oder merkwürdige Verwandlungen durch Verhandlungen
aus telegraph 2/1999
von KAHINA
Wohl einer der meistdiskutierten und gleichzeitig am wenigsten verstandenen sogenannten Friedensprozesse der letzten Zeit ist der Prozeß, der sich momentan in Palästina bzw. im gesamten Nahen Osten abspielt.
Gerade die Linke schweigt still, und außer einigen Abschwörungserklärungen ehemaliger SympathisantInnen der palästinensischen Bewegung wird die Berichterstattung über den „Friedensprozeß“ zum großen Teil den offiziellen Medien überlassen: hat doch ein Großteil der Linken sich reumütig gezeigt angesichts der früheren enthusiastischen Äußerungen zur Intifada und zur palästinensischen Bewegung insgesamt und ist zu ihrer völligen Ablehnung übergegangen. Diese Sicht der Dinge ist höchst problematisch, denn sie verschließt die Augen vor den sich gegenwärtig tatsächlich abspielenden Prozessen, nicht nur in der arabischen, sondern auf der ganzen Welt.
„Neue Weltordnung“ in der BRD, Abschottung der Grenzen, Verstärkung der Repression nur hier? „Nationalismus“ als bloße konservative Ideologie, vielleicht auch kulturelle Zurückgebliebenheit… letzten Endes auf jeden Fall immer Antisemitismus als Erklärungsmuster… Wer innerhalb der Linken derartig argumentiert und versucht, die Ereignisse, die mit alten Mustern nicht mehr erfaßt werden
können, plötzlich kulturalistisch zu erklären, hat den letzten Ansatz von Gesellschaftskritik an den Nagel gehängt. Weder die pathetisch-romantische Verklärung einer Bewegung als Ersatz für eigenes Bewegen noch deren ebenso strikte Ablehnung als unvereinbar mit den eigenen Prinzipien sind geeignete Mittel, sich mit den neuen weltweiten Prozessen auseinanderzusetzen – und dies gilt natürlich nicht nur für palästinensische Organisationen. Gesellschaftskritik aber beinhaltet unserer Meinung nach auch ökonomische und politische Analysen, die sich jenseits der Frage nach Kompatibilität mit europäischen Mustern bewegen sollten.
„Das große Problem sind die Widersprüche im Osloer Abkommen. Das Osloer Abkommen bestimmt einerseits, daß alle Siedlungen für die nächsten fünf Jahre dort bleiben müssen, wo sie sind, sogar die Siedlungen, die mitten unter der palästinensischen Bevölkerung liegen und die von äußerst fanatischen religiösen Nationalisten bewohnt werden; und daß, wo immer Siedler sind, die Armee bleiben und sie schützen muß, und zwar nicht nur die Siedlungen selbst, sondern auch die Straßen, die zu den Siedlungen führen. Die Siedlungen liegen verstreut über die ganze Westbank, zwischen den palästinensischen Dörfern, und in einem Ort, in Hebron, genau in der Mitte der Stadt. Wenn man also das Abkommen durchführt, wie es geschrieben steht; die Siedlungen beläßt, wo sie sind; mit den Fanatikern, wo sie sind; und andererseits die Armee sich aus allen palästinensischen Städten und Dörfern zurückzieht, dann hat man das Potential, die Westbank in ein neues Bosnien zu verwandeln. Denn man würde damit die Westbank zu einer Art Mischung von hunderten jüdischer Enklaven und palästinensischen Enklaven machen, und in jeder Enklave sind Bewaffnete, die auf die Menschen in der nächsten Enklave schießen wollen. Es gibt jede Art von kurvenreichen Straßen, Zufahrtsstraßen, Dutzende von Kilometern lang, die zum großen Teil durchs Gebirge führen, und es gibt hunderte von Plätzen, an denen sich leicht ein Hinterhalt legen läßt, und es gibt hunderte von Leuten, die einen Hinterhalt legen wollen. Sie könnten das ganz leicht tun, Menschen von der anderen Seite töten und verschwinden.“
