Übersiedler verweisen auf eine enormes Integrationstempo, schon nach zwei, drei Jahren waren die Ostdeutschen so weit, sich als bessere Westdeutsche ins Bild zu setzen. Ganz anders das Beharrungsvermögen der ostdeutschen Gesellschaft nach 1990. Wir mußten uns nicht als einzelne den Normativen einer neuen Gesellschaft unterwerfen und konnten kulturelle und soziale Selbstverständnisse der Gruppe bewahren. Es gab keine kollektive Assimilation. Und darin liegt auch ein Grund für die Verärgerung der Westdeutschen, einerseits die Art, wie wir kamen, und auch, daß es ihnen nicht gelungen ist, uns nach ihrem Bilde umzumodeln. Vielleicht ist das die gesellschaftliche Basis für das Weiterbestehen von Ost und West.
telegraph: Wir dürfen also mit Spannung einen zweiten Band über die Ostdeutschen nach 1990 erwarten? Was ist denn Dein Eindruck von Deinen Landsleuten – zehn Jahre nach Zusammenbruch und Anschluß, wie haben sie auf dein Buch reagiert, in dem Du ja ihre Erfahrungen beschrieben hast?
Engler: Ich habe bis zur Erschöpfung aus dem Buch gelesen, bin durch Mecklenburg geeilt, habe in Berlin gelesen und auch im Westen. …Es gibt da eine erhebliche Ost-West – Differenz, genau in der erwarteten Art; die Lesungen mit den Ostdeutschen waren eher Selbstverständigungsprozesse, was ja auch klar ist, weil man dieselben Erfahrungen teilt und im Westen Deutschlands war ich mit der sachlichen Unbekanntheit der Geschichte der 16 Millionen, die dazu gekommen sind, konfrontiert, die ich angesichts des durchschnittlich gebildeten Publikums, welches ja zu Lesungen kommt, einfach niederschmetternd fand. Ich konnte keine 5 Zeilen lesen, ohne daß Zwischenfragen kamen: was war ein Kollektiv, was war eine Brigade, wer war Heiner Müller? … . Dabei kann man schon erwarten, daß auch die den bedeutendsten deutschen Dramatiker der Nachkriegszeit kennen. Einem gleichgebildeten Publikum im Osten wäre klar, wer Grass oder Böll ist, da gäbe es Nachfragen dieser Art nicht. Das zeigt nur noch einmal, daß der Blick der Ostdeutschen doch sehr stark nach Westen gerichtet war, was umgekehrt offensichtlich keineswegs der Fall gewesen zu sein scheint. Und daran hat sich immer noch nichts geändert: wenn das Feuilleton ein Buch wie dieses bespricht – und das hat sich in meinem Fall erst in den letzten zwei, drei Besprechungen geändert – nehmen die Zeitungen keinen westdeutschen Autor, sondern einen Ostdeutschen, der das dann bespricht: jemanden wie Neubert, der es für die Süddeutsche bespricht oder jemanden wie Christoph Dieckmann, der es für die Zeit bespricht. Es gab wohl vorher Versuche, von westdeutschen Kritikern, sich damit zu befassen, aber die haben die Sache dann zurückgegeben, weil sie es nicht verstanden haben und auch nicht wollten. Und da zeigt sich auch wieder das Verquere in dem Prozeß. Das Buch ist so eine Art Sonde, die das Maß von sachlichem Verstehen-Wollen ortet und auf alle Vorurteile und Klischees trifft, die wir ja auch schon besprochen haben. Die Differenzen vertiefen sich auf einer emotionalen Ebene, und es gibt überhaupt keine oder nur wenig Anzeichen dafür, daß diese habituellen und emotionalen Differenzen in der wechselseitigen Wahrnehmung des anderen als den anderen durch einen Unterbau an größerer Verstehensleistung eingeebnet werden könnten. Das ist irgendwie der Stand der Dinge, und mehr kann man dazu nicht sagen.
Wolfgang Engler ist Kultursoziologe und lebt in Berlin.
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