Kolumne telegraph 2/1999

REISEFREIHEIT, BANANEN UND NUN AUCH NOCH FRIEDEN – DIE OSTLER HABEN NIE GENUG
von Hans-Jochen Vogel

Mit einem Büchnerzitat hatten sie angefangen: „Wir sind das Volk“, bevor sie zu Schiller überliefen und im Sprechchor aus seinem „Wilhelm Tell“ zitierend schrien: „Wir sind ein Volk“. Da hatte sie eine sich selbst auflösende führende Partei schon laufen lassen: Reisefreiheit. Endlich auch konnten sie Bananen schlingen, soviel sie wollten. Die DM kam, danach das Grundgesetz. Jubel ringsum. In den Jahren danach lief aber wohl manches nicht so, wie es gesollt hatte – aus der Sicht der ans Vaterland, ans größere, Angeschlossenen wie auch aus der Sicht derer, an die sie angeschlossen worden waren. Die Irritationen nahmen zu. Und nun? Ja, sind sie denn überhaupt noch zu retten, die Ostler? Erst verhauen sie ständig Ausländer und zünden landauf landab Asylbewerberheime an; und kaum hat man dafür eine für ihre Zivilisierung einigermaßen brauchbare Erklärung gefunden, die natürlich auf das furchtbare Regime verweist, unter dem ihnen jahrzehntelang zu sämtlichen zivilgesellschaftlichen Tugenden systematisch der Zugang versperrt worden war, von der kommunistischen Säuglingskrippe bis zum volkseigenen Krematorium, schon zeigen sie sich von einer weiteren unerfreulichen Seite: es mangelt ihnen an der nötigen Bomben-Stimmung, wenn die NATO den Serben ausräuchert und den Kosovaren bis zu deren letztem Mann und Kind die Menschenrechte besorgt. Kaum zurück vom Negerklatschen,
beginnen sie wie verrückt gegen den Krieg zu demonstrieren, zu unterschreiben oder wenigstens zu maulen. In Leipzig liefen montags bis zu 2000 Friedensbenebelte mit ihrem notorischen Pfarrer – naja, wie soll er schon heißen ! – Führer durch die Innenstadt. Selbst in Chemnitz, das sich zwar längst des Stigmas seines ehemaligen, von der Diktatur verhängten Namens Karl-Marx-Stadt entledigt, jedoch – man merke auf ! – das Bronzehaupt der „Weltrevolution“ noch immer nicht geschleift hat, waren sie zuletzt bei fast 500 Montags-Friedensmarschierern angelangt. Man erkläre uns das!

Spaß beiseite! Natürlich gibt es sie nicht als gleich denkende, empfindende und handelnde kollektive Größe, auch wenn sich dies noch nicht in alle Redaktionen herumgesprochen haben sollte. Jedoch, soviel stimmt: ein signifikant höherer Anteil der Bevölkerung als im Westen lehnte in Ostdeutschland frühzeitig den Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien ab. Die Zahl und Intensität von Protestaktionen scheint in Ostdeutschland ebenfalls vergleichsweise bedeutender als im Westen zu sein.

Nun scheut man vor jedem Versuch, solche Unterschiede erklären zu wollen, schon allein deshalb zurück, weil man mit einer solchen Erklärung, sollte sie zutreffende Elemente

enthalten, den Kriegstreibern und Meinungsmanipulatoren für die Zukunft Hinweise liefern würde, wo sie dann einmal einhaken und wie sie hinfort solche ideologischen „Kollateralschäden“ vermindern können. Was tun, wenn man sich nicht selbst gegen seine Absicht zum Hilfswilligen beim NATO-Umerziehungswerk Ost benutzt sehen will? Eben doch darüber nachdenken, warum im Osten bislang anders reagiert wurde als im Westen, doch gleichzeitig nach Wegen suchen, solche Besonderheiten Ost nicht nur zu stärken, sondern mit ihrer Hilfe auch das Bewußtsein West zu untergraben. Angleichung an das Ostniveau muß hier das Ziel sein.