Dieses Szenario der sogenannten palästinensischen Autonomie zeichnete bereits im Jahre 1995 Adam Keller. Neben dem sicherlich nicht zutreffenden Vergleich mit Bosnien zeichnet dieses Zitat doch eines aus: die plastische Beschreibung der Lage, die nach der Umsetzung des Abkommens von Oslo folgerichtig entstehen sollte. Spätere Kritiker faßten diesen Zustand in dem treffenden Begriff Bantustanisierung zusammen und zogen damit den eher zutreffenden Vergleich mit der Apartheid in Südafrika: vollständige Trennung zweier Nationalitäten1 auf dem Territorium eines Staates, wobei die eine Nationalität über die andere herrscht und diese in jeder Hinsicht ausbeutet2. Die beherrschte Menschengruppe erhält lediglich die Funktion, den Beherrschern ohnehin lästige Aufgaben wie das Wegräumen von Müll oder auch den empfindlichen Punkt der „inneren Sicherheit“ abzudecken. Genau diese Punkte überträgt das Abkommen von Oslo der palästinensischen Behörde, die natürlich große Schwierigkeiten hat, die „israelische Sicherheit“ zu gewährleisten – bisher ist dies weder durch die umfassende Militarisierung der israelischen Gesellschaft noch durch martialische Polizeiaufgebote und noch nicht einmal durch den heiligen Geheimdienst Mossad zufriedenstellend bewerkstelligt worden. Selbstverständlich gräbt sich die Autonomiebehörde momentan selbst das Wasser ab, indem sie durch israelische Sicherheitsforderungen dazu gezwungen wird, palästinensische PolizistInnen auf palästinensische BürgerInnen schießen zu lassen – wohl ist es weltweit nichts Besonderes, wenn die Polizei Einwohner ihres eigenen Landes erschießt, aber der Unterschied zu anderen („richtigen“) staatlichen Gebilden besteht darin, daß die Unterdrückung der Bevölkerung durch die Herrschenden historisch immer erst nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit einsetzte und vorher alle, die in Diensten der Kolonisatoren standen, als Verräter betrachtet wurden. Folgerichtig führt diese Situation zu starken Konflikten innerhalb der palästinensichen Gesellschaft. Die palästinensischen Sicherheitskräfte, recht und schlecht ausgebildet und mit ostdeutschen MZ-Motorrädern ausgestattet, sind sich nicht einig, auf welcher Seite der Barrikade sie stehen und erschießen mal Palästinenser, die gegen die Selbstverwaltungsbehörde opponieren, mal aber auch israelische Soldaten: In Gaza versuchte eine palästinensische Polizistin einige Tage vor der gescheiterten neuerlichen Ausrufung des Staates Palästina am 4. Mai, einen israelischen Grenzsoldaten niederzustechen. Danach kam es zu einer Schießerei zwischen israelischer und palästinensischer Polizei.
Krönender Abschluß des jahrelangen Vertragsmarathons stellt das Abkommen von Wye River aus dem Jahre 1998 dar, das sowohl von radikalen Kritikern als auch von eigentlich dem Prozeß positiv gegenüberstehenden Personen als endgültiger Ausverkauf charakterisiert wird. Der israelische Landraub und die stetige Erweiterung der Siedlungen, das Abholzen zahlreicher Olivenhaine zum Zwecke der Aneignung des Landes durch Siedler, der dem Wye-Abkommen folgte, bestürzte selbst die Palästinensische Autonomiebehörde, die sich spätestens seit dem amerikanischen Votum für weitere Verhandlungen und besonders seit dem palästinenserfreundlich wirkenden Gehabe der Staaten der Europäischen Union in Sicherheit wähnte. Das Problem aber besteht momentan darin, daß die palästinensische Führung nunmehr bereit ist, so ziemlich alles zu tun, um Amerikas Unterstützung für die palästinensische Staatlichkeit zu erhalten. Tatsächlich war ein Großteil des offiziellen palästinensischen Denkens in den letzten zwei Jahren auf die Annahme gegründet, daß Washington keine strategischen Vorbehalte gegen einen palästinensischen Staat mehr hat, wie auch immer dieser letztendlich aussehen sollte. Um die amerikanische Unterstützung für die Staatlichkeit zu fördern, hat die Führung erschreckende Bedingungen akzeptiert, insbesondere eben dieses Abkommen von Wye, das die amerikanische