Die Strafverfahren gegen argentinische und chilenische Militärs in Spanien und in Deutschland
aus telegraph 2/1999
von Wolfgang Kaleck
Die Festsetzung Augusto Pinochets in London wurde möglich, weil die spanische Justiz nach 2-jährigen Ermittlungen einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte. Im Rahmen dieses Verfahrens schrieb der oberste spanische Gerichtshof noch ein weiteres Kapitel Rechtsgeschichte: Der Tatbestand des Völkermordes soll nicht länger nur „völkisch“ definiert werden und erst dann vorliegen, wenn sich das Morden gegen eine ethnische, rassische oder religiöse Gruppe richtet, sondern auch wenn die Opfer eine unterscheidbare Gruppe von Individuen mit einem gemeinsamen Merkmal und eingebettet in eine größere Gemeinschaft sind. Die Ermordung zehntausender Oppositioneller in Chile und Argentinien kann somit als Völkermord verstanden werden. Im folgenden Beitrag beschreibt der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck die Strafverfahren in Spanien und die in der BRD angelaufenen Ermittlungen gegen die uniformierten Mörder.
Besondere Aktualität gewinnt das Strafverfahren dadurch, daß am 28.6. 1999 in Berlin vier Strafanzeigen gegen die argentinischen Militärs erstattet wurden. Es handelt sich dabei um vier Fälle von jungen Verschwundenen, deren jüdische Eltern während der NS-Zeit aus Deutschland flüchten mussten. Die besondere Problematik der Fälle Nora Marx, Alicia Oppenheimer, Walter Rosenfeld und Juan Miguel Thanhauser besteht darin, daß die vier zum Zeitpunkt ihres Verschwindens keinen deutschen Paß hatten, und dadurch die Zuständigkeit der deutschen Justiz nicht unumstritten ist. Ihre Eltern waren durch die Nazis als sogenannte „Auslandsjuden“ ausgebürgert worden, und die Kinder haben daher nicht automatisch aufgrund ihrer Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt, sondern hätten diese im Zuge der Wiedergutmachung gesondert beantragen müssen.
Seit der Entscheidung des englischen Innenministers Jack Straw am 15. April steht fest, daß das komplizierte Auslieferungsverfahren gegen Augusto Pinochet Ugarte fortgesetzt wird. Die Financial Times schätzt, daß Pinochet frühestens nächstes Jahr nach Spanien ausgeliefert werden kann – vorausgesetzt die englischen Gerichte spielen weiter mit. Wenn seine millionenteuren Anwälte noch den Europäischen Menschengerichtshof einschalten, kann es sogar bis 2001 dauern. Bis dahin müßte der greise General im Hausarrest schmoren.
Das House of Lords hatte uns mit seinem Spruch vom 24.3.99 noch ein wenig geschockt, als es entschied, daß Pinochet nur wegen der seit dem Inkrafttreten der Internationalen Anti-Folter-Konvention in Großbritannien am 29.9.1988 begangen Straftaten ausgeliefert werden kann. Doch der spanische Ermittlungsrichter Balthasar Garzón hatte die Zeit schon genutzt und am 5. April 1999 das Auslieferungsersuchen um elf weitere Fälle von Folter erweitert, die alle nach dem vom House of Lords gesetzten Datum, also zwischen dem 29.09.1988 und 1990 stattfanden. In den nächsten Wochen wird es dann zum showdown zwischen dem spanischen Richter und dem chilenischen Massenmörder kommen, wenn Garzón zum Verhör nach London anreist.
Begonnen hatte das ganze Verfahren am 24. März 1996, dem 20. Jahrestag des Militärputsches in Argentinien : Der Vorsitzende der Fortschrittlichen Staatsanwälte in Spanien, Castresana erstattete Strafanzeige gegen die argentinischen Militärs wegen Völkermordes.