Zuerst einmal jedoch wollen wir hier Erklärungsbedarf hinsichtlich der hohen Akzeptanz und Hinnahme der NATO-Aggression gegen Jugoslawien im Westen anmerken. Ist nicht dies der eigentlich unnormale Zustand in einem Staat mit einem Erbe, wie es der west- und nunmehr gesamtdeutsche zu übernehmen hatte?

Zwangsläufig kommt einem dann in den Sinn, wie in den Planungsstäben der us-amerikanischen Politik am Ende des 2.Weltkrieges sich jene Linie durchsetzte, die einem schnell wieder erstarkten Deutschland eine entscheidende Rolle bei einer kapitalistischen Neuordnung Europas zudachte. Um dieses Ziel schnell zu erreichen, mußten die alten Eliten einer umgehenden Wiederverwendung zugeführt werden, bei Beschränkung der Entnazifizierung auf das Allernotwendigste, d.h. Unumgängliche. Die Remilitarisierung erfolgte mit dem alten Personal der Wehrmacht, die ja auch eben nur eine tapfer kämpfende Truppe gewesen war, deren Leistungen nicht dadurch geschmälert werden konnten, daß ein ruchloser Führer (hier nicht der Pfarrer aus Leipzig !) sie zu teilweise bösen Zwecken mißbraucht hatte – teilweise bösen Zwecken nur, denn
der Kampf gegen den Bolschewismus, die rote Bedrohung aus dem Osten, hatte ja weiter zu gehen. Die publizistische und kulturindustrielle Aufbereitung und Aufwärmung von Weltkriegs- und Wehrmachtstraditionen ist neuerdings im Rahmen der Wehrmachtsausstellung als Konstante der Kultur und des öffentlichen Bewußtseins der alten BRD dokumentiert worden. Auch das vielgepriesene angebliche Verteidigungsbündnis NATO hatte doch offensichtlich nur den Zweck, wenigstens in Europa diejenige Ruhe zu gewährleisten, die nötig war, um gegen den Osten jenen langandauernden Zermürbungskrieg unterhalb der Schwelle zum Schießkrieg zu führen, der als Kalter Krieg in die Geschichte eingegangen ist, während sich die in Europa so manierlichen Verbündeten, allen voran die USA; anderswo in diversen kolonialen und neokolonialen Kriegen, in Interventionen, Putschen, Stellvertreterkriegen, counter-insurgency-Aktivitäten, Installierung und Finanzierung von Diktatoren, Todesschwadronen und Folterzentren austobten. Krieg war im öffentlichen Bewußtsein des Westens nie geächtet. Kapitalismus ohne Krieg ist bis heute undenkbar, oder bestenfalls denkbar in den der Realität entrückten Oberstübchen von Theoretikern wie jenem Philosophen, der zwar die herrschaftsfreie Kommunikation erfunden hat, jedoch im Ernstfall in den Feuern der brennenden Fabriken und Häuser des bombardierten Jugoslawiens glaubt die Morgenröte eines neuen Zeitalters der Menschenrechte heraufziehen zu sehen. Ein überdurchschnittliches Maß an Selbsttäuschung ist die Grundbefindlichkeit der westdeutschen Gesellschaft. Auf diesem Boden konnte auch jene Kultur der Betroffenheit gedeihen, jene äußerst gefährliche Mischung aus rigidem Moralismus und narzistischem Individualismus, die den Typ des grünen Kriegstreibers, des Menschenrechts-Bombers so zwingend hervorbringt.

Die Gesellschaft der DDR mußte ohne ein Marshallplan-induziertes Wirtschaftswunder auskommen. Bis zum Ende des Staates waren hier die Spuren des 2. Weltkrieges noch beim Gang durch die Städte zu sehen, und sei es in den Bebauungslücken, als deren Ursachen Bombardierung oder Beschuß zu erkennen oder zu wissen waren. Bis zuletzt wurde die DDR noch von Menschen aus ihrer Gründergeneration regiert (ich weiß: regiert schon eigentlich nicht mehr), die von Faschismus und Krieg traumatisiert waren. An ihrer marxistischen Grunderkenntnis – so lange sie denn aufrecht erhalten wurde – , daß Kapitalismus und Krieg zusammengehören, ist nicht zu rütteln, an ihrer Absicht, dem Frieden dienen zu wollen, würde ich ebenfalls keine Zweifel gelten lassen. Die Probleme lagen hinter oder unterhalb dieser Erkenntnis bzw. Absicht. Natürlich gab es in der Politik und Ideologie der DDR aggressive Rhetorik, ja sogar militaristische und bellizistische Tendenzen – dies meist in Abhängigkeit von der sowjetisch vorgegebenen Linie und Einschätzung der Lage. Hier setzten sich die aktuelle Propaganda und der tagespolitische Aktionismus aber gerade dem Widerspruch unter Berufung auf die offiziell proklamierten Grundsätze und Ziele der Politik aus.