Anerkennung eines wie auch immer gearteten staatlichen Gebildes näher bringen könnte, aber die palästinensische Souveränität von Grund auf unterminiert. Die Selbstverwaltungsbehörde flehte die USA um Hilfe an. Anders zu reagieren als die Schutzmacht der Besatzer auf den Plan zu rufen, kann die Behörde sich nicht mehr leisten – wen sollte sie auch um Hilfe rufen? In der Bevölkerung wächst der Unmut über die sich permanent verschlechternden Lebensbedingungen, der Plan der israelischen Regierung, der mit Beginn der Intifada reifte, sich vollständig von palästinensischen Arbeitskräften als schwer zu kalkulierendem Faktor der Unruhe zu lösen und statt dessen weltweit Arbeitskräfte anzuwerben, seien sie nun Juden oder nicht, geht seiner Erfüllung entgegen. Da aber die wirtschaftliche Lage in den Autonomiegebieten nicht derart ist, daß neue Arbeitsplätze entstünden, steigt die Arbeitslosigkeit stetig; diejenigen, die noch Arbeit haben, sind durch fortwährende Abriegelungen der autonomen Gebiete gezwungen, zu Hause zu bleiben. Demzufolge ist es nicht nur aufgrund von rassistischen Stigmata schwierig, als Palästinenser in Israel Arbeit zu finden, sondern auch aufgrund der täglichen Unsicherheit, ob die Palästinenser überhaupt aus ihren (autonomen) Ghettos herausgelassen werden. Die USA haben klargemacht, daß sie nur dann Wort halten und gegenüber der israelischen Regierung die Einhaltung der längst zugesagten Punkte einfordern werden, wenn die Autonomiebehörde ihre `Sicherheitsverpflichtungen‘ erfüllt – und das heißt rigoroses Vorgehen gegen innere Feinde und alle realen sowie potentiellen Gegner sowohl der israelischen Regierung als auch der Autonomiebehörde selbst, um die eigene Position zu retten. Dies wiederum verstärkt die Legitimitätskrise der palästinensischen Führung unter der Bevölkerung – die Helfer von außen müssen nun das Ihrige tun, um die Legitimität der Führung zu erhalten. Versucht die Behörde, die „Sicherheit“ zu gewährleisten und den Anforderungen der USA, der EU und Israels zu genügen, schlittert sie in die nächste Krise: natürlich sollen bei der Liquidation von Gegnern auch noch die Menschenrechte eingehalten werden, was unter den derzeitigen Bedingungen unmöglich ist und nur als weiteres Druckmittel der „Geberländer“ dient, die versprochenen Geldmittel doch wieder zu stoppen. Dies ist ein tödlicher Teufelskreis.
Gab es anfangs noch verhalten optimistische Stimmen, so ist die derzeitige Lage gekennzeichnet von allgemeiner Ohnmacht, einer wieder zunehmenden Radikalisierung der offiziellen Behörden der Selbstverwaltung und sich ausweitenden bürgerkriegsartigen Zuständen. Selbst handzahmen palästinensischen Politikern reißt nun mitunter der Geduldsfaden, nicht selten kehren sie zum radikalen Vokabular der sechziger und siebziger Jahre zurück, während nach außen hin allerdings eine gemäßigte Linie, insbesondere gegenüber den USA und den europäischen Ländern, die sich als sogenannte Geberländer hervortun, gefahren wird, um diese nicht zu verprellen und die wenigen Mittel, die sie bereitstellen, doch noch zu erhalten.
Schon lange hat die Palästinensische Befreiungsorganisation keinen finanziellen Rückhalt außerhalb der wirtschafts- und finanzkräftigen Sphäre Europas und der Vereinigten Staaten mehr – die früheren Finanzspritzen, die es ihnen erlaubten, eine Politik zu betreiben, die sich konträr zu den Vorstellungen der Weltwirtschaftsstrategen bewegte, sind weggefallen.
Einige der früheren „Geberländer“, die regelmäßig große Summen in den Palästinensischen Nationalfonds einzahlten, wittern ihre einzige Chance der Einflußnahme momentan darin, zur Selbstverwaltungsbehörde in radikaler Opposition stehende Gruppen zu unterstützen, beispielsweise Hamas und den Islamischen Jihad.