Er hatte nach einer genauen Lektüre des spanische Strafgesetzbuch festgestellt. daß es mehr Möglichkeiten bietet als bis dahin auch von der juristischen Öffentlichkeit wahrgenommen worden war. Nach der Anzeigenerstattung wandte er sich an eine ihm bekannte Gruppe um den aus Argentinien exilierten Anwalt Carlos Slepoy aus Madrid. Die Anwälte versuchten bei Gericht anhand einer Vielzahl von Unterlagen zu belegen, daß es sich beim Vorgehen der argentinischen Militärs gegen Oppositionelle, dem schätzungsweise 10.000 bis 30.000 Verschwundene zum Opfer fielen, um Völkermord gehandelt hat.
Am 4. Juli 1996 wurde eine weitere Strafanzeige gegen Pinochet und seine Helfer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Terrorismus zwischen 1973 und 1990 eingereicht. Man beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt auf die Beschreibung von sieben Fällen von Verschwunden und Ermordeten mit spanischem Pass.
Zwei Ermittlungsrichter in Spanien führten die Verfahren, von denen der eine, Balthasar Garzón mittlerweile einen fast legendären Ruf hat. Als ambitionierter Politiker der Sozialistischen Partei von Felipe Gonzales wollte Garzón Innenminster in dessen Regierung werden. Diese Pläne scheiterten. Er wurde Richter und von den Sozialisten in einer Schlüsselposition als Ermittlungsrichter für Terrorismus, Drogenhandel und andere Verbrechen diesen Kalibers eingesetzt. Sein Tatendrang führte zu so unterschiedlichen Ergebnissen wie der Verurteilung des Ex-Innenminsters der Sozialisten, Barionuevos im GAL-Verfahren, der von der spanischen Regierung eingesetzten Konterguerilla -Polizeitruppe, die die ETA mit Folter, Entführung und Mord bekämpfte, aber auch zur Schließung der baskischen Tageszeitung Egin wegen angeblicher Unterstützung der ETA.
Garzón und sein Kollege studierten dann Aktenberge und vernahmen zahlreiche Zeugen aus Argentinien und Chile, die meisten von ihnen waren Opfer oder MenschenrechtlerInnen, die die zahllosen Fällen von Toten, Verschwundenen und Folter recherchiert hatten.
Allein diese Ermittlungen sind von unschätzbarem Wert. Denn in Chile war bis zum damaligen Zeitpunkt so gut wie gar nicht ermittelt worden. In Argentinien hingegen hatte man zwar ambitioniert begonnen. Die nationale Kommission über die Verschwundenen (Conadep) legte 1984 ihren nunca mas-Bericht vor, der auf über 5000 Seiten Augenzeugenberichte und Beschreibungen der Greueltaten der Militärs versammelte. Im Dezember 1985 verurteilte man die neun Junta-Mitglieder in einem aufsehenerregenden Verfahren. In den Jahren 1986/87 erließ dann die Regierung Alfonsin unter dem Druck der Militärs das sogenannte Schlußpunktgesetz, das alle Ermittlungsverfahren nach dem 22.02.1987 einzustellen sein, und das Gesetz über den pflichtgemäßen Gehorsam, nach dem alle untergeordneten Militärs nicht bestraft werden konnten. Diese – im Widerspruch zum Völkerrecht stehende- Gesetzgebung führte zu einer fast völligen Straflosigkeit der uniformierten Mörder. Kurz darauf entließ Nachfolger Carlos Menem die noch in Haft befindlichen Junta-Mitglieder. Danach wurde in Argentinien praktisch nicht mehr gegen Militärs wegen der Verbrechen der Diktatur ermittelt.
Erst in den 90er Jahren begannen engagierte Richter am Provinzgericht Mar de la Plata erneut mit Ermittlungen und jüngst fanden findige Juristen gar eine Lücke in der Amnestiegesetzgebung: wegen der Entführung von Kindern von ermordeten Oppositionellen und deren Zwangsadoption durch Militärs sitzen einige Verantwortliche in Haft, der Juntachef Videla und andere im Hausarrest.