Von dem, was wir an der DDR als militaristisch empfanden, muß im Rückblick gerade festgestellt werden, daß es eher dazu beitrug, bei einem Großteil der Menschen einen Knick oder eine Unsicherheit im Verhältnis zu allem Militärischen zu erzeugen, als Begeisterung dafür. Die offensiv-direkte Methode, etwa über Wehrunterricht oder GST-Lager „Wehrbereitschaft“ zu erzeugen, half ebenso immer wieder, das Militärische zu problematisieren, wie die Überlagerung durch die deutsch-deutsche Problematik („Würdest du im Ernstfall auf deinen Cousin im Westen schießen?“ – eine Frage, die sich schon aus demographi
schen Gründen für viel weniger Bundeswehrsoldaten jemals stellte) und das Erscheinungsbild und Funktionieren der NVA selbst, mit z.B. ihrer unsäglichen EK-Bewegung. Schließlich wirkte sich auch das Bewußtsein, als äußerster Vorposten eines gestaffelten Verteidigungssystems der Sowjetunion im Fall X zu nichts anderem benötigt zu werden, als den feindlichen Angriff für kurze Zeit aufzuhalten und dabei selbst geopfert zu werden, nicht förderlich aus auf das Entstehen eines selbstverständlichen und ungebrochenen Verhältnisses zu Militär und der Möglichkeit eines Krieges. Diese Andeutungen mögen genügen, um deutlich zu machen, daß man nicht einfach eine günstigere moralische Konstitution der Ostdeutschen unterstellen muß, wenn man nach Ursachen für ihre Zurückhaltung bis Ablehnung angesichts des Krieges der NATO gegen Jugoslawien sucht. Hier schlägt sich in Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen eine andere geschichtliche Erfahrung nieder als bei den Westdeutschen, eine geschichtliche Erfahrung, in der die Träger der „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnäher schon damals denen näher standen, die glaubten, Jagd auf dieses Symbol machen zu sollen, als manchen, die ihnen für ihr tapferes Engagement auf die Schulter klopften, und die heute dazu führt, daß diese Gegner von einst sich gelegentlich im selben Demonstrationszug wiederfinden. Mag man gerade letzteres manchmal mit gemischten Gefühlen betrachten, so muß doch die Frage, ob wir es hier mit Heuchelei einerseits oder Prinzipienverrat andererseits zu tun haben, zurücktreten hinter der Frage, ob es sich hier nicht auch um eine fällige geschichtliche Richtigstellung handeln könnte. Ich persönlich habe weniger intellektuelle und moralische Probleme, die Tatsache zu verarbeiten, daß heute ein ehemaliger Offizier des MfS neben mir in einer Antikriegsdemo marschiert, als die, daß ein Protagonist der „unabhängigen Friedensbewegung“ von einst, der etwa da

Reisefreiheit, Bananen und nun auch noch Frieden
mals Abrüstung durch persönliche Friedensverträge erkämpfen wollte, heute für den Bombenterror der NATO votiert und sich so zum Mittäter eines Angriffskrieges macht.

Ich schäme mich jedenfalls dieser besonderen neuen ostdeutschen Abnormität nicht, die einige Hohlköpfe an uns festgestellt haben wollen. In diesem Falle gedenke ich die ostdeutsche Besonderheit zu verteidigen, zu fördern und zu ihrer Nachahmung anzuregen.

Hans-Jochen Vogel ist Studentenpfarrer in Chemnitz.

 

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