Auch die frühere Semi-Allianz mit den Ländern des Ostblocks fiel weg, was riesengroße finanzielle Einbußen bedeutete. Beide Weltmächte führten Stellvertreterkonflikte in der arabischen Welt, was die palästinensische Bewegung als Ganze versuchte, in einer für sie genehmen Weise auszunutzen. Die materielle Unterstützung der Ostblockstaaten verteilte sich einerseits auf den nationalistischen Zweig der Bewegung, andererseits aber auch auf die linken Gruppen und Parteien. Diese linken
Gruppen, wie die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas), waren fast völlständig von den Geldmitteln abhängig, die sie aus dem Ostblock erhielten. Für diese Bewegungen ist es momentan fast unmöglich, in gewohnter Weise weiterzuarbeiten: Gehälter können nicht ausgezahlt werden, Publikationen können nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt gedruckt werden, innere Kämpfe brechen aus.
Im folgenden ein kurzer Exkurs über die PFLP, weil sie diejenige Partei ist, die innerhalb der europäischen Linken am meisten Beachtung fand und hier repräsentativ für den gegenwärtigen Stand der palästinensischen Linken stehen soll: Die PFLP, die vor Jahren Lenins hundertsten Geburtstag in Jordanien vom Minarett einer Moschee aus feierte und skandierte, die Befreiung Jerusalems sei nur über Amman möglich (d.h. die reaktionären arabischen Regime müssen abgeschafft werden, bevor die nicht nur nationale Befreiung Palästinas überhaupt möglich wird), sind heute weit in den Hintergrund gedrängt – gegen das palästinensiche Establishment verbünden sie sich auch mal mit islamischen Gruppen in einer unheiligen Allianz, wobei sie den kleineren Faktor darstellen und dabei Zugeständnisse machten, die nicht tragbar sind: so wurde z.B. erst sehr spät gegen die Präsenz islamischer Gruppen in Gaza vorgegangen, die Frauen, welche die „Kleiderordnung“ nicht einhielten, mit diversen Strafen belegten. Lavierend zwischen ablehnender und halb zustimmender Position können sie sich nicht entscheiden, ob sie dauerhaft in der Autonomiebehörde, deren Prinzipien sie größtenteils ablehnen, mitarbeiten wollen oder sich auf Seiten der Opposition, die fast nur noch islamische Opposition ist und deren Ziele sie ebenfalls ablehnen, schlagen sollten. Die dritte Variante wäre die Ablehnung der Mitarbeit auf beiden Seiten der Barrikade, was mit ziemlicher Sicherheit bedeuten würde, daß die Partei in der Bedeutungslosigkeit versinkt und mit ihr jede linke Opposition.
Theoretisch begründet wird das Lavieren zwischen Ablehnungsfront und „Regierungsbeteiligung“ übrigens mit dem dialektischen Prinzip „Einheit-Konflikt-Einheit“ – in Zeiten der Schwäche der (immer noch als Gesamtbewegung begriffenen) gesamten palästinensischen Szene wird diese unterstützt, um durch die Grabenkämpfe nicht dem äußeren Feind zum endgültigen Sieg zu verhelfen, in Zeiten der Stärke wird Opposition gezeigt.
Diese Haltung führt zu zusätzlichen Sympathieverlusten unter der ohnehin nur noch sehr kleinen Anhängerschaft der Linken. Dies muß einerseits im weltweiten Zusammenhang des Niedergangs der Linken gesehen werden, andererseits aber auch der Politik der PFLP und der anderen Linksparteien bzw. sich als links verstehenden Organisationen, die sich an leninistische und streckenweise stalinistische Prinzipien anlehnten. Viel mehr über die Geschichte der palästinensischen Linken findet sich in einem Werk Gerrit Hoekmanns (siehe Anhang).
