aus telegraph 2/1999
Undankbarkeit I …
Die Mehrheit der Ostdeutschen schätzt das System der untergegangenen DDR, wie laufende Studien zeigen, heute gerechter ein als das der Bundesrepublik. Noch bis Mitte der 90er Jahre habe der größte Teil der neuen Bundesbürger die DDR als «Unrechtsstaat» bezeichnet, betonte der Wissenschaftler Leo Montada aus Trier. Doch seit dieser Zeit habe sich im Denken der Ostdeutschen ein großer Wandel vollzogen. Die Mehrheit beurteile nun selbst das Rechtssystem der DDR besser als das des Westens, vor allem aber die soziale Sicherheit, die Gerechtigkeit der Verteilung von Arbeit und Einkommen und die Chancengleichheit. Zwei Drittel bis drei Viertel der Befragten empfänden hier gesellschaftliche Defizite. Die meisten Ostdeutschen bewerteten ihre berufliche Situation sowie Einkommens- und Vermögensverhältnisse heute ungünstiger als früher.
Quelle: Berliner Morgenpost 1999
Undankbarkeit II …
Als kürzlich Jutta Limbach – die oberste Verfassungsrichterin der BRD – an die ostdeutschen Brüder und Schwestern das Wort richtete und Dankbarkeit für die Demokratie im Lande forderte, konnte sie nicht wissen, auf welch taube Ohren sie stieß. Die Mehrheit der Ostdeutschen ist nämlich – anders als noch 1990 – mit Demokratie nicht mehr hinter dem Ofen hervorzulocken. Waren es damals noch über 40 Prozent, die die Demokratie für die beste Staatsform hielten, sind es heute nur noch 23 Prozent. Im Westen des Landes sind es stabile 2/3, die vollstes Vertrauen in die Demokratie haben. Die können dann auch so richtig dankbar sein…
Quelle: die tageszeitung, Berlin 8.7.1999
…und die Folgen
Fast zehn Jahre nach dem staatlichen Anschluß ist, der Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge, „noch keine innere Einheit“ in Sicht. Die Beschäftigten in Ostdeutschland müssen demnach auf absehbare Zeit mit deutlich niedrigeren Bruttobezügen auskommen als ihre Kollegen im Westen. Diese beiden Landesteile trenne ein steileres Wohlstandsgefälle als etwa den Süden und den Norden.Mitte der neunziger Jahre ist der Aufholprozeß laut DIW ins Stocken geraten. 1998 fielen die Arbeitnehmer im Osten sogar wieder zurück.Sie erreichten beim mittleren Bruttoeinkommen pro Kopf 73,8 Prozent des Westniveaus, nach 74,4 Prozent in der Periode zuvor. Im laufenden Turnus wird sich die Schere noch weiter öffnen, sagen die Berliner Wissenschaftler voraus. Beim Staat dagegen fällt der Abstand in der Entlohnung zwischen Ost und West am geringsten aus.
Quelle: Frankfurter Rundschau 1999
Qualitätsbewußtsein
Ein Autoverleih in Sachsen will Tschechien-Reisenden die Angst vor Autodieben im Nachbarland nehmen: Wer um seinen eigenen Wagen oder dessen Inhalt fürchtet, kann am deutsch-tschechischen Grenzübergang Zinnwald alte und wenig begehrte DDR-Autos der Typen Trabant und Wartburg ausleihen. Die Marktlücke sei auch auf tschechischer Seite erkannt worden. Dort planten Geschäftsleute eine Verleihstation mit alten Autos der heimischen Marke Skoda.
Quelle: „Pravo“ 1999 (tschechische Tageszeitung)
Hauptstadt
Laut Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Berlin gaben 98 Prozent der Lichtenberger Schüler (Ostberlin) und 95 Prozent der Neuköllner Schüler (Westberlin) an, daß es niemals Kontakt zu Schulen des jeweils anderen Berliner Stadbezirks gegeben hat.
Quelle: Wochenblatt/Berlin 1999
Andere Länder, andere Sitten
Der jüngst veröffentlichte Jahresgesundheitsbericht für Berlin gibt Auskunft über das unterschiedliche Sterbeverhalten in der Doppelstadt. So ist im Bezirk Wedding die Selbstmordrate dreimal so hoch wie in Hellersdorf. Dafür hat Friedrichshain die meisten Alkoholtoten. 29 von 100.000 starben im Bezirk am übermäßigem Genuß der beliebten Volksdroge – in Steglitz waren es nur sieben. Überhaupt, so der Bericht, trinkt man im Osten anders: der Alkoholmißbrauch ist um ein Viertel höher als im Westen.
Quelle: die tageszeitung, Berlin 13.7.1999
SelbstBefreiung
Aufregung herrscht über die von sowjetischen Soldaten 1945 im Berliner Reichstagsgebäude angebrachten und während des Umbaus freigelegten Grafitti. Die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohling (Grüne) sagte, ihre Kollegen seien irritiert über das Ausmaß der Wandinschriften im gesamten Wandelgang des Gebäudes: „Ich gehe davon aus, daß wieder etwas weggenommen wird.“
Der CSU-Abgeordnete Wolfgang Zeitelmann drohte „Man müßte hingehen und das mit schwarzer Farbe übermalen.“
Quelle: dpa/Berliner Zeitung/Die Woche 1999
Ostkinder schlauer
Von den Kultusministern der Länder bisher verschwiegen, sind sich Fachleute inzwischen einig: Schüler in Ostdeutschland sind fachlich besser ausgebildet als ihre Altersgenossen im Westen. Um keine Minderwertigkeitskomplexe auszulösen verweisen die Experten auf die mangelnde Vermittlung sozialer Kompetenz an Ostschulen. Während die Oberlehrer aus dem Westen einen „wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung“ leisten, schreiten Lehrer im Osten nicht ein, wenn es zu rechtsradikalen Pöbeleien kommt. Westschüler sind zwar dümmer, aber wenigstens besser.
Quelle: die tageszeitung, Berlin 13.7.1999
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