Wegen der Versäumnisse der chilenischen und argentinischen Justiz kommt den Ermittlungen in Spanien größte Bedeutung zu. Denn dort werden nicht nur Fälle aufgerollt, über die wesentlich mehr Erkenntnisse als kurz nach der Diktatur vorliegen. Die spanischen Ermittlungsrichter beschäftigen sich sowohl mit der Rolle der USA bei den Miltärputschen in Chile und Argentinien als auch mit der Zusammenarbeit der Militärdiktaturen untereinander im Rahmen der Operación Condor.
Die politischen Parteien Spaniens unterstützten die Strafverfahren zunächst nicht, mit Ausnahme der Vereinigten Linken (Izqierda Unida). Dies änderte sich erst, als im Sommer 1997 der oberste spanische Ankläger, Fungarino mittels eines Gutachtens versuchte, die Einstellung der Ermittlungen zu erzwingen. Er verneinte nicht nur das Vorliegen eines Völkermordes als solchen. Er rechtfertigte die Menschenrechtsverletzungen der Militärregimes mit dem Argument, daß ein Staatsnotstand bestanden hätte, der eine kurzzeitige Außerkraftsetzung der Menschenrechte erforderlich gemacht hätte. Diese stark an frankistische Rechtfertigungsversuche erinnernde Begründung wurde von einem Großteil der spanischen Öffentlichkeit abgelehnt. Der ungeschickte Vorstoß führte dazu, daß sich auch die Sozialistische Partei und die Regionalparteien für die Verfahren aussprach. Damit hatten die Strafverfahren in der innenpolitischen Auseinandersetzung in Spanien eine Bedeutung erhalten wie zuvor nicht annähernd.
Dies ist der Hintergrund des spanischen Auslieferungsersuchen an die englische Regierung vom Herbst 1998. Der Anwalt in dem chilenischen Fall, Juan Garces hatte kurz zuvor erfahren, daß sich Pinochet zur medizinischen Behandlung in England aufhalten würde. Nachdem die spanischen Ermittlungsrichter informiert worden waren, wollte der ursprünglich für den chilenischen Fall zuständige Richter Pinochet lediglich zu einer Beschuldigtenvernehmung festhalten lassen. Zu einem Haftbefehl konnte er sich noch nicht entschließen. Doch der nur für den argentinischen Fall zuständige Balthasar Garzón erließ seinerseits einen Haftbefehl. Er begründete dies mit dem maßgeblichen Mitwirken von Pinochet innerhalb der Operacion Condor. Daraufhin gab der zweite Richter seine Zuständigkeit vollkommen an Garzon ab, der seitdem für die Ermittlungen gegen die Militärs beider Länder zuständig ist.
Am 4.11.1998 im Anschluß an die Verhaftung Pinochets fällte dann das Oberste Spanische Gericht, die Audiencia Nacional, ein Urteil, das rechtshistorisch ähnlich wichtig ist, wie die beiden Sprüche des House of Lords im Falle Pinochets: Nationale Gruppe im Sinne der Völkermordvorschrift sei nicht gleichzusetzen mit Gruppe aus Angehörigen ein und derselben Nation. Darunter sei vielmehr auch eine nationale Gruppe von Individuen zu verstehen, eine unterscheidbare Gruppe von Individuen, die ein gemeinsames Merkmal haben und die in eine größere Gemeinschaft eingebettet seien. Ansonsten würde auch die systematische Vernichtung alter und AIDS-kranker Menschen nicht unter diese Vorschrift fallen. In Argentinien habe es sich aber um die Vernichtung einer unterscheidbaren nationalen Gruppe gehandelt, die nicht in das Projekt nationaler Reorganisation gepaßt hätte oder jedenfalls nach Auffassung der Unterdrücker nicht gepaßt hätte. Für diese Unter
scheidbarkeit sei es ohne Belang, daß zu dieser Gruppe auch ausländische, insbesondere auch spanische Opfer gehören würden.
Das juristische Novum dieses Urteils ist, daß Völkermord nicht mehr wie zuvor auf ethnische, religiöse und rassische Gruppen beschränkt bleiben sollte, sondern auch politische Gruppen von der Tatbestandsdefinition umfaßt sein können.