Die kritische linke Theorie in der arabischen Welt, die es durchaus gibt, eignet sich als Instrumentarium, die Ereignisse, die sich gegenwärtig abspielen, jenseits von eurozentristischen oder israelzentristischen Positionen zu beurteilen. Einige marxistische Theoretiker der arabischen Welt hielten zu Beginn der Ära des „Neuen Denkens“ in Damaskus einen Kongreß ab, auf dem sie über die erwarteten weltweiten Veränderungen diskutierten. Viele haben schon zu Beginn der Veränderungen in der Sowjetunion geahnt, was im Ergebnis der erwarteten Neuordnung der Welt nun auf sie zukommen würde – ein Szenario, welches
schlimmer als die oben beschriebene Bantustan-Version aussieht. Das folgende Zitat ist dabei ein Schlüssel zum Verständnis der ablehnenden Haltung gegenüber Gorbatschows Politik nicht nur durch die palästinensischen, sondern auch zahlreicher anderer linker Bewegungen weltweit, die sich außerhalb der beiden großen Weltsysteme befanden – kurz gesagt, der sogenannten Dritten Welt. Faleh A. Jabar schreibt hierzu: „Einschränkend ist zu bemerken, daß Perestroika und Glasnost zwar allgemein begrüßt wurden (wegen der Auseinandersetzung mit verkrusteten Einparteiensystemen und fehlender innerparteilicher Auseinandersetzungen – Anm. d. V), das dritte Element der sowjetischen Reformen, nämlich das sogenannte neue Denken, aber mit großen Vorbehalten betrachtet wurde. Das Kernstück des `neuen politischen Denkens‘ formulierte die Beziehung zwischen den Weltmächten auf neuer Grundlage: es setzte auf eine neue Zusammenarbeit zwischen den beiden Supermächten, anstatt die Rivalität der Blöcke und die Vorstellung eines schließlichen Triumphs des Weltsozialismus über den Weltkapitalismus zu bewahren. Viele …befürchteten, daß es zu einer Einigung der Supermächte hinter dem Rücken der Araber kommen könnte.“
Was sich gegenwärtig abspielt, ist demnach die Einbindung der letzten Unabhängigkeitsbewegung des arabischen Raums, die längst quasistaatliche Funktionen ausübte, in die sich nun auf einer Achse abspielenden Weltwirtschaft.
Der einzige Vorteil gegenüber anderen, bereits national befreiten Ländern, so sagte unlängst ein Palästinenser, sei der, daß die Verwaltungsbehörde, also der Quasistaat, noch nicht bei IWF und Weltbank verschuldet sei. Erst ab dem Jahre 2000 soll es die ersten Kredite geben, aber diese werden tatsächlich nur zustande kommen, wenn die Anforderungen an die „Sicherheit“ durch die palästinensischen Behörden eingehalten werden. Bis dahin wird der Selbstverwaltung das zweifelhafte Recht abgesprochen, sich in den Reigen derer einzureihen, die sich der neuen neokolonialen Weltordnung unterordnen dürfen. Nicht einmal das eingangs beschriebene Szenario hat Realität werden dürfen, und der Trotz der Autonomiebehörde, die nun wieder einmal den Staat Palästina ausrufen wollte, hat nichts genützt. Nach einer Reise Arafats, auf der er brav die jeweiligen „Geberländer“ um Erlaubnis für die geplante (ohnehin nur symbolische) Staatsausrufung fragte, kehrte er gesenkten Hauptes zurück und verschob die Zeremonie bis auf weiteres, auf jeden Fall aber auf einen Zeitpunkt nach den Wahlen in Israel. Dieses wiederum verstärkte die inneren Widersprüche in der palästinensischen Gesellschaft:
In Middle East International (26. März) äußerte sich Lamis Andoni: „Dieses Datum (der geplanten Staatsausrufung, d.V.) ist nicht nur das Ende der Interimsperiode. Es sollte auch der Beginn der Unabhängigkeit sein, die Arafat seinem Volk versprach, als er die Oslo-Abkommen im September 1993 unterschrieb. Es ist auch das Datum, an dem die Rechtmäßigkeit der Palästinensischen Behörde, die in Übereinstimmung mit diesen Abkommen errichtet wurde, formal ausläuft. So steht Arafats eigene Legitimität auf dem Spiel, wenn der 4. Mai ohne ein Anzeichen dafür vorübergeht, daß die israelische Kontrolle in den besetzten Gebieten abgetreten wird – ganz abgesehen von der Ausrufung der Unabhängigkeit.“
Hinzu kommt, daß die Option dieser Art von Unabhängigkeit, die noch nicht einmal die Minimalstandards dessen, was man als nationa
le Unabhängigkeit bezeichnen könnte, einhält, natürlich in den USA auf Gegenliebe stößt. Arafats Behörde übt sich demgegenüber gerade darin, den palätinensischen Massen erklären zu wollen, daß der ehemalige zweitwichtigste imperialistische Feind (hinter Israel) nun plötzlich eine Wandlung vollzogen habe und der Idee einer palästinensischen Staatlichkeit nun positiv gegenüberstehen würde. Wesentlich für das Überleben der Autonomiebehörde ist aber, daß die Zahlungen der „Geberländer“ weiterhin eintreffen. Diese „Geberländer“ halten regelmäßig Konferenzen ab und binden ihre Zahlungen natürlich an bestimmte Bedingungen, ebenso wie Weltbank und IWF dies tun werden, wenn irgendwann einmal eine Pseudo-Staatlichkeit Realität geworden sein sollte.
Eine dieser Geber-Konferenzen hatte in Washington beschlossen, „die Palästinenser“ in den kommenden Jahren mit fünf Milliarden Mark zu unterstützen. Oft verschwiegen wird dabei, daß auch Israel finanzielle Hilfen durch die Geberländer erhält, die weit über den für die Autonomiebehörde gedachten Beträgen liegen. Die Beziehungen zwischen den „Gebern“ und der palästinensischen Autonomiebehörde sind jedoch schon seit geraumer Zeit belastet. Dies zeigte sich auch schon bei einer Konferenz über die `Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union (EU) und Palästina‘ in Ramallah. Diese Konferenz hatte in den autonomen Gebieten der Palästinenser unter maßgeblicher Beteiligung der Konrad-Adenauer-Stiftung stattgefunden. Dies deutet auf die Vorreiterrolle hin, welche die deutsche Regierung in dieser Hinsicht einnehmen will und teilweise auch schon einnimmt. Sowohl Israel als auch die Palästinenser müßten sich an ihre in Wye eingegangenen Verpflichtungen halten, sagte der EU-Ratsvorsitzende und Bundesaußenminister Fischer vor Beginn einer Internationalen Geberkonferenz für Palästina. Dies sei eine unverzichtbare Bedingung für weitere Hilfe. Die Europäische Union will weitere Hilfen für die von Israel besetzten Palästinensergebiete von sogenannten Fortschritten im Friedensprozeß abhängig machen.
Von der palästinensischen Autonomiebehörde verlangte Fischer Transparenz in der Finanz- und Haushaltspolitik sowie bessere Bedingungen für private Investitionen. Interessant wäre, wie Fischer den Zusammenhang zwischen Fortschritten im Friedensprozeß und besseren Bedingungen für private Investitionen begründen mag. Die Israelis müßten aber auch etwas tun, nämlich den Verkehr zwischen dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen erleichtern, ließ er ebenfalls verlauten. Fischer bedauerte bei der Gelegenheit auch, daß seit Beginn der Entwicklungshilfe für die autonomen Gebiete 1993 der Lebensstandard niedriger als fünf Jahre zuvor ist. Arafat dankte seinerseits den Bonner Gastgebern für ihre Finanzhilfe und erinnerte daran, daß nationale und EU-Mittel zusammengerechnet, Deutschland an der ersten Stelle der europäischen Geberländer stehe. Deutsche Unternehmen waren vor allem am Bau des Flughafens Gaza, der am meisten gefeierten Errungenschaft der neuen Zeit, beteiligt. Die deutsche Wirtschaft richtete bereits vor zweieinhalb Jahren eine Vertretung in Ramallah ein. Der Wunsch Arafats nach einer Intensivierung der bilateralen Beziehungen könnte alsbald seinen Ausdruck finden in der Mithilfe bei der Schaffung von Verbindungswegen zwischen Gaza und dem Westjordanland oder auch in Infrastrukturmaßnahmen rund um Gaza mit seinen katastrophalen hygienischen Verhältnissen.
Insgesamt gesehen hat der „Friedensprozeß“ für die palästinensische Bevölkerung eine Verschlechterung der Lebensbedingungen
mit sich gebracht. Auch für die vielen palästinensischen Flüchtlinge ist eine Lösung nicht in Sicht. Zurückkehren konnten bisher nur wenige, und zwar entweder über den Weg der Familienzusammenführung (doch dies ist ein verschwindend geringer Anteil) oder über die Berufung als Mitglied der Autonomiebehörde, wobei von Arafat persönlich bestimmt wurde und von israelischer Seite abgesegnet werden mußte, wer einreisen darf. Hierbei wurden natürlich ausschließlich finanzstarke und politisch genehme Personen ins Land geholt.