Die Verfahren in Deutschland
In Deutschland hatte bekanntlich das spanische Verfahren dazu geführt, daß sich auf Anregung des Nobelpreisträgers Adolfo Perez Esquivel die Koalition gegen Straflosigkeit um das Nürnberger Menschenrechtszentrum herum gegründet hat. Im Mai 1998 wurden die ersten Strafanzeigen gegen argentinische Militärs erstattet wurden (die vier Verfahren laufen derzeit noch bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg). Im Anschluß an die Verhaftung Pinochets zeigten mehrere deutsche Anwälte von chilenischen Opfern Pinochet an. Gegen ihn wird derzeit von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt.
Im Mai 1999 sollen weitere Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Berlin erstattet werden. Es handelt sich dabei um Fälle von verschwundene Kindern von deutschen Juden. Die exilierten Eltern waren während des Faschismus ausgebürgert worden und hatten daher zum Zeitpunkt der Geburt der Kinder keine deutsche Staatsangehörigkeit mehr, erlangten diese jedoch im Rahmen der Wiedergutmachung in den 60er und 70er Jahren wieder. Die Begründung der Zuständigkeit der deutschen Strafjustiz ist daher etwas schwieriger als in den Fällen von Opfern mit deutschem Paß.
Im Sommer/Herbst 1999 ist dann die Einleitung weiterer Strafverfahren mit der an die spanischen Fälle anknüpfenden Argumentation des Völkermordes beabsichtigt. Denn ebenso wie Spanien hat auch Deutschland die Internationale Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes unterzeichnet. Damit hatten sich beide Länder völkerrechtlich verpflichtet, eine Strafnorm zur Bestrafung von Völkermord in ihre Strafgesetzbücher aufzunehmen. Zwar ist auch im bundesrepublikanischen Paragraphen 220a Strafgesetzbuch festgelegt, daß die zu schützende Gruppe eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte sein muß. Eine politische Gruppe ist nicht ausdrücklich von der Vorschrift umfaßt. Nach der Entscheidung der Audiencia Nacional wird aber auch die deutsche juristische Öffentlichkeit umdenken müssen.
Für die deutschen Verfahren wird auch gelten, was der Madrider Anwalt Carlos Slepoy auf einer Tagung des Republikanischen Anwältinnen – und Anwältevereins (RAV) und des Forschungs-und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) im November 1998 in Berlin formuliert hatte. Er hatte für Spanien beschrieben, daß zu Beginn der Verfahren unter anderem wegen der restriktiven Definition der Völkermordvorschrift die juristischen Erfolgsaussichten nicht sehr groß erschienen. Erst aufgrund der politischen Dynamik, die die Anwälte und ihre Unterstützer entfaltet hätten, sei die Öffentlichkeit umgeschwenkt und hätte damit auch
die Veränderung der juristischen herrschenden Meinung bewirkt. Über den Ausgang der Strafverfahren in Deutschland darf man sich ansonsten keinerlei Illusionen machen. Eine Verurteilung in Abwesenheit der Täter ist nicht möglich, so daß ein Auslieferungsersuchen oder ein internationaler Haftbefehl gegen einen der Täter das höchste der Gefühle wären. In Argentinien wird man allerdings schon aufhorchen, wenn die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zumindest ernsthaft betreibt und die hier anhängigen Fälle mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ausrecherchiert. Die durch die Anzeigen in Deutschland sensibilisierten argentinischen Medien hatten anläßlich des Herzogsbesuches im Februar 1999 bereits viel über die Rolle der damaligen bundesdeutschen Diplomatie und der Bundesregierung diskutiert. Nicht zuletzt der Fall des Major Peirano, der als Vermittler für die Militärs und Gesprächspartner für die Verschwundenen zur Verfügung gestanden hat, warf ein dunkles Licht auf das deutsche Image. Damit besteht die Hoffnung, daß das Versagen deutscher Diplomatie in den Fällen Zieschang und Elisabeth Kästmann ebenso diskutiert wird wie die teils offene, teils verdeckte Unterstützung der Militärjuntas durch bundesdeutsche Politiker und Unternehmer.
Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt und Mitarbeiter beim Republikanischen Anwaltsverein, lebt und arbeitet in Berlin.
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