Verhandlungen aber über die Rückkehr von Flüchtlingen nach Palästina sind bisher beinahe ergebnislos geblieben – die israelische Seite weigert sich, ein Recht auf Rückkehr für sie anzuerkennen – aus folgenden offiziell verlautbarten Gründen:
· die historische Verfolgung des jüdischen Volkes und sein daraus resultierendes Bedürfnis nach einer Zuflucht;
· die palästinensische und arabische Verantwortung für die Flucht der Palästinenser im Jahre 1948;
· Undurchführbarkeit der Rückkehr, Mangel an Lebensraum
· die immer wieder beschworene nationale Sicherheit.
Für die Menschen, die in Syrien, Jordanien, dem Libanon und anderen arabischen und europäischen Ländern sowie in den USA den Beginn der Verhandlungen anfangs ebenfalls optimistisch begrüßten – wenn auch verhaltener als diejenigen, die sich auf israelischem Boden befinden – besteht momentan nicht die Spur einer Hoffnung auf Rückkehr. Arafat habe ihr Schicksal verkauft, um seine Macht zu retten, befürchten sie. Neben einer Kürzung der Hilfsleistungen für die Flüchtlinge in den arabischen Ländern, die auf den Transfer dieser Leistungen an die Autonomieverwaltung zurückzuführen ist, müssen sie darunter leiden, daß die betreffenden Staaten die „Flüchtlingsfrage“ als Druckmittel gegen Israel benutzen, sie also als bloße Verhandlungsmasse dienen. Im Libanon und in Syrien beispielsweise können die Flüchtlinge keine Bürgerrechte erwerben, egal, wie lange sie sich schon dort aufhalten, da die Regierungen immer wieder beteuern, sie hätten ein Anrecht auf Rückkehr, was die Einbürgerung in ihre Länder unmöglich mache, da dadurch der Staat Israel aus der Verantwortung genommen würde.
Literatur:
Hoekmann, Gerrit: Zwischen Ölzweig und Kalaschnikow. Geschichte und Politik der palästinensischen Linken. Unrast Verlag Münster, 1999
…alles ändert sich die ganze Zeit. Soziale Bewegungen im Nahen Osten. Verlag Informationszentrum Dritte Welt. Freiburg 1994
Palästina Nachrichten. Mitteilung der Vereinigung der Freunde Palästinas. Monatlich erscheinendes Infoblatt, erhältlich unter E-Mail-Anschrift: klauspolkehn@t-online.de
Ofteringer, Ronald (Hrsg.) Palästinensiche Flüchtlinge und der Friedensprozeß. Palästinenser im Libanon. Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1997
1 Der Begriff „Nationalität“ ist in bezug auf Israel fragwürdig, gelten zum Beispiel jüdische Bewohner, die vor den großen zionistischen Einwanderungen schon in Israel lebten, als Palästinenser im Sinne eines bürgerlich ausgerichteten Nationenbegriffs im Gegensatz zum von der zionistischen Bewegung bemühten völkischen Nationenbegriffs, im dem diese als Juden und nichts anderes gelten, genauso wie in Deutschland lebende Juden keine Deutschen sein können.
2 Es versteht sich von selbst, daß der Fakt der Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Staat nicht bedeutet, daß die israelische Gesellschaft homogen und frei von Klassenwidersprüchen sei. Natürlich gibt es auch innerhalb der israelischen Gesellschaft eine rassistische Hierarchie von Ashkenazim und Sephardim sowie eine Klassenhierarchie. Die israelische Regierung selbst gibt unumwunden zu, daß die Einwanderung von Juden aus aller Welt (und neuerdings auch Thailändern in großer Zahl) erstens der Substituierung der unzuverlässigen palästinensischen Arbeitskräfte und zweitens der Verbesserung der demographischen Struktur des Landes zugunsten des jüdischen Bevölkerungsanteils und drittens der von ihnen geforderten Bereitschaft, sich als Siedler zu engagieren, dient.
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